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Manchmal ist es am besten, deine Eltern um Rat zu fragen. Sie könnten vielleicht mehr über deine Situation wissen, als du glaubst.
»Alles okay?«, fragte Dad. »Du hast in den letzten zwei Minuten dein Schulbuch angestarrt, als ob es in Binärzeichen geschrieben wäre.«
Er hielt seine silberne Brille in der einen Hand und einen winzigen Schraubenzieher in der anderen. Durch seine superstarke Sehkraft konnte er selbst Atomteilchen ohne Mikroskop untersuchen und Kleingedrucktes aus zwei Kilometern Entfernung lesen. Die Brille, die er erfunden hatte, erlaubte es ihm, seine Sehkraft entsprechend zu regulieren. Außerdem wirkte sie einschüchternd und verbarg seine Identität. Ideal für einen Superschurken, der sowohl furchterregend als auch praktisch sein will.
»Was ist los?«, fragte Dad, der neben mir auf der Couch saß.
»Nur diese Sache, die heute in der Schule passiert ist«, fing ich an. »Diese Mobbing-Arschlöcher –«
»Mobbing?«
Ich starrte zu Boden. »Ja.«
»Das ist das Elend auf der Welt.« Dad stieß einen wütenden Seufzer aus. »Die Großen und Mächtigen glauben, sie können die Kleinen herumschubsen. Es ist ein Teufelskreis. Die Brutalen beuten die Schwachen aus, und genau das macht sie noch stärker. Solange sich keiner gegen sie erhebt. Solange keiner gegen sie ankämpft. So wie deine Mom und ich.«
»Ähm … ja, schon, aber –«
»Weißt du, das ist es, was die Leute bei deiner Mom und mir nicht begreifen«, redete Dad weiter. »Klar, wir tragen Uniform, und ja, wir drohen der Regierung mit totaler Vernichtung. Aber wir wollen die Erde ja nicht um der Zerstörung willen vernichten.«
Ich konnte nicht ganz erkennen, was all das mit meinem Problem zu tun hatte, doch ich nickte trotzdem.
»Unser Ziel ist es, mit der Welt noch mal neu zu beginnen. Sie zu rebooten. Beim nächsten Mal alles richtig zu machen. Die Machtstrukturen aus den Angeln zu heben. Natürlich brauchen wir für all das Geld, weshalb es nötig ist, unsere bescheidenen Forderungen zu stellen.«
»Du nennst einen Privatjet voller Hundert-Dollar-Scheine eine bescheidene Forderung?«
Dad zuckte die Schultern. Drehte an der Brille. Die Brille gab ein leichtes Quietschen von sich.
»Und, hast du dich gegen die, die dich fertigmachen wollten, erhoben?«, fragte er. »Hast du ihnen gezeigt, dass sie, nur weil sie groß und stark sind, nicht damit durchkommen, den Kleinen herumzuschubsen?«
»Nicht wirklich. Sie haben versucht, mich in einen Spind zu stoßen.«
»Hmm. So werden sich die Machtstrukturen nie verändern.«
»Aber es ist was passiert, als sie versucht haben, mich in den Spind zu stecken. Ich hab gespürt, wie mich plötzlich dieses komische Gefühl überkam. Genau danach wollte ich dich fragen. Es war wie –«
»Ich habe eine Idee.«
»Hä?«
»Eine Idee. Wie du mit diesen Idioten fertig wirst.«
»Das ist schon in Ordnung. Ich wollte eigentlich mehr über diese andere Sache sprechen. Dieses komische Gefühl.«
»Du kannst nicht immer weglaufen, Joshua. Du musst dich verteidigen.«
Ich holte tief Luft. Es hatte keinen Zweck, mit ihm über meine Situation zu reden. Nicht, wenn er gerade von einer großen Idee erfasst wurde.
»Gut«, sagte ich und verschränkte die Arme. »Was schlägst du vor?«
»Das nächste Mal, wenn diese Typen versuchen, über dich herzufallen, tritt auf den Größten und Stärksten zu und hau ihm eins auf die Nase. Und dann lauf weg, so schnell du kannst. Bis sie kapiert haben, was passiert ist, bist du schon längst über alle Berge.«
Dad nickte ein Mal, als ob er gerade eine große Weisheit verkündet hätte.
»Äh ja, okay«, sagte ich. »Aber Dad? Als Ziegelstein meinen Arm packte, habe ich diese – ich weiß nicht, wie ich’s beschreiben soll – diese Welle –«
»Joshua!« Meine Mom stand in der Tür. »Man darf sich von solchen Peinigern nicht kleinkriegen lassen. Egal, ob es Schüler sind oder Regierungsvertreter.«
»Ja«, sagte ich. »Das werde ich mir auf jeden Fall merken. Aber eigentlich wollte ich euch erzählen –«
»Tut mir leid, das wird wohl warten müssen«, unterbrach mich Mom. »Ich bin nur hochgekommen, um für die Zombies etwas zu fressen zu holen. Du weißt ja, wie Zombies werden, wenn man sie nicht füttert. Aber du kannst uns dein Problem ja nachher beim Abendessen erzählen. Okay, Schatz?«
*
Ich war gerade auf dem Weg ins Esszimmer, als ein grüner Arm nach mir grabschte.
