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Eine geheime Identität kann deinem Leben eine ganz neue Art von Schwierigkeiten hinzufügen. Aber viele in der Super-Gemeinde haben gar keine andere Wahl.
Ich war fast froh, am Montag wieder in die Schule zu können. Nach den verrückten Wochen, die ich hinter mir hatte, war es beruhigend, wieder in den Alltag zurückzukehren.
Zu Hause arbeitete mein Dad an einer neuen Erfindung, dem Handlos-Wunderboy, einer Maschine, die einem die Haare kämmte. In der Nacht zuvor hatte er sie sogar an sich selbst ausprobiert.
»Ich glaube, ich brauche noch ein bisschen Zeit«, hatte er danach gesagt und sich vorsichtig an eine brandneue kahle Stelle seitlich am Kopf gefasst.
Mom war den ganzen Sonntag durch Sheepsdale gefahren, um die Zombies einzufangen, die seit der missglückten Schreck-Duo-Aktion bei ChemiCo Labs verschwunden waren. Die meisten waren in den Bioladen eingedrungen, der von dem Labor aus nur ein Stück weiter die Straße entlang lag. Bis meine Mom dort ankam, hatten sie sich durch die gesamten Tofu-Bestände gefressen.
»Jetzt läuft nur noch einer frei rum«, sagte Mom und goss ein Glas Wasser in Micus’ Topf. Die Hauspflanze schlug begeistert mit ihren Zweigen. »Aber ich bin sicher, auch der taucht irgendwann wieder auf.«
Ein Thema, das meine Eltern nie erwähnten, war die gemeinsame Fahrt mit Captain Saubermann. Ich fragte mich immer wieder, was wohl passieren würde, wenn die drei sich das nächste Mal zufällig trafen. Was meine Eltern anging, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder einen neuen Plan zur Beherrschung oder Zerstörung der Welt schmieden würden. Und wenn das geschah, würde Captain Saubermann mit Sicherheit auftauchen. Aber jetzt, wo sie sogar eine Fahrgemeinschaft gebildet hatten, wäre es vielleicht ein bisschen peinlich, zu versuchen, sich von neuem gegenseitig umzubringen.
In der Schule fiel es mir inzwischen noch schwerer als sonst, mich zu konzentrieren. Mit den Gedanken war ich immer wieder bei den letzten hitzigen Augenblicken in dem Versteck. Genauer gesagt bei dem Moment, als die Zeit anhielt. Und die Lichtwelle aus meinen Fingerspitzen kam. Bei dem Stoß, der mich nach hinten geworfen und das Gleiche auch mit Vex getan hatte.
Dein BEGNADETSEIN stellt alles in den Schatten, was wir je erlebt haben, hatte Mom gesagt. Du besitzt eine ganz außergewöhnliche Superkraft, Joshua. Aber diese Kraft ist explosiv.
So ärgerlich und unberechenbar meine spontane Entflammung auch sein mochte, ich ging davon aus, dass ich mich mit ihr abfinden musste. Und zugegeben, praktisch war sie natürlich.
Egal wie sehr ich versuchte, Vex aus meinem Kopf zu verbannen, er brannte sich weiter in meine Gedanken ein. Es schien unmöglich, dass er noch lebte. Aber wenn, das wusste ich, würde er es sich persönlich zur Aufgabe machen, uns zu jagen. Und wenn es soweit war, mussten meine Freunde und ich vorbereitet sein.
Als es in der Cafeteria Mittagessen gab, setzten Milton und ich uns an unseren gewohnten Tisch. Ein Blick auf mein Essen reichte, um meinen Appetit schrumpfen zu lassen. Es war Überraschungsfleisch-Montag. Und Überraschungsfleisch hieß das Essen, weil … na ja, weil eben niemand wusste, was das Zeug auf dem Teller eigentlich war.
Nachdem ich ein bisschen von der braunen Pampe auf meine Gabel gehäuft hatte, versuchte ich den Bissen hinunterzuschlingen. Das Fleisch war in der Tat sehr überraschend. Aber keinesfalls im positiven Sinne.
»Weißt du was?«, sagte Milton und biss von seinem Sandwich ab. »James Wendler hat gesagt, er überlässt mir das ganze Jahr seine Schokomilch, wenn ich ihm die Superknüller-Ausgabe mit dem Autogramm von Captain Saubermann gebe.«
»Ich bezweifle, dass deine Mom damit einverstanden ist«, gab ich zu bedenken.
»Ja, aber …«, Miltons Augen wurden für einen Moment ganz verträumt. »So viel Schokomilch …« Er biss noch einmal ab. »Außerdem kann mir Sophie doch jederzeit ein neues Autogramm besorgen.«
»Glaubst du wirklich, das würde sie tun?«
»Wieso nicht? Captain Saubermann ist doch ihr –«
Milton brach ab, als er meinen Blick bemerkte.
