13

Superhelden hängen nicht mit Superschurken rum. Und wenn doch, wird dabei meistens jemand verletzt.




»Kommst du mit in den Hauswirtschaftsraum?«, fragte Milton, als wir am nächsten Tag nach dem Mittagessen auf den Pausenhof gingen. »Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass da noch jede Menge verschmähte Kekse aus der zweiten Stunde rumliegen.«

Ich zuckte die Schultern und starrte auf einen Riss in der Teerdecke.

»Was ist los mit dir?«, fragte Milton. »Du wirkst, als ob du in einer völlig andern Welt wärst. Du kannst dich auf überhaupt nichts länger konzentrieren als – oh, schau mal.« Er zeigte nach vorn. »Da ist Sophie.«

Sophie saß auf einer Steinstufe und aß ihre Pausenbrote aus einer braunen Papiertüte. In dem Moment, als ich sie sah, fällte ich meine Entscheidung. Ich würde ihr für den Rest meines Lebens aus dem Weg gehen. Superhelden hingen nicht mit Superschurken rum. Das Gleiche galt auch für ihre Kinder.

»Hast du eigentlich noch vor, mit uns an dem Projekt zu arbeiten?«, fragte Milton. »Wir treffen uns nämlich nach der Schule im Spuckschlecht.«

Ich hatte total vergessen, dass das heute war. Aber ich würde hart bleiben und Sophie für den Rest meines Lebens aus dem Weg gehen.

»Können wir uns nicht lieber an einem andern Tag treffen?«, fragte ich. Mit anderen Worten nie.

»Äh … wie wär’s mit Fritten?«, machte Milton unbeirrt weiter. »Außerdem müssen wir nächste Woche unser Projekt vorstellen. Wenn wir noch länger warten, schaffen wir das nicht mehr.«

Ich konnte Milton unmöglich die Wahrheit sagen, dass sich Sophies Vater und meine Eltern regelmäßig umzubringen versuchten, was es für uns irgendwie schwierig machte, Freunde zu sein. Ich musste einen anderen Ausweg finden. Und ich wusste auch schon wie.

Ich ging früher zur siebten Stunde. Die Klasse war noch leer, bis auf Ms McGirt. Ihre Haare wirkten wie eine lockere weiße Wolke, und ihre Augen blinzelten mich hinter den Brillengläsern an, als ich auf das Lehrerpult zutrat.

»Kann ich mal kurz was mit Ihnen besprechen, Ms McGirt?«, fragte ich.

»Aber natürlich, junge Dame«, antwortete sie.

Ihre Sehschärfe musste noch schlechter sein, als ich gedacht hatte. Zumindest hoffte ich das.

»Ich bin’s, Joshua«, sagte ich. »Ich wollte fragen … darf ich vielleicht in eine andere Gruppe wechseln? Oder von mir aus auch allein arbeiten?«

Ms McGirt starrte mich lange mit leerem Blick an. »Ich fürchte, die Abschaffung der Sklaverei kommt in den nächsten drei Wochen noch gar nicht dran, meine Liebe.«

»Äh … okay.« Das Ganze gestaltete sich schwieriger, als ich gedacht hatte. »Aber –«

»Wenn du allerdings schon weiter lesen willst – das meiste über Abraham Lincoln findet sich in Kapitel acht deines Geschichtsbuchs.«

Ich unternahm noch ein paar neue Versuche, doch Ms McGirt reagierte darauf nur mit dem Zitieren von Fakten über den Bürgerkrieg und mit einem Kompliment über mein Make-up. Schließlich gab ich auf und setzte mich an meinen Platz.

Während der ganzen Stunde steckte ich, sobald Sophie in meine Richtung schaute, die Nase blitzschnell in mein Buch. Schließlich, als die Stunde vorbei war, zog sie mich auf dem Weg zum Spuckschlecht beiseite. »Was ist los?«, fragte sie. »Wieso gehst du mir aus dem Weg?«

»Ich geh dir nicht aus dem Weg«, antwortete ich und schaute weg.

»Na klar.« Ich konnte regelrecht hören, wie sie die Augen verdrehte. »Ist es vielleicht wegen« – sie senkte die Stimme – »meinem Dad? Ich dachte, ich kann dir vertrauen.«

Milton drehte sich um und schaute zu uns zurück. »Hey, Leute, was gibt es zu bereden?«

»Nichts«, sagten wir beide gleichzeitig.

Milton wirkte nicht sehr überzeugt, doch er bohrte nicht weiter nach. Die nächsten paar Minuten gingen wir schweigend weiter. Auf halbem Weg über den Parkplatz spürte ich plötzlich ein merkwürdiges Rumpeln unter den Füßen.

»Was war das?«, fragte Milton.

»Hat sich angefühlt wie ein Erdbeben«, antwortete ich.

»Das war kein Erdbeben«, sagte Sophie. »Das war … was anderes.«

»Was soll das denn heißen?«

Sophie überhörte mich. Stattdessen griff sie in ihre Tasche, zog ihr Handy heraus und drückte ein paar Tasten.