»Autsch!«, schrie ich und sprang zurück. Das war kein Arm, sondern ein Ast.
Micus.
»Was macht der denn noch hier?«, brüllte ich.
»Wo soll er denn sonst hin?«, fragte Mom unschuldig. »Wir sind im Haus und Micus ist eine Hauspflanze.«
»Eine Hauspflanze, die heute Morgen versucht hat, mich umzubringen.«
»Micus hat doch nicht versucht, dich umzubringen. Stimmt’s, Micus?«
Ich war mir nicht sicher, aber für mich sah es so aus, als ob der Baum mit den Schultern zuckte.
»Können wir ihn wenigstens in ein anderes Zimmer stellen?«, fragte ich. »In dein Labor oder so?«
»Das Labor hat kein direktes Sonnenlicht.«
»Ich bin sicher, er kommt damit klar.«
»Joshua. Ich habe Monate gebraucht, um Micus zu entwickeln. Er ist ein biologischer Durchbruch.«
Ich sah, wie Micus im Hintergrund ganz stolz nickte, als sie das sagte.
Ungläubig schüttelte ich den Kopf und ließ mich auf den Stuhl fallen, der am weitesten von Micus entfernt stand. Erst hatte mich der blöde Baum in seinem Blumentopf angegriffen. Und dann stellte sich Mom auch noch auf seine Seite.
Während des Essens hatte ich endlich die Gelegenheit, meinen Eltern zu erzählen, was in der Schule passiert war. Während Dad Spaghetti auftat, beschrieb ich das Kribbeln in meinen Fingerspitzen, das Gefühl, als ob Strom durch meinen Körper floss.
»Ich fürchte, ich habe dem Jungen so einen Schlag versetzt, dass er in den Spind geflogen ist«, sagte ich.
Meine Eltern starrten mich an. Eine Nudel rutschte von dem Löffel, den Dad in der Hand hielt. Sie landete neben meinem Teller auf dem Tisch.
»Und das ist nicht alles«, sagte ich. »In letzter Zeit sind noch andere komische Dinge passiert.«
»Was denn?«, fragte Mom.
Ich holte tief Luft. »Neulich habe ich aus Versehen Dinge … explodieren lassen.«
Eine weitere Nudel landete mit einem feuchten Klatsch auf dem Tisch.
»Explodieren?«
Ich nickte.
»Wie lange geht das schon so?«, fragte Dad.
»Erst die letzten paar Monate.«
Dad kratzte sich am Kopf. »Na ja, du bist eben in dem Alter, wo –«
Er schwieg, als Mom sich lautstark räusperte.
»Vielleicht sollten wir das lieber zu einem anderen Zeitpunkt besprechen«, meinte sie.
Ich stieß meinen Teller weg. »Was verheimlicht ihr mir?« Meine Stimme war lauter, als ich gewollt hatte. »Ich weiß, dass irgendwas ist. Ich habe euch letzte Nacht reden hören.«
»Du hast uns gehört?«, fragte Mom.
»Du hast gesagt, dass es da etwas gibt, das ihr mir unbedingt sagen müsst. Etwas, das ich verdient habe zu wissen.«
Mom seufzte. »Wir wollten es dir ja sagen, aber wir wollten auch den richtigen Zeitpunkt abwarten.«
»Es ist völlig verständlich, dass du neugierig bist«, sagte Dad. »Jeder in deiner Situation wäre das. Und wahrscheinlich ist es am besten, wenn du die Wahrheit erfährst, bevor deine besondere Fähigkeit zu stark für dich wird, um sie zu kontrollieren.«
Am Tisch breitete sich ein langes Schweigen aus. Meine Eltern sahen sich an, wie um zu entscheiden, wer jetzt weitermachen sollte. Die Worte meines Dads saßen in meinem Kopf wie ein Stachel. Bevor deine besondere Fähigkeit zu stark für dich wird, um sie zu kontrollieren. Was sollte das heißen?
»Die Wahrheit ist«, sagte Mom, »du bist nicht wie andere Kinder – wie andere Leute. Du bist anders.«
Ich spürte, wie sich meine Schultern anspannten. Es gefiel mir überhaupt nicht, was hier gerade passierte.
»Du bist BEGNADET«, sagte Dad und buchstabierte das Wort für mich. »B-E-G-N-A-D-E-T. Das Wort steht für Biologisch Elementare Genetische Neuorientierung Als Daseinsform Exzeptioneller Tatkraft.«
»Und was heißt das?«, fragte ich.
»Es heißt …«, fing Mom an. »Nun ja … es heißt, dass du …«
»Dass ich was?«
Mom holte tief Luft. »Eine Superkraft besitzt.«