15
Captain Saubermann steht zum achten Mal hintereinander ganz oben auf der Jahresliste der bestbezahlten Superhelden. Im Laufe seiner Karriere hat er gezeigt, dass er so ziemlich jedes Produkt lobt, das ihm Geld einbringt.
Wenn man von dem Roboterfahrer und der Tatsache absah, dass wir in einer Höhe von circa dreihundert Metern über der Erde flogen, wirkte der SUV innen mehr oder weniger wie jeder andere Wagen.
Milton beugte sich in seinem Sitz vor und unterhielt sich ganz aufgeregt mit Stanley darüber, wie das denn so sei, für Captain Saubermann zu arbeiten. Inzwischen hatte sich Sophie wieder in ihr altes nicht glühendes Ich zurückverwandelt.
»Was war das da eben?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte Sophie. »So was hab ich noch nie erlebt. Ich vermute, das Schreck-Duo hat sie geschickt. Wahrscheinlich, um sich an meinem Dad zu rächen für das, was vor ein paar Wochen passiert ist.«
»Das weißt du doch gar nicht«, platzte ich heraus.
Sophie sah mich erstaunt an. »Dr. Schreck ist Erfinder. Wahrscheinlich hat er die Dinger gebaut und programmiert, um mich anzugreifen. Du verstehst schon, als Rache oder so.«
»Ich meine ja nur, wir sollten nicht einfach davon ausgehen, dass es das Schreck-Duo war.«
»Und ich sage bloß, dass das Schreck-Duo am naheliegendsten wäre. Sie versuchen schon die letzten zehn Jahre, meinen Dad umzubringen.«
»Na ja … ich nehme an, sie hatten ihre Gründe«, sagte ich in einem schärferen Ton als beabsichtigt. Ich wusste, ich hätte es auf sich beruhen lassen sollen, doch ich spürte, wie sich in mir eine gewisse Abwehrhaltung breit machte. »Wie auch immer, es ist ja nicht so, dass dein Dad nie versucht hat, das Schreck-Duo umzubringen.«
»Was soll das denn heißen?«
Plötzlich ertrug ich es nicht mehr, Sophie anzusehen. Nur weil meine Eltern Superschurken waren und nur weil sie manchmal versuchten, die Welt zu zerstören … hatte sie noch längst nicht das Recht, ihnen alles Schlimme, was passierte, in die Schuhe zu schieben.
Wie auch immer, ich wusste jedenfalls, dass die Raufbolde mit Feuerhintern nicht ihretwegen da gewesen waren. Das Logo an der Seite bedeutete, dass es irgendeine Verbindung zu den Rauch-Gestalten geben musste. Aber wer steckte dahinter?
Als Milton und Stanley zu Ende gequatscht hatten, drehte Milton sich zu mir um und sah mich lange an.
»Dann hast du also eine Superkraft, ja?«, sagte er. »Und mir hast du nie was davon erzählt?«
»Ich weiß es ja selbst noch nicht lange«, antwortete ich.
»A-ha. Aber Sophie hast du es schon gesagt, stimmt’s?«
»Ja … gut.«
»Interessant.« Milton verschränkte seine Arme vor der Brust. »Sehr interessant.«
»Was?« Ich spürte, wie ich rot wurde.
»Ich finde einfach, so was erzählt man sich doch unter besten Freunden. Ich würde dir jedenfalls sofort sagen, wenn ich eine simultane Entflammung hätte.«
»Spontane Entflammung.«
»Was auch immer.« Milton starrte aus dem Fenster auf die vorüberziehenden Wolken.
»Hör zu, es tut mir leid. Ich glaube, es war mir ganz einfach peinlich. Ich wollte nicht, dass du denkst, ich bin ein Freak oder so was.«
Milton legte sein Gesicht in Falten. »Ein Freak? Ich finde deine Superkraft toll! Wie du das Bein von dem Raufbold hast explodieren lassen … Das war so ziemlich das Coolste, was ich je erlebt habe! Solange du also keine weiteren großen Geheimnisse hast, von denen ich nichts weiß …«
Mir wurde ganz anders. Keine weiteren Geheimnisse? Zum Beispiel meine falsche Identität? Oder Eltern, die alle paar Monate versuchten, die Welt zu zerstören? Zählte so etwas als großes Geheimnis?