»Wenn du weißt, was hier läuft, solltest du uns das sagen. Und wen hast du da überhaupt gerade angerufen?«, fragte ich.

»Ich hab niemanden angerufen, sondern nur einen Hilferuf verschickt. Und jetzt nichts wie weg hier!«

Mir schossen noch etliche weitere Fragen durch den Kopf, aber ich musste rennen, um mit Sophie und Milton mitzuhalten. An der nächsten Kreuzung fing plötzlich der Boden erneut an zu zittern, diesmal noch stärker. Ich klammerte mich an ein Verkehrsschild, um nicht umzufallen.

»Was ist das?«, fragte ich.

Sophie sah mich ärgerlich an. »Was immer es ist, das sich da unten bewegt, es wird uns jeden Moment angreifen.«

»Uns angreifen? Wieso?«

»Passiert einfach manchmal. Gehört dazu, wenn man einen Dad hat, der –« Ihr Blick wanderte zu Milton. Dann schaute sie wieder mich an. »Egal, du würdest es sowieso nicht verstehen.«

»Vielleicht doch.«

»Ach, wirklich? Wenn du so klug bist, wieso benimmst du dich dann so komisch?«

Milton starrte uns an, als würden wir in einer anderen Sprache reden.

»Vielleicht benehme ich mich so komisch«, fing ich an, »weil meine Situation ganz ähnlich wie deine ist, nur eben total umgekehrt.«

Jetzt schauten Milton und Sophie völlig hilflos. Der Boden zitterte. Auf der anderen Straßenseite flog ein Hydrant in die Luft und eine Wasserfontäne schoss wie ein Geysir in den Himmel.

»Was willst du damit sagen?«, fragte Sophie, während sie ihr Handy umklammerte.

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte schon viel zu viel gesagt.

»Leute?« Milton zeigte mit zitterndem Finger auf etwas. »Irgendwas kommt da vorn aus dem Boden.«

Sophie und ich drehten uns um. In der Mitte der Kreuzung hatte sich ein Spalt im Boden geöffnet und wuchs wie ein Spinnennetz immer weiter. Der Beton brach einfach auf und wurde in riesigen Blöcken nach oben gedrückt. Ein Auto hupte und knallte gegen einen Telefonmast.

Was immer es war, das sich unter uns bewegt hatte, es kam eindeutig nach oben.

Plötzlich brach ein silbermetallic-farbenes Bein durch den Beton. Ein zweites Bein kam wenig später zum Vorschein – dann ein drittes. Ich sah mit klopfendem Herzen zu, als das Ding wie ein Insekt aus dem Loch in der Straße krabbelte. Nur dass dieses Insekt die Größe eines Golfwägelchens hatte, mit glänzender Silberhaut und rot glühenden Augen. An der Seite war ein vertrautes Logo aufgedruckt:

C
Raufbold mit Feuerhintern™

Ein übler Gedanke schoss mir durch den Kopf. Wer immer diese Dinger hier kontrollierte, hatte auch die Rauch-Gestalten erschaffen.

»Mit Feuerhintern?«, fragte Milton. »Weißt du, was das bedeuten soll?«

Bevor einer von uns antworten konnte, stieß der Roboter einen langen elektronischen Schrei aus. Und aus seinem Hintern schoss ein Flammenstrahl.

»Ich denke, das war die Erklärung«, rief Milton.

Das Roboter-Insekt stieß einen weiteren Schrei aus, dann drehte es sich um und schaute uns mit seinen rot glühenden Augen an.

»Vielleicht sollten wir besser weglaufen«, meinte Sophie.

»Gute Idee«, antwortete ich und fing an zu rennen.

Wir verschwanden über den Parkplatz in Richtung Football-Feld.

»Moment, ich will nur sehen, ob ich das alles richtig auf die Reihe kriege«, sagte Milton, während wir über den Betonplatz sprinteten. »Dieser Roboter-Käfer hat Speere statt Füßen, Klingen statt Zähnen und schießt Feuer aus seinem Hintern?«

»Klingt weitgehend korrekt«, keuchte ich.

»Er muss hinter mir her sein«, sagte Sophie.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, antwortete ich.

Sophies Schritte hämmerten auf das Pflaster. »Was soll das heißen?«

Das Mistding stand in Zusammenhang mit den Rauch-Gestalten. Was bedeutete, dass es wegen meiner Eltern hier war. Aber wenn ich Sophie davon irgendwas sagte, musste ich ihr auch erklären, wer meine Eltern wirklich waren. Und im Moment hatten wir schon genug Probleme.

»Wenn ich so drüber nachdenke«, sagte ich zwischen zwei keuchenden Atemstößen, »hast du wahrscheinlich recht. Sie sind bestimmt hier, um dich zu töten.«

Irgendwie schien sie das nicht zu beruhigen.

Wieder erzitterte die Erde. Eine Sekunde später brach plötzlich rings um unsere Füße der Beton auf und schickte Sophie taumelnd zu Boden.

