21
Schwebende Fahrzeuge unterliegen einer strengen Regulierung durch die Regierung. Außerdem haben sie einen extrem hohen Spritverbrauch. Man sollte sie also nur fahren, wenn es unbedingt nötig ist.
Meine Eltern hatten ihre Flugroller in der Ecke der Garage stehen. Selbst nachdem Moms Roller bei ihrem Versuch, die Erde zu fluten, zerstört worden war, blieben immer noch drei etwas ältere Modelle, die wir benutzen konnten. Zum Glück hatte ich im Lauf der Jahre genug mit den Dingern rumgespielt, um zu wissen, wie man sie bediente.
Ich setzte meine Füße unten auf die Metallleiste und legte den An/Aus-Schalter um. Der Flugroller zitterte, als der Motor anfing zu summen. Ich fasste nach den Lenkergriffen und zog sie behutsam nach oben. Der Roller löste sich vom Boden. Wenn man sich über den Lenker beugte, flog der Roller nach vorn. Wenn man den Lenker nach hinten zog, schaltete er in den Rückwärtsgang.
Nachdem ich Sophie und Milton noch ein paar weitere Tipps gegeben hatte, suchten wir uns Motorradhelme und übten ein bisschen im Garten.
Sophie begriff alles auf Anhieb. Nach wenigen Minuten schwebte sie durch den Garten. Schon bald gab sie mit ihrem Roller so richtig Gas und sauste von einem Ende des Gartens zum andern.
Milton brauchte ein bisschen länger.
»Achte darauf, dass du ihn vorsichtig hochziehst«, sagte ich.
»Vorsichtig«, sagte Milton. »Verstehe.«
Milton konzentrierte sich auf den Lenker.
»Macht er schon was?«, fragte er.
»Noch nicht.«
»Und jetzt? Fliege ich?«
»Nein, du bist noch am Boden.«
»Sicher?«
»Vielleicht bist du ein wenig zu vorsichtig. Versuch es ein bisschen stärker.«
Milton riss den Lenker nach oben. Auf einmal schoss der Roller fünfzehn Meter in die Höhe. Milton schrie und umklammerte den Lenker dicht vor der Brust, während er wie eine Flaschenrakete im Milton-Format gen Himmel raste.
»Zu stark!«, rief ich hinauf.
»Meinst du?«, kreischte er. »Und wie komm ich jetzt wieder runter?«
»Drück den Griff einfach nach unten – ganz vorsichtig. Und pass auf, dass du nicht –«
Bevor ich zu Ende sprechen konnte, machte der Roller ein paar Saltos nach vorn. Es wäre wirklich ein ziemlich eindrucksvolles Manöver gewesen, wenn Milton dabei nicht die ganze Zeit in höchstem Jammerton geschrien hätte.
»Milton!«, rief ich. »Sieh zu, dass du die Griffe nicht verbiegst.«
Aber da hatte er schon völlig die Kontrolle verloren. Ein paar Sekunden später kreiste er kopfüber durch den Garten und hing, sich am Lenker festhaltend, mit den Beinen nach unten. Wie wild wirbelte er durch die Luft und verpasste nur knapp das Hausdach. Erst als er sich in den Zweigen eines Baums verfing, endete sein Flug.
Nach ein paar weiteren Trainingsrunden kriegte es Milton aber doch noch hin. Er sprang von einem Fuß auf den andern und blickte mit stolzem Blick auf den Roller. »Das allein ist schon fast ein Abenteuer. Und weißt du, was noch zu einem richtig guten Abenteuer dazugehört?«
Ich schüttelte den Kopf
»Snacks! Wenn du mir deinen Rucksack leihst, besorge ich alles, was wir brauchen.«
»Gut.« Ich ging ins Haus und schnappte mir meinen Rucksack. Als ich ihn Milton in die Hand drückte, riet ich ihm noch: »Aber bloß das Allernötigste.«
Ein paar Minuten später kam Milton zurück. Der Rucksack war prall gefüllt mit Dr. Pepper Cola, Kartoffelchips und Saubermann-Rauchfleisch.
Ich gab die Koordinaten in das VexaCorp-Navi ein, das im Display des Rollers integriert war. Auf dem LCD-Bildschirm erschien eine Karte mit der Route nach Carrolshire.