Unter uns erschien Sophies Haus, eingebettet in ein größeres Waldstück. Man konnte das Haus gar nicht übersehen. Es war riesig. Ich hatte gehört, wie die Cafeteria Girls sagten, es sei groß, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es so groß war. Stell dir das größte Haus vor, das du je gesehen hast. Und jetzt denk dir einfach, jemand würde fünf oder sechs derart große Häuser nehmen, sie zusammenfügen, einen Wallgraben um das Ganze ziehen und den noch mal mit einer Sicherheitsmauer und diversen Wachtürmen mit Maschinengewehren umgeben. Dann hast du vielleicht eine Ahnung davon, wie Sophies Haus aussah.
»Hier sind wir wahrscheinlich vor den Raufbolden sicher«, sagte Sophie.
»Sieht so aus«, antwortete ich.
Vorn drückte Stanley am Armaturenbrett auf einen Knopf, und schon öffnete sich das Dach der Garage. Der SUV schwebte hinab.
Schließlich setzte der Wagen auf dem Garagenboden auf. Und über uns schloss sich das Dach langsam wieder. Als ich ausstieg, betrachtete ich erst mal den riesigen Platz. Unsere Garage zu Hause war ein Chaos aus Werkzeug und irgendwelchen halbfertig zusammengebauten Geräten, die auf verschiedenen Werkbänken herumlagen, Gläser mit fleischfressenden Bakterien setzten auf den Regalen Staub an, Basketbälle, Fahrräder und Flugroller standen zusammengeschoben in der Ecke.
Diese Garage dagegen war riesig, mindestens fünfzigmal größer als unsere zu Hause. Dutzende Autos jeglicher Art standen nebeneinander in einer Reihe. Sportwagen, Luxuslimousinen, gepanzerte Fahrzeuge. Ich konnte nicht fassen, dass sie alle einem einzigen Menschen gehörten.
Neben dem SUV parkte ein rotes Cabrio, das noch wie neu glänzte. Auf dem Nummernschild stand:
SAUBERMANN
Wir folgten Stanley durch die Garage, zwischen Reihen von funkelnden Wagen hindurch, zu einer Tür am anderen Ende des Raums. Stanley streckte die Hand aus. Als sie sich dem Türknauf näherte, schnellte ein Schlüssel aus einer Fingerkuppe. Stanley steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Die Tür öffnete sich.
»Übrigens«, sagte Sophie, »wenn ihr meinen Dad seht, versucht nach Möglichkeit nicht zu erwähnen, dass wir beinahe von riesigen Roboter-Insektenmonstern umgebracht worden wären, okay?«
»Wieso nicht?«, fragte ich. »Das würde ihn doch bestimmt interessieren.«
»Er ist ein bisschen besessen, was meine Sicherheit angeht.«
Ich dachte an die Wallanlage, die das Haus umgab, und an die Maschinengewehre auf den Wachtürmen rund um den Graben. Sophie hatte recht.
»Wenn mein Dad glaubt, ich bin in Gefahr«, fuhr sie fort, »müssen wir vielleicht wieder umziehen.« Ihre Augen suchten im Dunkel der Garage nach mir. »Und ich würde irgendwie lieber hier bleiben.«
Ich folgte Sophie durch die Tür in einen riesigen marmorgetäfelten Raum. Eine Treppe schwang sich vor unseren Augen nach oben. Dieser Raum allein war schon größer als ein gewöhnliches Haus. Und das war nur der Eingang.
»Darf ich euch etwas zu trinken bringen?«, fragte Stanley.
»Äh, klar.« Milton warf einen Blick zu Sophie, und als sie nickte, wandte er sich erneut dem Roboter zu. »Klingt toll.«
»Was hätten Sie denn gern, Sir?«
»Hast du Dr. Pepper Cola?«
»Aber sicher. Wie viele hätten Sie gern?«
»Ähm … wie viele kann ich denn kriegen?«
»Einen Moment bitte, ich rechne es Ihnen gleich aus.«
Ein paar Sekunden lang drang nur ein leises Summen aus dem Roboter. Milton starrte ihn an, seine Augen strahlten.