Er war schon den ganzen Tag so. Drauf und dran, mitten auf einem der vollen Flure alles herauszuposaunen oder seltsame Sachen zu erzählen, die nur wir verstanden. Anders als Sophie und ich war es Milton nicht gewohnt, so viele Geheimnisse für sich zu behalten. Und die Mühe, die ihn das kostete, schien ihren Preis zu haben.
»Vielleicht hast du ja recht«, sagte Milton jetzt. »Ein Autogramm von Captain Saubermann ist mehr wert als eine Schokomilch am Tag.«
»Das meine ich nicht. Ich will dir doch etwas ganz anderes sagen.«
»Ich wette, ich könnte James noch auf eine Schokomilch plus eine Eiswaffel hochtreiben.«
Die Unterhaltung brach ab, als plötzlich eine Parfümwelle vorbeirauschte. Im nächsten Moment setzten sich die Cafeteria Girls auf ihre gewohnten Plätze. Alle vier trugen Pink. Die eine, die mir am nächsten saß, war von Kopf bis Fuß in dieser Farbe gekleidet, als ob sie vorhätte, sich in einem Urwald aus Kaugummi zu verstecken.
»Ich weiß es jetzt«, verkündete sie.
»Was weißt du jetzt?«, fragte eine ihrer farbkoordinierten Freundinnen.
»Wer Sophie wirklich ist.«
Plötzlich waren alle ganz Ohr, ich eingeschlossen.
»Sophie versteckt ihre wahre Identität«, sagte Kommando-Barbie.
»Echt?«
»Genau. Und ich weiß auch, wieso.«
Fast wäre ich mit einem Ja? herausgeplatzt. Doch zum Glück sagten es schon die anderen drei Cafeteria Girls, bevor ich überhaupt eine Chance hatte.
Die Pinke Tarnhose nickte. Sie ließ ihren Blick über den Tisch schweifen und streifte Milton und mich mit einem Ausdruck, als wollte sie sagen Ihhh.
»Erinnert ihr euch noch, wie Sophie das erste Mal in Sheepsdale aufkreuzte?« fragte sie. »Es war einen Tag, nachdem Captain Saubermann das Schreck-Duo besiegt hat. Das kann ja wohl kaum ein Zufall sein.«
Ich spürte, wie sich mir der Magen umdrehte, und das hatte ausnahmsweise nichts mit dem Überraschungsfleisch zu tun. Es schien, als ob die Mädchen auf der richtigen Spur waren. Ich wusste bereits, was passieren würde, wenn Sophies wahre Identität in der Stadt bekannt wurde. Ich hatte das oft genug selbst durchgemacht. Ruckzuck umziehen. Eine neue Stadt, ein neuer Name, ein neues Leben.
Und Sophie wäre weg.
Ich gebe ja zu, dass ich sie noch nicht so lange kannte, und zumindest einen Teil der Zeit hatten wir uns entweder gestritten oder ignoriert. Oder beides. Aber wir hatten eine Menge zusammen durchgemacht. So was wie eine Beinah-Todeserfahrung zu erleben erzeugt nun mal ein gewisses Gefühl von Nähe.
Ich glaube, was ich damit sagen will, ist: Ich wollte nicht, dass sie wieder umzog.
Das Mädchen in dem heißen pinkfarbenen Tarnanzug-Ding sagte: »Es hat einen Grund, warum Sophie Smith ausgerechnet einen Tag, nachdem das Schreck-Duo in der Stadt seinen Kampf führte, aufgekreuzt ist. Ist das nicht klar?«
Alle am Tisch warteten, dass sie weiter sprach. Ich krallte mich nervös an die Tischplatte. Milton war so abgelenkt, dass er sein ganzes Sandwich aufgegessen hatte und jetzt an der Plastiktüte kaute.
»Sophies Eltern sind das Schreck-Duo«, sagte Kommando-Barbie.
Ich musste fast losprusten vor Lachen. Sophies Geheimnis war weiterhin sicher. Und meines offenbar auch.
»Moment mal …«, sagte ein anderes Mädchen. »Wie kann die Botanikerin Sophies Mom sein. Ich dachte, Sophie hätte gar keine Mom.«
»Schwachkopf«, sagte die Pinke Tarnhose. »Sie versuchen es natürlich geheim zu halten.«
»Ach so.«
»Überleg doch mal. Die Maschinengewehr-Türme vor ihrem Haus und die Foltergeräte. Ihre Mom und ihr Dad sind Superschurken.«
Ein Schweigen legte sich über den Tisch, als die anderen Mädchen darüber nachdachten, was sie da gerade gehört hatten. Sie wirkten, als ob sie die Geschichte tatsächlich glaubten. Und dann rissen sie plötzlich vor Entsetzen die Augen auf. Ich schaute über die Schulter und erkannte sofort, was sie so furchtbar erschreckt hatte.
Sophie stand an unserem Tisch.
»Habt ihr was dagegen, wenn ich mich da hinsetze?«, fragte sie die Cafeteria Girls und deutete auf einen leeren Stuhl.