»Können wir?«, fragte ich mit einem kurzen Blick zu Sophie und Milton.
»Wir können«, antworteten beide gleichzeitig.
Und schon stiegen wir auf unsere Roller und flogen los.
Wenn du noch nie mit einem Flugroller eine Langstrecke geflogen bist, kann ich dir das nur empfehlen. Der Wind wehte mir ins Gesicht, während unter uns die Landschaft aus Straßen und Wiesen vorbei glitt. Ab und zu schluckte ich zwar mal ein paar Insekten, aber ansonsten war es ganz einfach toll.
Nachdem wir ein paar Stunden in der Luft waren, zeigte das GPS an, dass wir uns unserem Ziel näherten. Weiter vorn am Horizont erkannte ich die Silhouette eines freistehenden Gebäudes.
»Ich glaube, da müssen wir hin«, rief ich.
»Scheint so, als ob wir nicht die Einzigen in der Luft wären.« Milton zeigte auf einen Vogelschwarm, der in dichter Formation über dem Gebäude kreiste, so als ob er den Ort bewachte.
Meine Hände krampften sich um den Lenker. Die Vögel hatten etwa die Größe von Krähen, aber solche Krähen wie die da hatte ich noch nie gesehen. Ihre Schnäbel und Beine waren silbern. Und sie hatten pechschwarze Körper, in denen sich das Sonnenlicht spiegelte, wenn sie durch den Himmel glitten.
Als wir näher kamen, hörten die Vögel auf, den Luftraum um das Gebäude zu kontrollieren, und flogen stattdessen in unsere Richtung.
»Ich hab kein gutes Gefühl«, schrie ich.
»V-vielleicht fliegen sie nur für den Winter nach Süden«, sagte Milton. Aber ich hörte an seiner zitternden Stimme, dass er das selbst nicht glaubte.
»Hier oben sind wir zu angreifbar«, rief Sophie. »Wir müssen festen Boden unter die Füße bekommen.«
Blitzschnell steuerten wir unsere Roller nach unten und landeten auf einer freien Wiese. Ich klammerte mich immer noch an einen letzten Funken Hoffnung, dass die Vögel über uns hinweg ziehen würden. Aber so, wie es aussah, hatten sie andere Pläne. Als ich zum Himmel hinaufsah, spürte ich, wie die Angst sämtliche Gedanken in mir verdunkelte. Die Vögel stürzten uns wie Kampfjets entgegen.
Ihre Schatten umkreisten uns. In Sekundenbruchteilen waren die Vögel überall.
Sophie, Milton und ich rannten in verschiedene Richtungen, dicht von Vogelschwärmen verfolgt. Mit der einen Hand schützte ich mein Gesicht, die andere schwang durch die Luft und erwischte einen Vogel, der im Sturzflug versuchte, meinen Kopf anzugreifen –
PENG!
In meinem Kopf brach ein Schmerz los. Es war, als hätte ich mit meiner Hand ein Stahlrohr getroffen. Die Schnäbel waren aus Silber und scharf wie Dolche. Ich hörte das elektronische Schwirren der Flügel.
Das waren gar keine Vögel. Das waren Maschinen.
»Wieso habe ich das Gefühl, als ob mich ständig Roboter angreifen, wenn ich mit euch zusammen bin?«, schrie Milton und duckte sich vor einem Kamikaze-Vogel zur Seite.
Als ich den nächsten Vogel zu Boden schlug, hörte ich plötzlich ein metallisches Klacken. Aber wo der Vogel hergekommen war, gab es noch viel mehr, und sie flatterten von allen Seiten um mich herum. Wenn ich nicht durch den Motorradhelm geschützt gewesen wäre, hätte mein Kopf schnell wie ein Schweizer Käse ausgesehen.
Konzentrier dich!, sagte ich mir – was nicht gerade einfach ist, wenn ein Schwarm von Metall-Krähen versucht, dir die Augen auszukratzen. Ich dachte an all die Sachen, die ich in den letzten Wochen geübt hatte – nach der Schule Äste in Flammen aufgehen lassen und Snacks rösten. Das hier war doch gar nicht so anders, oder? Stell dir die Vögel einfach als heiße Teigtaschen mit Flügeln vor. Heiße Teigtaschen, die mich zu verspeisen versuchten statt umgekehrt.
