18
Viele begnadete Kinder treten in die Fußstapfen ihrer Eltern.
Mein Schrei hallte durch den Raum. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als ob in meinem Innern ein Loch aufgerissen sei, in das alles, was mir je wichtig war, hineinfiele. Gerade noch waren meine Eltern da gewesen und hatten mit den Rauch-Gestalten gekämpft. Und jetzt – nichts mehr.
Hinter mir hörte ich Schritte, die über das gesplitterte Glas knirschten. Sophie kam in die Eingangshalle gerannt. In dem Moment, als wir uns ansahen, erkannte ich in ihrem Blick, dass sie Bescheid wusste.
»Das Schreck-Duo«, sagte sie. »Das sind –«
»Meine Eltern.« Ich nickte. »Das stimmt.«
Jetzt, als die Wahrheit endlich heraus war, empfand ich nichts von dem, was ich erwartet hatte – weder Angst noch Scham noch Verlegenheit. Ich fühlte mich ausschließlich leer.
Und auch Sophie reagierte nicht, wie ich erwartet hatte. Ich hätte gedacht, sie wäre sauer oder schockiert. Doch sie schaute mich nur einfach mitfühlend an.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Eine Sekunde später trat Milton durch den zerstörten Eingang. »Was ist passiert?« Er warf einen erwartungsvollen Blick durch die Eingangshalle. »Hab ich was verpasst?«
»Meine Eltern sind gerade angegriffen worden«, sagte ich und starrte in die Leere, wo sie noch eben gestanden hatten. »Sie sind verschwunden.«
»Was soll das heißen? Das Schreck-Duo hat deine Eltern entführt?«
»Nein, Milton.« Ich schüttelte den Kopf. »Das Schreck-Duo, das sind meine Eltern.«
Die letzten zwölf Jahre hatte ich ihre Identität immer verschwiegen, und jetzt hatte ich die Wahrheit gleich zwei Mal in einer Minute gestanden. Falls Milton schockiert war, dass er die ganze Zeit nur ein paar Häuser entfernt von zwei der übelsten Schurken der Welt gewohnt hatte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
Stattdessen blinzelte er nur und fragte: »Was ist mit ihnen passiert?«
Ich erklärte Sophie und Milton, was meine Eltern mir gesagt hatten – über die Rauch-Gestalten, die Nanowesen und die Superschurken, die weggebracht wurden.
»Weggebracht wohin?«, fragte Sophie.
Ich schüttelte den Kopf und starrte auf die Glasscherben zu meinen Füßen. »Keine Ahnung. Es gibt nur eine Möglichkeit, ihre Spur zu verfolgen. Und um das zu tun, bräuchte ich –«
Die chemische Substanz, die meine Eltern versucht hatten zu klauen. Zenoplyrische Säure. Und wir befanden uns gerade in der Eingangshalle des einzigen Orts in Sheepsdale, wo man das Zeug kriegen konnte. Meine Eltern hatten erwähnt, dass das Labor normalerweise streng bewacht war. Doch im Moment waren noch alle Angestellten und bewaffneten Sicherheitsleute draußen gefesselt. Das hieß, wir hatten das Gebäude für uns allein.
Ich lief durch die leere Eingangshalle. Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Sophie und Milton riefen mir hinterher. »Warte, Joshua! Was hast du vor?«
Ich drehte mich um, und mein Herz wummerte wie eine Maschine im Turbo.
»Ich will eine tödliche Chemikalie stehlen!«
*
Ich hatte in meinem Leben noch nie irgendetwas gestohlen. Das war mehr das Fachgebiet meiner Eltern. Und ich hätte auch nie für mich in Erwägung gezogen, in ein schwer gesichertes Labor einzubrechen, um ein Fläschchen gefährliche Säure zu klauen.
Jedenfalls bisher.
Doch es gab keine andere Möglichkeit. Die einzige Chance, meine Eltern je wiederzusehen, war, in den Besitz dieser Chemikalie zu kommen. Außerdem hatten meine Mom und mein Dad ja schon den größten Teil der Arbeit für mich getan. Ich musste das Zeug bloß noch finden.
Viel Zeit blieb uns nicht. Jede Sekunde würde Captain Saubermann hier aufkreuzen und die Leute da draußen alle losbinden. Das ganze Gebäude würde wieder zum Sperrgebiet werden, und damit wäre jede Möglichkeit, meine Eltern zu finden, dahin.
