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Nimm dir Zeit, dein Begnadetsein zu erproben.
Seit Samstag, nachdem wir von der Schandmesse zurück waren, hatten meine Eltern ununterbrochen in ihrem Labor gearbeitet. Genauso war es auch, als ich an jenem Nachmittag nach Hause kam. Ich hörte von oben das leise Wusch eines Bunsenbrenners und ein Gemurmel gedämpfter Stimmen.
Ich setzte mich auf die Couch und schlug im Handbuch für BEGNADETE Kinder das Kapitel »Teste deine Kräfte« auf. Es enthielt jede Menge Ratschläge, was die Anwendung besonderer Kräfte betraf. Wenn du zum Beispiel mit der Fähigkeit BEGNADET warst, fliegen zu können, schien es nicht unbedingt angebracht, unter einem Deckenventilator zu üben. Doch die Grundsätze, die in dem Kapitel vermittelt wurden, waren einfach. Wenn du wolltest, dass dein BEGNADETSEIN funktionierte, musstest du drei Dinge beherzigen:
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viel üben
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deine Gefühle im Zaum halten
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und dich konzentrieren.
Ich suchte im Haus irgendwas, woran ich üben konnte, und fand schließlich einen Gartenzwerg aus Keramik, den nie jemand aus der Verpackung genommen hatte, seit Tante Linda ihn Mom vor Jahren geschenkt hatte. Der Zwerg hatte rosige Wangen, einen spitzen Hut und ein komisches Grinsen. Ich ging also davon aus, dass es meiner Mom nichts ausmachen würde, wenn er in die Luft flog.
Ich nahm ihn mit auf mein Zimmer, setzte mich neben ihn auf den Fußboden und konzentrierte mich auf seinen langen Bart und sein lustiges Grinsen. Ich streckte die Hände aus, stellte mir Funken vor, die aus meinen Fingern sprühten, und versuchte mir auszumalen, wie der kleine Spitzhut des Zwerges in Flammen aufging. Ich griff nach unten und fasste dem Gartenzwerg um seinen dicken Keramikbauch.
Nichts geschah. Der Zwerg sah noch immer so aus wie vorher. Derselbe Spitzhut. Dasselbe alberne Grinsen. Kein einziger Brandfleck.
Ich schloss die Augen und versuchte alle Ablenkungen auszublenden. Aber Sophie kriegte ich einfach nicht aus dem Kopf. Es war, als ob ich nur umso stärker an sie dachte, je mehr ich versuchte, sie zu vergessen. Ich schlug die Augen wieder auf. Der Zwerg schien mittlerweile ein bisschen eingebildet zu gucken, als ob er wüsste, dass ich es nicht schaffen würde.
Ich biss die Zähne zusammen vor Frust, stieß den Zwerg zur Seite und hämmerte mit den Fäusten auf den Teppich.
WUMM!
Es klang, als ob plötzlich ein Silvesterknaller losgegangen wäre. Und schon stand der Teppich in Flammen.
Ich kippte nach hinten, als ich merkte, wie sich das Feuer ausbreitete. Rauch stieg zur Decke empor. Ich rappelte mich auf, fiel über einen Stuhl und stolperte auf den Flur hinaus. Dort schnappte ich mir den Feuerlöscher aus der Abstellkammer und rannte zurück in mein Zimmer.
Hinter mir hörte ich die Schritte meiner Eltern auf den Holzdielen. Der Rauchmelder heulte.
Mit der einen Hand schützte ich mein Gesicht, mit der andern hob ich den Feuerlöscher hoch und richtete den Schlauch auf die Flammen.
Ein weißer Schaum schoss aus dem Schlauchende und erstickte die Flammen. Sekunden später erschienen meine Eltern mit bleichem Gesicht in der Tür.
»Was ist passiert?«, fragte Mom.
Mein Teppich war schwarz verkohlt. Die halbe Bettdecke war hinüber. Überall lag weißer Feuerlöscher-Schaum.
»Ich hab nur geübt«, sagte ich.
*
Die nächsten zwei Wochen verbrachte ich jede freie Minute damit, zu üben. Morgens konzentrierte ich mich darauf, mein Weißbrot zu toasten. Im Sport probierte ich meine Superkraft an der Turnhose aus (natürlich nicht, wenn ich sie anhatte). Nach der Schule ging ich auf die Gartenveranda (und nahm für alle Fälle den Feuerlöscher mit), um meine Fähigkeit der spontanen Entflammung an Zweigen, Blättern und getrockneten Grasklumpen zu testen.