Ich schwang wieder den Arm, und ein Energieschwall pulsierte durch meine Adern. Eine Explosion erwischte die Vögel und warf mich auf den Rücken. Eine heiße Feuerwelle fegte über mich hinweg. Und ein übler Gestank. Ein Gestank nach kurzgeschlossenen Drähten. Die verkohlten Reste der Robotervögel lagen überall um mich herum. Abgerissene Flügel und Drähte, gebrochene Beine, die noch zuckten.
Ganz in der Nähe war Sophie wieder in ihrem glühenden Zustand. Sie riss einen Vogel aus der Luft, spaltete einen zweiten mit der Handkante und zerlegte einen dritten mit einem Fußtritt.
»Leute!«, schrie Milton von hinten. »Ich brauch ein bisschen Verstärkung!«
Überall um uns herum flatterten glänzende metallische Vögel. Milton holte nach einem aus, wirbelte herum, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Sofort sausten die Vögel auf ihn herab.
Sophie rannte bereits los. Als sie Milton erreichte, schlug sie einen der Vögel ins Jenseits. Metallteile flogen in alle Richtungen davon. Gerade als ich dazukam, zerlegte sie einen zweiten Vogel per Handkantenschlag.
Ich schnappte einen Vogel aus der Luft, gerade als der seinen Schnabel in Miltons Hals rammen wollte. Ein weiterer Energieimpuls jagte durch meinen Körper und das Ding explodierte in tausend Teile.
Als wir endlich die letzten Vögel erledigt hatten, legte sich eine unheimliche Stille über die Wiese. Plötzlich war das Geräusch von klackendem Metall und flatternden mechanischen Flügeln verschwunden. Und ich hörte auf einmal meinen eigenen keuchenden Atem.
Milton stützte sich auf den Ellenbogen und wischte sich Gras und Vogelteile von seiner Kleidung. »Also, diese Roboter hassen euch beide ja echt, was?«
»Ich fürchte, das kannst du laut sagen.« Sophie griff nach einem Teil von einem Vogel – dem Mittelbereich, an dem jetzt nur noch einer der beiden Flügel hing – und hielt ihn hoch. Ein vertrautes Logo war in die weiche schwarze Oberfläche graviert.
C
Wachvogel™
»Was glaubst du, was sie bewacht haben?«, fragte ich.
»Keine Ahnung.« Milton zuckte die Schultern. »Aber was immer es sein mag, es ist da drinnen.«
Er warf einen nervösen Blick auf das Gebäude in der Ferne. Es war ein trister alter Bau, der wirkte, als wäre er seit Jahren verlassen. Ineinander verschlungene Ranken klammerten sich an dem grauen Gemäuer fest, die Fenster waren mit Brettern vernagelt.
Wir ließen unsere Flugroller im hohen Gras zurück und gingen auf das Gebäude zu. Als wir näher kamen, entdeckte ich ein verblichenes Schild, auf dem stand:
HOTEL MEERESBLICK
»Was ist das denn für ein Name?«, sagte Milton. »Hier ist doch weit und breit überhaupt kein Meer.«
»Und viel Blick gibt es auch nicht«, ergänzte ich, nachdem ich die trostlosen Wiesen ringsherum inspiziert hatte.
Der einzige Hinweis, dass im letzten Jahrzehnt irgendwer das Hotel besucht hatte, war das nagelneue rote Cabrio, das auf dem zugewucherten Schotterweg abgestellt war. Auf dem Nummerschild stand:
SAUBERMANN
Ich drehte mich zu Sophie um und sah plötzlich, dass sie immer noch den Vogelrest in der Hand hielt. Ihr Blick wanderte von dem Wagen zu dem C-Logo, das in den Mittelteil des Vogels eingraviert war.
»Warum tut mein Dad so was?«, flüsterte sie.
Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte, und ich bezweifelte auch, dass Sophie eine Antwort wollte. Sie warf den Vogel mit solcher Wucht auf den Boden, dass auch der verbliebene Flügel abbrach. Dann stampfte sie die wackelige Treppe hinauf, die zum Eingang des Hotels führte. Als sie an dem rostigen Knauf drehte, öffnete sich knarrend die Tür.
Zögernd standen wir drei auf der obersten Stufe und spähten in das Dunkel dahinter. Dann traten wir ein.