Milton und Sophie rannten mit mir über einen langen Flur, an leeren Stühlen des Wachpersonals vorbei. Als ich den Fahrstuhl erreichte, blieb ich stehen und sah zu den beiden zurück.
»Ihr solltet umkehren«, sagte ich schwer keuchend. »Ich schaff das auch ohne euch.«
»Wir lassen dich nicht allein«, sagte Sophie.
»Genau«, fügte Milton nach Luft schnappend hinzu. »Wir wollen dir helfen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Diese Chemikalie, die ich suche – ist sehr selten. Und sehr gefährlich.«
»Aber du brauchst sie, stimmt’s?«, fragte Sophie. »Sie kann dir helfen, deine Eltern zurückzubekommen?«
»Das hoffe ich.«
»Dann sollten wir uns vielleicht aufteilen.«
Ich starrte sie an. Sophie – Captain Saubermanns Tochter – bot an, mir zu helfen? Und das, nachdem sie herausgefunden hatte, wer meine Eltern waren?
Milton trat vor. »Sie hat recht. Das Gebäude ist riesig. Wenn wir uns aufteilen, schaffen wir einfach mehr Fläche.«
Ich warf Sophie einen ernsten Blick zu. »Aber dein Dad hat doch bestimmt was dagegen.«
»Die Probleme unserer Eltern sind deren Sache«, antwortete Sophie. »Du bist mein Freund. Und ich will dir helfen.«
So sehr ich die Vorstellung hasste, meine Freunde in das hier mit reinzuziehen, die zwei hatten einfach recht. Das Gebäude war riesig, und die Chance, zu finden, wonach wir suchten, war zu dritt viel größer als für einen allein.
»Okay«, sagte ich. »Passt auf.«
Wir beschlossen, dass Milton den Rest vom Erdgeschoss durchsuchen sollte, während Sophie und ich uns das Obergeschoss teilen würden. Wenn uns jemand fand, würden wir einfach sagen, wir hätten uns vor dem Schreck-Duo verstecken wollen und dabei verlaufen.
»Wir treffen uns dann draußen«, sagte ich und drückte den Aufzugknopf. Die Tür glitt auf.
»Wartet«, sagte Milton, als wir gerade in den Fahrstuhl traten. »Wonach suchen wir noch mal?«
»Das Zeug heißt zenoplyrische Säure.«
»Und woran erkenne ich die?«
Ich überlegte einen Moment. »Keine Ahnung. Ich hatte gehofft, es steht vielleicht drauf.«
Milton sah aus, als ob er noch ungefähr hundert Fragen hätte, die er uns stellen wollte, doch die Tür glitt zu, ehe er die Gelegenheit dazu bekam.
Sophie und ich standen jetzt allein im Aufzug. Bis auf das sanfte Jazz-Saxofon, das leise aus den Lautsprechern klang, war es ganz still. Ich hatte auf einmal das Gefühl, als ob sich mein Körper vor lauter Unsicherheit wand und zusammenzog. Als die Tür im oberen Stock wieder aufglitt, sahen Sophie und ich uns ein letztes Mal an.
»Viel Glück«, sagte sie.
»Dir auch.«
Dann machten wir uns auf den Weg, jeder in eine andere Richtung.
Bald hörte ich nur noch das Quietschen meiner eigenen Schritte auf dem Fußboden und den Rhythmus meines Atems.
Ich untersuchte einen Raum nach dem andern, schaute an den Wänden mit lauter Laborutensilien entlang, öffnete Schränke, las die Etiketten auf sämtlichen Chemikalien, die ich fand. Aber nirgends entdeckte ich zenoplyrische Säure.
Ich fragte mich schon langsam, ob sich meine Eltern womöglich geirrt hatten – und die Säure überhaupt nicht hier war –, als ich plötzlich hinter mir einen Piepton hörte. Ich wirbelte herum, und auf einmal entdeckte ich die Sensoren, die am Durchgang angebracht waren, durch den ich gerade gekommen war. Türen aus schwerem Stahl sanken auf beiden Seiten des Raums herunter und blockierten den Ein- und Ausgang.
Und im nächsten Moment ging die Alarmsirene los.