25
Obwohl Phineas Vex keine Superkräfte besitzt, hat er über die Jahre immer wieder bewiesen, dass er ein äußerst begabter Schurke ist.
Er sah aus wie eine Gestalt aus einem Albtraum.
Eine grauenerregende Schnittwunde lief quer über die eine Seite seines Gesichts und bildete mit der Narbe, die bereits vorher da gewesen war, ein gezacktes T. Seine Hände waren schwarz verkohlt. Die Augenklappe war weggerissen und hatte ein blindes weißes Auge freigelegt.
Vex packte Sophie an der Schulter. Der tödliche Griff seines Stocks war genau auf ihren Kopf gerichtet. Vex trat einen Schritt zurück und zerrte Sophie mit sich.
»Eine Bewegung und ich bringe sie um«, sagte er.
Captain Saubermanns Schultern spannten sich. Er wirkte, als wären alle Muskeln seines Körpers bereit, nach vorn zu schnellen. Aber Vex hielt den Schädelknauf nun noch dichter an Sophies Kopf. Sein heiles Auge funkelte. Das stoppte schlagartig alles, was Captain Saubermann möglicherweise vorgehabt hatte.
»Bleiben Sie, wo Sie sind, dann lass ich das Mädchen am Leben«, sagte Vex. Flammen züngelten um seine Haut. Sein gutes Auge zuckte wild umher und sah jeden Einzelnen von uns mit einem stechenden Blick an. »Es täte mir leid, Ihre Frau und Ihre Tochter töten zu müssen.«
Die Worte ließen einen Schauer über meinen Rücken laufen. Sophies Mom war tot. Und Vex war es also gewesen, der sie umgebracht hatte.
»Ich nehme das Mädchen mit«, sagte Vex. »Wenn ich sehe, dass mir irgendwer folgt, stirbt sie. Wenn ich meinen Zielort erreicht habe, lasse ich sie frei.«
Hinter Vex regten sich langsam die ersten Schurken, weiße Gewänder glitten zu Boden. Einer der Schurken kam schwankend auf die Beine, und plötzlich erkannte ich sein Gesicht. Mein Dad. Er wankte unsicher hin und her, dann machte er ein paar Schritte in unsere Richtung.
Vex zog Sophie zu einem Schaltpult, das in die Wand eingelassen war. Mit der einen Hand hielt er Sophie, die andere streckte er vor und drückte energisch auf ein paar Knöpfe. Die Wand glitt zur Seite und gab den Blick auf einen Schwebe-SUV frei, der auf einem Startblock stand.
Hinter ihm kam Dad immer näher herangeschwankt. Als ich ihn kommen sah, wurde mir mulmig zumute, und ich fragte mich, was er vorhatte. Ich wusste, wie sehr er Vex bewunderte und Captain Saubermann hasste. Wollte er Sophie helfen? Oder Vex?
Dann zuckten seine Augen zu mir herüber, und ich wusste, auf wessen Seite er stand.
Er machte einen Satz nach vorn, packte Vex’ Stock und stieß ihn zur Seite, weg von Sophies Kopf. Vex wirbelte herum, er knurrte vor Überraschung und Wut. Dad versuchte den Stock festzuhalten, doch Vex war stärker. Schon hatte er ihn wieder im Griff. Und richtete ihn jetzt auf die Brust meines Dads.
Die Augen des Schädels glühten rot. Ich sah das alles geschehen, als mir plötzlich etwas Schreckliches klar wurde. Vex würde meinen Dad umbringen. Und ich konnte nichts dagegen tun. Niemand von uns konnte etwas dagegen tun.
Doch das hielt mich nicht davon ab, es trotzdem zu versuchen. Ich warf die Hände nach vorn und stürzte los. Ein Energieschub jagte durch meinen Körper.
Und dann hörte alles einfach …
Auf.
Oder zumindest schien es mir so. Die Szene vor mir war wie ein Foto. Mein Blick konzentrierte sich ganz auf Vex, und aus meinen Händen schoss eine Lichtwelle.
Selbst als ich es sah, konnte ich nicht glauben, was gerade geschah. Ein Band aus reinem weißen Licht kam wie aus dem Nichts aus meinen Fingerspitzen. Ich hatte das Gefühl, dass ich diesen Prozess nicht mehr aufhalten konnte, selbst wenn ich gewollt hätte. Es war, als ob nicht ich die Superkraft in mir kontrollierte, sondern umgekehrt.
Die Superkraft kontrollierte mich.
In dem Moment, als der Lichtstrahl Vex erreichte, lief die Zeit wieder normal weiter. Ich konnte auch wieder hören. Alles brach explosionsartig aus der Erstarrung. Ein plötzlicher Schlag traf mich wie ein rasender Zug, wirbelte mich hoch und schleuderte mich nach hinten.
