19

In Stresssituationen ist es am besten, Ruhe zu bewahren. Manchmal kommt Hilfe ausgerechnet von dort, wo du es am wenigsten erwartest.




Ich saß in der Falle.

Die heulende Sirene im Ohr, schaute ich mich voller Panik um. Es war ein Labor wie das Dutzend andere, das ich schon durchsucht hatte. Die einzigen Fluchtwege, die ich sah, waren die Ausgänge an beiden Enden des Raums, und die waren gerade von schweren Stahltüren blockiert worden.

Ich stieß mit der Faust gegen das Metall und versuchte meine Kraft darauf zu konzentrieren, es wegzusprengen. Doch die Tür war zu dick, und das Einzige, was jeden Moment zu platzen schien, war mein Schädel. Der heulende Warnton kreischte wie eine Polizeisirene in meinem Kopf.

Ich suchte die Wände ab, ob ich nicht irgendwo eine Kontrollbox fand, mit der sich das Sicherheitssystem abschalten ließ. Nichts. Ich schaute nach, ob die Klimaanlage mir vielleicht einen Fluchtweg bot, doch der schmale Schacht hätte nicht mal für jemanden gereicht, der halb so groß war wie ich.

Ich spürte, wie meine letzte Hoffnung schwand. Bald wäre jegliche Chance, meine Eltern zu retten, dahin. Würde ich die beiden je wiedersehen? Was würde aus mir, wenn meine Eltern nicht mehr zurückkamen? Wo sollte ich wohnen?

Ich schaute mich in dem Raum um, auf der Suche nach etwas – irgendwas –, das mir helfen könnte, mich zu befreien. Ich schritt die Wände ab, öffnete Schubladen und Schränke, entdeckte lose Drähte, alte wissenschaftliche Zeitschriften, Fläschchen mit Chemikalien –

Fläschchen mit Chemikalien?

Die Glasfläschchen standen in dichten Reihen auf einem Regal aus Metall. In jedem war eine farbige Flüssigkeit, und auf allen standen Namen chemischer Substanzen, von denen ich noch nie gehört hatte. Bis auf eines. Mit einer trüben blauen Flüssigkeit drin. Es stand fast genau in der Mitte. Ich erkannte den Namen sofort.

Zenoplyrische Säure.

Das kleine Glasfläschchen war kaum größer als mein Finger. Schwer vorstellbar, dass etwas so Kleines dazu in der Lage sein sollte, meine Eltern zu finden.

Plötzlich hörte das Alarmsignal auf. Und das Heulen der Sirene wurde kurz darauf durch das Kreischen einer Säge ersetzt, die ein Loch in den blockierten Ausgang schnitt.

Jemand brach in den Raum ein.

Wer immer es war, schien sich mit einem ziemlich starken Werkzeug durch die Tür zu arbeiten. Ich sah mit einem völlig neuen Gefühl von Dringlichkeit auf das Fläschchen mit der blauen Flüssigkeit. Ganz vorsichtig nahm ich es von dem Regal. Ich hielt es weit von mir weg, drehte es auf die Seite und überprüfte das Siegel. Wenn das Zeug so tödlich war, wie meine Eltern behauptet hatten, wollte ich nicht, dass es mir tröpfchenweise am Bein hinab lief. Nachdem ich mich überzeugt hatte, dass das Fläschchen dicht war, schob ich es behutsam in meine Hosentasche.

Ich hatte gerade noch Zeit, die Schranktür zuzumachen, dann stürzte ein großes Stück aus der Stahltür zu Boden. Ich wartete noch einen Moment. Mein Herz raste.

Und dann trat Captain Sauermann in den Raum.

»Fürchte dich nicht, verängstigtes Kind! Captain Saubermann ist da, um dich zu retten!«

Er hatte nicht mehr seine Trainingssachen an, sondern wieder seine gewohnte Uniform. Der leuchtend blaue Umhang bauschte sich hinter ihm, als er durch den Raum auf mich zusauste, und die Muskeln unter dem silbernen Overall wölbten sich sichtbar.