»Eine menschliche Lebensform von Ihrer Größe und Ihrem Gewicht ist in der Lage, in einem Zeitraum von zwei Stunden 9,31 Liter Dr. Pepper Cola zu trinken«, sagte Stanley. »Das entspricht 28,22 Dosen. Sie sollten aber wissen, dass nach medizinischen Untersuchungen solch ein übermäßiger Verzehr von auf Fruktose basierendem kohlensäurehaltigen Wasser schwere Krankheiten verursachen kann und –«
»Ich hätte dann bitte gern achtundzwanzig Dosen«, sagte Milton.
Ich stieß ihn mit dem Ellenbogen an.
»Äh – nein, ich nehme eine.«
»Ich auch«, sagte ich.
»Für mich nur ein Wasser«, sagte Sophie.
»Sehr wohl«, antwortete Stanley. Er verbeugte sich mechanisch, danach marschierte er etwas ruckartig davon.
»Wir sind noch im Umzug«, sagte Sophie und zeigte auf einen Stapel Kartons. »Stanley ist gerade dabei, alles auszupacken.
»Und«, fragte Milton, »ist dein … äh … dein Dad tatsächlich hier?«
»Ja«, sagte Sophie.
»Jetzt?«
»Ich glaub schon.«
Milton wirkte, als könne er sich nicht entscheiden, ob er schreien oder ohnmächtig werden sollte. »Cool«, sagte er.
Sophie führte uns weiter ins Haus. Wir kamen an einem Wohnzimmer, einem Aufenthaltsraum, einem Solarium, einem Esszimmer, noch einem Wohnzimmer, einer Küche, einer Bibliothek, einem dritten Wohnzimmer und etlichen anderen Räumen vorbei, die überhaupt keine Funktion zu haben schienen.
Ein Raum wirkte wie eine Art Kunstgalerie. An der Wand hingen Ölgemälde, die von üppigen Goldrahmen eingefasst waren und alle Porträts ein und derselben Person zeigten. Captain Saubermann.
Ein anderer Raum war mit allen möglichen Merchandising-Artikeln gefüllt. Cornflakes-Schachteln, Regale voller Tennisschuhe, Armbanduhren, T-Shirts, Spielzeug. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was all diese Sachen gemeinsam hatten: Sie wurden von Captain Saubermann beworben. Es musste der Raum sein, in dem er alle Produkte präsentierte, für die er Werbung machte. Irgendwie wirkte es ein bisschen merkwürdig, dass jemand so was in seinem Haus hatte. Andererseits musste Captain Saubermann ja irgendwas mit all diesen Zimmern machen.
Ich nahm eine Schachtel Fantastische Feuer-Flakes mit dem Bild von Captain Saubermann in die Hand. Die Schachtel war leer. Genau wie die Schachtel Burritos für die Mikrowelle. Auf dem Etikett war ein Bild von Captain Saubermann mit Sombrero. Der Spruch darunter hieß: Auch du kannst ein Held sein mit Señor Locos mexikanischem Dreiminuten-Festmahl!
Das musste es sein, worüber die Cafeteria Girls gesprochen hatten. Regal für Regal leere Schachteln. Alle mit Captain Saubermann auf dem Etikett.
Am anderen Ende des Raums stand ein lebensgroßer Pappaufsteller von ihm. Er sah darauf aus wie in echt. Er grinste sein perfektes Grinsen und stellte seine perfekten Zähne und Haare zur Schau. Um seinen muskulösen Hals hing ein glänzend blauer Umhang. Eine Hand zeigte den gestreckten Daumen, während die andere ein Stück Trockenfleisch hielt. Darunter stand die Aufschrift
Saubermann-Rauchfleisch®
Die Chance, sich super wohl zu fühlen und fit zu bleiben.
Wir gingen in den nächsten Raum, und da war Captain Saubermann schon wieder. Nur diesmal nicht als Pappaufsteller.
Diesmal war er echt.
Er hatte nicht seine übliche silberne und blaue Uniform an. Stattdessen trug er einen silberfarbenen Jogginganzug und ein passendes Stirnband.
In dem Raum standen lauter wuchtige Maschinen, die aussahen, also ob sie einem schwere Schmerzen zufügen würden. Die Cafeteria Girls hatten recht gehabt. Sie sahen aus wie High-Tech-Foltergeräte.
Und Captain Saubermann war in einem dieser Geräte festgeschnallt.