Zum ersten Mal waren die Cafeteria Girls sprachlos. Sie starrten Sophie in schockiertem Schweigen an. Die vier hatten genau denselben erschrockenen Gesichtausdruck wie die Leute, wenn meine Eltern irgendwo aufkreuzten. Nur dass die Leute gewöhnlich nicht alle Pink trugen.
»Äh …«, brachte Kommando-Barbie heraus.
»Danke!« Sophie lächelte die Mädchen süßlich an und ließ sich neben ihnen auf den Stuhl fallen. Sie schaute kurz zu mir rüber, und ich sah ein verschmitztes Lächeln in ihren Augen aufflackern. Dann drehte sie sich wieder zu den Cafeteria Girls um. »Hat jemand von euch vielleicht ein Besteck übrig, das ich nehmen kann?«, fragte sie mit besonders höflicher Stimme.
Alle vier glotzten Sophie an, als hätte sie gefragt, ob sie einen Granatwerfer haben könnte. Die Pinke Tarnhose stieß das Mädchen neben sich mit dem Ellenbogen an und deutete kopfnickend auf ein unbenutztes Besteck, das auf deren Tablett lag.
»H-hier«, sagte das Mädchen. Sie hielt Messer und Gabel in ihren zitternden Händen.
Sophie nahm das Besteck. Noch immer lächelnd, hielt sie es in der geballten Faust. Die Cafeteria Girls zuckten bei dem mahlenden Geräusch von Metall auf Metall zusammen.
»Weißt du was?«, sagte Sophie. »Ich hab mir gerade überlegt, dass ich eigentlich gar kein Besteck brauche. Du kannst es zurück haben.«
Sophie öffnete die Faust und ein Stück verbogenes Metall fiel klirrend auf den Tisch. Die Cafeteria Girls waren auf einmal so blass wie vier pinkfarbene Geister.
»Und wenn ich mitbekomme, dass ihr noch ein Mal hinter meinem Rücken über mich redet, dann geht nicht bloß das Besteck kaputt«, flüsterte Sophie. »Hab ich mich klar genug ausgedrückt?«
Das unschuldige Lächeln war jetzt verschwunden. Sophies Haut leuchtete mit einem schwachen Schein – zwar nicht so hell, dass es irgendjemand anderes in der Cafeteria mitbekam, aber doch eindeutig stark genug, um den übrigen Mädchen klarzumachen, was sie meinte.
Die Cafeteria Girls sahen aus, als ob sie jeden Moment aus ihrer Haut springen würden. Die Pinke Tarnhose war so fix und fertig, dass sie gar nicht merkte, wie ein Stück Überraschungsfleisch vom Tisch auf ihren Schoß fiel.
»Das wird ihnen eine Weile das Maul stopfen«, sagte ich, als wir ein paar Minuten später die Cafeteria verließen und auf den Schulhof traten.
»Ich weiß nicht, wie viel das bringt«, antwortete Sophie schulterzuckend. »Normalerweise findet mein Dad immer einen Weg, früher oder später unser Geheimnis zu verraten. Ich bin es einfach nur leid, so zu tun, als ob ich nicht wüsste, dass alle über mich reden.«
Es war einer der letzten warmen Tage des Jahres. Bald würde der Winter durch Sheepsdale fegen und den Schulhof einschneien. Doch im Moment nutzten die Schüler noch den Platz zum Mittagessen, zum Abhängen mit Freunden oder um irgendwelche Ballspiele zu machen.
Drüben an der Tetherball-Stange sah ich Joey und Ziegelstein. Seit ihrer kleinen Auseinandersetzung mit Sophie vor der Mädchentoilette hatten sie einen Bogen um uns gemacht. Inzwischen schikanierten sie nur noch Mitschüler, die so jung oder dämlich waren, dass sie es nicht auf einen Kampf ankommen ließen.
Im Moment hatte Ziegelstein einen Fünftklässler am Wickel. Joey stand neben ihm. Sein Arm hing immer noch in einer Schlinge, doch das hielt ihn nicht davon ab, Kommandos zu geben.
»Halt ihn fest«, sagte er zu Ziegelstein.
Ziegelstein stieß den Fünftklässler nach hinten.
Das Gleiche hatten sie auch mit mir gemacht – erst den Ball vom Seil der Tetherstange abreißen und danach stattdessen meine Fußgelenke dran festbinden. Sobald ich kopfüber hing, hatten sie mich dann hin und her gestoßen.
Sandsack-Joshua.
Und jetzt machten die beiden genau dasselbe mit jemand anderem.
Sophie und ich entschlossen uns gleichzeitig, zu ihnen zu gehen. Doch bevor einer von uns ein Wort sagen konnte, entdeckte der Junge etwas, das noch erschreckender war als Joey und Ziegelstein. Seine Kinnlade fiel herunter, und er zeigte mit zitterndem Finger auf das, was er sah.
Ein Zombie hatte den Schulhof betreten.