Ich versuchte mich möglichst natürlich zu verhalten, also so zu tun, als ob ich kein Fläschchen mit einer tödlichen Säure in der Hosentasche meiner Jeans hätte.

»Sophie und Marlon sind schon in Sicherheit und warten draußen, bis der ganze Bereich von allen Gefahren befreit ist«, sagte Captain Saubermann. Er kniete sich hin, um mit mir auf Augenhöhe zu sein. »Bist du auf irgendeine Weise durch dieses traumatische Martyrium verletzt worden?«

»Äh … ich glaube, ich bin okay.«

»Sehr gut. Dann lass uns schnell den geordneten Rückzug aus diesem –«

Captain Saubermann brach ab. Sein Blick zuckte nach unten zu meiner Hosentasche.

»Was hast du da, mein Sohn?«

Ich trat einen Schritt zurück. »Hä?«

»In deiner Tasche? Was ist das?«

Ein beklemmendes Gefühl senkte sich über mich. Die Säure. Er musste sie bemerkt haben. Nach der ganzen Suche war ich doch schon fast am Ziel gewesen. Und jetzt sollte alles umsonst gewesen sein?

Captain Saubermanns Gesicht wurde ernster. »Hast du mir irgendetwas zu sagen?«

»Nein«, antwortete ich. »Wirklich, da ist nichts.«

Er hob eine Augenbraue. »Wie nichts sieht das aber nicht aus.«

Ich überlegte, was ich tun sollte, aber eine Idee schien schlechter als die andere. Vor Captain Saubermann weglaufen? Unmöglich. Ihm sagen, ich hätte das Fläschchen mit der tödlichen Säure in meiner Tasche gar nicht bemerkt? Sehr unglaubwürdig.

Ehrlich. Die Lage war aussichtslos.

»Tut mir leid.« Meine Stimme krächzte. »Ich wollte nur –«

»Du musst dich nicht entschuldigen«, unterbrach mich Captain Saubermann. »Ich erkenne Saubermann-Rauchfleisch auf den ersten Blick.«

Für einen Moment glaubte ich, ich wäre kurz weggetreten. Dann schaute ich nach unten. Eine leere Packung Saubermann-Rauchfleisch ragte aus meiner Tasche.

»Äh … richtig.« Erleichtert ließ ich die Schultern sinken. »Ich kann einfach nicht widerstehen bei diesem … Saubermann-Rauchfleisch.«

»Wer sollte dir das verdenken!« Ein Grinsen flog über Captain Saubermanns Gesicht. »Saubermann-Rauchfleisch verbindet starken Geschmack nach Rindfleisch mit einem Hauch von Würze, der dich nach mehr verlangen lässt!«

Es war unglaublich. Er klang genau wie in den Werbespots, die ich hundertfach gesehen hatte.

»Aber jetzt lass uns dich lieber in Sicherheit bringen«, sagte Captain Saubermann.


Der Parkplatz war das reinste Tollhaus. Blaulichter von Krankenwagen und Polizeiautos schnitten durch die Dunkelheit. Die Angestellten und Sicherheitsleute waren befreit worden und machten ihre Aussagen vor der Polizei und den Reportern. Etliche Funkwagen der Nachrichtensender standen in der Gegend herum, ein Wirrwarr von Satellitenschüsseln ragte zum Himmel.

Sobald wir aus dem Gebäude traten, wurden Captain Saubermann und ich von Reportern umzingelt. Ich spürte, wie mir beim Anblick so vieler Mikros und Fernsehkameras das Blut in den Kopf schoss, aber Captain Saubermann verhielt sich wie immer. Er streckte die Brust vor und hob sein Kinn.