Manchmal nahm ich das Handbuch für BEGNADETE Kinder sogar mit in die Schule, versteckte es in einem andern Buch und las, wann immer ich konnte. Wenn ich etwas fand, was mir nützlich erschien, schrieb ich es in mein Notizbuch. Auch wenn ich nicht wusste, ob mir die Notizen irgendwann helfen würden, notierte ich alles. Sobald ich es tat, fühlte ich mich etwas besser, so als wäre ich nicht allein.
Bald schaffte ich es, Blätter anzuzünden und Zweige in die Luft zu jagen. Aber ich hatte mein BEGNADETSEIN noch nicht an irgendetwas Größerem als einem Gartenzwerg ausprobiert.
Zumindest nicht, bis ich die Gelegenheit hatte, es bei Joey und Ziegelstein zu versuchen.
*
Am Donnerstag war ich etwas früher als sonst in der Schule. Die letzten Wochen war ich so eifrig mit Üben beschäftigt gewesen, dass ich alles andere ziemlich vernachlässigt hatte, einschließlich Schule. Weshalb ich hoffte, schnell noch eine Hausaufgabe für die erste Stunde fertig zu kriegen. Stattdessen begegneten mir Joey und Ziegelstein.
Sie warteten schon bei meinem Spind auf mich. Es kam mir komisch vor, dass sie so früh da waren. Ich nehme an, Mitschüler fertigmachen gehörte bei ihnen zu den außerschulischen Aktivitäten.
»Hey, Scheißstreber«, sagte Joey. »Wir haben schon auf dich gewartet.«
Auf dem Gang war sonst weit und breit niemand zu sehen. Ziegelstein kam auf mich zugeschlendert. Joey folgte dicht hinter ihm.
»Wir wissen, was du für einer bist«, sagte Joey. »Du bist so ’ne Art Freak. Du gehörst in ’nen Zirkus, aber bestimmt nicht hier auf die Schule.«
Im ersten Moment wollte ich weglaufen. Auch im zweiten und dritten Moment war es nicht anders. Ich konnte mir schon vorstellen, was es heißen würde, standhaft zu bleiben. Beleidigungen, Geschubse, Getrete, Faustschläge, in den Spind gequetscht werden, mit dem Kopf in der Kloschüssel landen, mit den Fingerknöcheln eine Rubbelabreibung für den Hinterkopf kriegen, an der Unterhose nach oben gerissen werden.
Doch ich besaß etwas, was sie nicht hatten. Spontane Entflammung.
Einen Elektrostoß. Mehr brauchte es gar nicht. Vielleicht einen kleinen Feuerball wegen des dramatischen Effekts. Nichts sonderlich Großes. Ich hatte keine Lust, Direktor Sloane später erklären zu müssen, wieso vor der ersten Stunde zwei Schüler in Flammen aufgegangen waren.
»Wie haste es gemerkt?«, fragte Joey, während er näher kam. »Biste morgens aufgewacht und wusstest plötzlich, dass du ’n Freak bist? Oder hat dich ’n Wurm gebissen, der radioaktiv verseucht war?«
Ziegelstein lachte. Er war jetzt schon ganz nah.
Ich dachte an elektrische Zäune, Zündkerzen und fehlerhafte Toaster.
Die beiden waren noch eineinhalb Meter entfernt.
Einen Meter.
Ich streckte den Arm aus, spannte die Muskeln an und konzentrierte meine Energie. Dann holte ich einmal tief Luft, sammelte meine Kraft und …
Ziegelstein schleuderte mich in die Mädchentoilette.
Die Tür flog auf, und ich landete mit einem dumpfen Schlag auf den Bodenfliesen. Zum Glück war niemand da. Ich rappelte mich hoch. Es hatte keinen Stromschlag gegeben, keinen Elektrostoß. Nicht mal Funken. Was war das denn für eine lausige Superkraft? Erst das ganze Üben und dann, wenn man seine Superkraft am dringendsten brauchte – nichts.
Meine Eltern hatten gesagt, meine Superkraft wäre schwer zu kontrollieren. Wahrscheinlich sprachen sie deshalb von spontaner Entflammung.
Durch die Tür hörte ich Joey und Ziegelstein draußen. Sie versuchten mir Angst zu machen. Schrien. Hämmerten gegen die Spinde. Warfen Sachen umher.
Ehrlich gesagt klang das Ganze reichlich übertrieben, fand ich. Sie hatten mich doch bereits in die Mädchentoilette geworfen. Wieso schlugen sie mich nicht einfach zusammen, hängten mich an der Unterhose am Basketball-Korb auf und zogen ihr Ding durch?
Ich ballte die Hände zu Fäusten und wartete. Doch die Tür blieb zu.
Plötzlich hörte der Lärm auf. Kein Scheppern mehr, kein Brüllen. Alles still.
Ich öffnete die Tür und warf einen Blick auf den Gang. Was ich sah, war jenseits von allem, was ich mir je hätte vorstellen können.