Da, wo sie noch eben gestanden hatte, schoss jetzt ein spindeldürres silbriges Bein aus dem Loch. Mit einem heftigen Schlag landete es auf dem Boden, nur Zentimeter von Sophies Arm entfernt.

Sophie krabbelte zur Seite und versuchte, auf die Beine zu kommen, doch der Boden schwankte hin und her. Dann erhob sich das Roboterbein und das Sonnenlicht spiegelte sich in seiner messerscharfen Spitze. Sie war genau auf Sophies Brust gerichtet.

Als sich das Bein zu senken begann, stürzte ich mit einem Sprung los und prallte mit ihm zusammen, bevor die scharfe Spitze Sophie erreichen konnte. Ein Energiestoß durchströmte meine Adern und lief die Arme entlang in meine Hände.

WUMM!

Eine riesige Explosion schoss aus meinen Fingerspitzen. Sie riss dem Roboter das Bein vom Körper und ließ mich in die entgegengesetzte Richtung fliegen.

Als ich aufschlug, schlitterte ich über den Beton, als wäre er eine Eislaufbahn. Meine Arme und Beine schmerzten vor Schürfwunden und blauen Flecken. Doch ich hatte im Moment gerade andere Sorgen. Vielleicht hatte ich ja ein Bein dieses Roboter-Raufbolds abgetrennt, aber fünf weitere besaß er trotzdem noch. Ganz zu schweigen von seiner tödlichen Kauleiste und einem Hintern, der einen ganzen Häuserblock abfackeln konnte.

Milton starrte mich total schockiert an.

»Du hast gerade … Aber wie hast du … Explosion …«

»Die Sache ist die«, versuchte ich zu erklären. »Ich hab da so eine Art … Superkraft.«

Milton schaute mich, falls das überhaupt möglich war, noch entgeisterter an als vorher.

Ich holte tief Luft. »Spontane Entflammung.«

»Spontane was

»Erklär ich dir später. Ist mit Sophie alles in Ordnung?«

»Ich bin okay«, sagte Sophie und stand wieder auf. »Danke für … du weißt schon … für eben.« Sie deutete auf das verkohlte Roboterbein, das am Boden lag.

»Schon gut«, sagte ich.

»Und für vorhin. Tut mir leid, dass ich –«

Ich schüttelte den Kopf. »Ach was, ich war es doch, der komisch reagiert hat. Es ist nur so –«

»Ich bin ja froh, dass ihr beiden euch endlich aussprecht«, unterbrach uns Milton. »Aber können wir das vielleicht auf später verschieben?«

Er zeigte auf etwas. Der erste Riesenroboter kam immer noch auf uns zu. Und der zweite kletterte gerade aus dem Boden, trotz seines fehlenden Beins. Noch ein paar Sekunden, dann gab es keine Fluchtmöglichkeit mehr für uns.

»Wir müssen zum Football-Feld«, sagte Sophie.

Wir rannten los, die Raufbolde dicht auf den Fersen. Wir hörten, wie ihre Beine aufs Pflaster schepperten.

»Vielleicht ist jetzt nicht die richtige Zeit, zu fragen«, keuchte Milton, »aber gibt es einen bestimmten Grund, wieso riesige Roboterinsekten hinter uns her sind?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich.

»Und was ist mit der Explosion vorhin? Ich versteh immer noch nicht, wie du –«

Schlitternd blieben wir stehen, als plötzlich die Erde von einem neuen Beben erschüttert wurde. Nur ein paar Schritte von uns entfernt öffnete sich abermals der Boden. Ein dritter Raufbold stieg aus der Erde.

»Das sind zu viele!«, schrie Sophie. »Denen entkommen wir nie. Wir müssen was anderes versuchen.«

»Und was?«

Sophie drehte sich mit bleichem Gesicht zu mir um. »Wenn wir getrennt werden, treffen wir uns in der Mitte vom Football-Feld. Und wenn eins von den Dingern angreift, während ich weg bin, dann haltet euch von seinen Zähnen fern. Und von seinem Hintern. Denn – ihr wisst schon – das Feuer.«

»Mit andern Worten, von beiden Enden wegbleiben. Willst du mir das sagen?«

»Genau.« Sie nickte und schob ihren Unterkiefer entschlossen vor. »Bin gleich zurück.« Und schon lief Sophie in die Richtung, aus der wir gekommen waren – direkt auf den Raufbold zu, der uns jagte.

Ich sah ihr hinterher. Mein Herz pochte vor Angst. Das komische Ding würde Sophie in Stücke reißen – falls es sie nicht vorher in einen knusprigen Chip verwandelte. Ich konnte nicht zulassen, dass sie dem Ding allein entgegentrat.

»Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Milton.

»O nein«, rief Milton. »Nicht du auch noch.«

»Bleib einfach hier.«

Und dann rannte ich hinter Sophie her. Sie hatte den Raufbold fast erreicht, als ich etwas an ihr bemerkte. Etwas, das anders war als sonst.

Sie … glühte.

Joshua Schreck: Fischer. Nur für Jungs
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