»Alles ist unter Kontrolle.« Seine Stimme dröhnte über den lärmenden Parkplatz. »Das Schreck-Duo ist nirgends zu finden, und die vermissten Kinder sind alle wiedergefunden. Ein weiterer böser Plan, der von Captain Saubermann vereitelt wurde.«

Ich vergaß die Reporter und die Fernsehkameras, die Polizei und die Chemikalie in meiner Tasche. In Gedanken spulte ich noch einmal Captain Saubermanns Worte ab. Ein weiterer böser Plan, der von Captain Saubermann vereitelt wurde. Aber er hatte doch gar nichts getan, um meine Eltern aufzuhalten. Das war ja alles das Werk der Rauch-Gestalten gewesen.

Ich schaute zu ihm hoch, wie er da so groß neben mir stand. Die kreisenden Blaulichter huschten über sein Gesicht und ließen seine vertrauten Züge fremd und seltsam erscheinen.

Während Captain Saubermann weitere Journalistenfragen beantwortete, verschwand ich in der Menge, um Milton und Sophie zu suchen. Ich sah sie neben einem Krankenwagen stehen.

»Du bist okay!«, rief Sophie, rannte auf mich zu und umarmte mich. »Als die Alarmsirenen losgingen, dachte ich, dir wär vielleicht was passiert. Aber wir konnten dich nirgendwo finden und –«

Sie schien im selben Moment wie ich zu merken, dass sie die Arme um mich geschlungen hatte. Sofort ließ sie los, und wir beide machten einen Schritt zurück.

»Egal, ich bin froh, dass du okay bist«, sagte Sophie.

»Wieso hast du so lange gebraucht?«, fragte Milton.

»Äh, ich bin ein bisschen aufgehalten worden, doch ich hab was, das ich euch zeigen wollte. Aber nicht hier.«

Wir liefen an den Rand des Parkplatzes. Als wir weit genug von den anderen weg waren, zog ich das Fläschchen mit der trüben blauen Flüssigkeit aus der Tasche.

»Die plenoryzische Säure«, rief Milton.

»Zenoplyrisch«, korrigierte ich ihn. »Aber es stimmt, ich hab sie gefunden. Jetzt müssen wir nur noch zu mir nach Hause, um rauszufinden, wohin meine Eltern gebracht wurden.«

»Du hast doch nicht etwa vor, ihnen zu folgen, oder?«, fragte Sophie.

»Was denn sonst?! Sie sind schließlich meine Eltern!«

»Ich weiß, aber – wer immer es ist, der hinter dem Ganzen steckt – er ist gefährlich. Vielleicht sollten wir einfach der Polizei sagen –«

»Was sollten wir der Polizei sagen? Dass ich meine Superschurken-Eltern finden muss? Die Polizei wird heilfroh sein, dass sie weg sind. Und außerdem werden sie mich bestimmt einsperren, weil ich die Chemikalie geklaut habe!«

»Na gut …« Sophie schaute kurz in Richtung Captain Saubermann, der immer noch seine Pressekonferenz gab. »Und was ist mit meinem Dad?«

Ich schnaubte. »Na klar. Ich bin sicher, er wird begeistert sein, uns zu helfen, seine Todfeinde zu finden.«

»Ja schon, aber … zumindest hat er Erfahrung mit so was.«

Ich schüttelte den Kopf. Es gab noch einen Grund, warum ich es Captain Saubermann nicht sagen wollte. Es war nur so ein Gefühl. Es hatte bei Sophie zu Hause angefangen. Die Unterhaltung zwischen Captain Saubermann und dem holographischen Kopf; das geheime Projekt, über das nur sie Bescheid wussten. Und dann vor ein paar Minuten die Art, wie er gesagt hatte, dass er es gewesen sei, der das Schreck-Duo in die Flucht geschlagen habe, obwohl die Rauch-Gestalten für den Angriff verantwortlich waren.

Ich drehte mich zu Sophie und Milton um, weil mir plötzlich eine Erkenntnis durch den Kopf schoss. Als ich sprach, war meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

»Sophie, dein Vater …«, sagte ich. »Ich – ich glaube, er ist es, der die Rauch-Gestalten steuert.«

Joshua Schreck: Fischer. Nur für Jungs
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