Das Letzte, was ich noch sah, bevor meine Füße vom Boden abhoben, war Vex. Das Licht musste bei ihm das Gleiche angerichtet haben, denn auch er flog nach hinten – nur in die entgegengesetzte Richtung. Er verlor Sophie aus dem Griff und krachte rückwärts gegen einen Stahlträger. Die Wucht des Aufpralls war so stark, dass sie den Träger aus der Verankerung riss, mitsamt einem Teil der Decke, den er gestützt hatte. Das Deckenstück kam herunter und begrub Vex unter einem Berg aus Stahl und Beton.
Ich krachte zu Boden. Meine Lungen schmerzten. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre mein Hirn in einen Mixer geraten und würde aufgeschäumt. Eine verschwommene Gestalt kam auf mich zu und sprach mit Miltons Stimme.
»Alles okay?«, fragte er.
»Ja, glaub schon.«
Milton redete auf einmal ganz schnell. Seine Stimme rasselte in meinen Ohren. »Mann, das, was du da eben mit dem Licht gemacht hast, das war ja der Wahnsinn! Und wie du dann nach hinten geflogen bist. Ein Katapult ist nichts dagegen. So was hab ich noch nie gesehen –«
»Sophie«, unterbrach ich ihn. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Mir geht’s gut«, hörte ich Sophies Stimme. »Und deinem Dad auch.«
»Und meine Mom?« Ich drehte mich um und versuchte sie unter den undeutlichen Gestalten in der Ferne zu entdecken. »Ich meine, ist sie –«
»Alles andere können wir bereden, wenn wir draußen sind!«, rief Captain Saubermanns Stimme. Er legte eine Hand auf Sophies Schulter. »Aber jetzt müssen wir schleunigst hier raus. Der ganze Raum kann jeden Moment einstürzen.«
Captain Saubermann hatte recht. Ich rappelte mich auf und schaute gerade in dem Moment nach oben, als ein weiteres Stück der Decke herunterkrachte. Es ging nur wenige Schritte von der Stelle zu Boden, wo die ganzen Schurken in ihren weißen Gewändern lagen.
»Was ist mit ihnen?« Sophie zeigte auf die Gruppe. Auch die anderen Schurken waren inzwischen aufgewacht. Sie rappelten sich hoch und schauten sich nach dem flammenden Chaos um, als ob sie in einen bösen Traum geraten wären. »Wir können sie doch nicht einfach zurücklassen.«
Captain Saubermann starrte auf die Gruppe und war nicht in der Lage, seine Abscheu zu unterdrücken. Der Boden bebte. Ein weiteres Stück der Decke stürzte herab und landete gefährlich dicht vor einigen Schurken, die noch nicht wieder bei vollem Bewusstsein waren.
»Dad«, sagte Sophie. »Bitte.«
Captain Saubermann stieß einen Seufzer aus. »Na gut«, sagte er dann. »Ich werde sehen, was ich tun kann.« Er richtete seine Hand nach oben. »Schutzschirm der Tugend aktivieren!«
Ein blauer Hologramm-Schirm stieg aus seinem Armband. Das Teil sah aus wie diese Dinger, die man am Strand sieht, nur viel, viel größer. Riesige Beton- und Stahlbrocken stürzten von oben herab und verharrten dann plötzlich in der Luft, sobald sie den Schutzschirm berührten. Die Schurken blickten staunend nach oben.
»Okay, Leute«, verkündete Captain Saubermann jetzt mit begeisterter Stimme. »Ein Notausgang ist gleich neben dem SUV-Landeplatz. Bitte verlasst das unterirdische Versteck zügig und in geordneter Weise.«
Die Schurken taumelten benommen auf uns zu. Endlich entdeckte ich auch meine Mom in der Gruppe.
»Mom!«
Ich lief zu ihr hin. Milton und ich stützten sie auf beiden Seiten und halfen ihr beim Gehen. Als wir Dad erreichten, fielen sie sich in die Arme.
»Ähem. Der Schutzschild der Tugend hält leider nicht ewig«, rief Captain Saubermann. »Ich schlage vor, alle verlassen das Untergrund-Versteck so schnell wie möglich.«
Es war eindeutig das Seltsamste, was ich je erlebt hatte: Hundert der wohl gefährlichsten Schurken der Welt stolperten in die gleiche Richtung, alle trugen identische weiße Gewänder und blickten verwirrt auf das einstürzende Versteck und den riesigen Hologramm-Strandschirm über ihnen, während Captain Saubermann sie zum Ausgang drängte.