26

Egal wie viel du trainierst, ganz wirst du deine Superkraft nie verstehen.




Als die Feuerwehr von Carrolshire endlich kam, war das Hotel Meeresblick schon bis auf die Grundmauern niedergebrannt.

»Gute Arbeit«, sagte der Polizeichef zu Captain Saubermann. »Aber ich weiß nicht, ob im Gefängnis genügend Platz für alle ist.« Er zeigte auf die Gruppe der verwirrt wirkenden Schurken, die ganz in der Nähe stand. »Wir könnten sie höchstens mit dem Bus ins Bundesgefängnis bringen. Das ist nur vierzig Kilometer –«

»Nicht nötig«, sagte Captain Saubermann. »Sie können alle gehen.« Er zuckte bei seinen Worten zusammen, als würden sie ihm körperliche Schmerzen bereiten.

»Aber Captain Saubermann«, sagte der Polizeichef. »Sie haben da ein paar von der allerübelsten Sorte eingefangen. Die können Sie doch nicht einfach laufen lassen.«

Captain Saubermann seufzte. »Sie haben nichts Unrechtes getan. Zumindest diesmal nicht.«

»Ja, aber das ist doch nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder aus ihren Löchern kommen und Chaos und Zerstörung anrichten.«

»Ich weiß. Und wenn es soweit ist, werde ich zur Stelle sein.« Captain Saubermann schaute zum Himmel. »Haben Sie keine Angst, mein Freund und stolzer Gesetzeshüter. Ich werde da sein – wenn das Böse seine hässliche Fratze zeigt, wenn die Welt um Hilfe schreit, wenn –«

»Ist gut, wir haben’s kapiert.« Sophie verdrehte die Augen.

Der Polizeichef zuckte die Schultern, dann nahm er sein Walkie-Talkie und setzte sich mit den übrigen Polizeikräften in Verbindung. Die Schurken konnten gehen.

Allmählich kamen sie wieder zu sich. Die meisten liefen in ihren wehenden weißen Gewändern ins Zentrum von Carrolshire, suchten nach einer Rückfahrgelegenheit und verängstigten die Einheimischen.

*

Es kam mir vor, als ob Tage vergangen wären, seit meine Freunde und ich morgens nach Carrolshire aufgebrochen waren, dabei war es jetzt gerade mal früher Abend. Die Sonne stand tief am Himmel. Die Hitze des brennenden Hotels durchdrang die kühle Oktoberluft wie ein gewaltiges Lagerfeuer.

Meine Mom legte mir die Hände auf die Schultern.

»Was du da drinnen getan hast, war wirklich mutig«, sagte sie. »Wir sind so stolz auf dich, stolzer geht es gar nicht.«

»Ach, so eine große Sache war das doch gar nicht«, sagte ich. »Wenn Dad sich nicht so super an Vex angeschlichen hätte, wären wir jetzt bestimmt alle tot.«

Dad zwirbelte am Ärmel seines Gewands herum und schaute weg. Ich sah seinem Gesicht den Konflikt an, in dem er steckte. Jahrelang hatte er Phineas Vex bewundert. Und jetzt lag genau dieser Vex unter den rauchenden Trümmern, dort, wo einmal das Hotel gestanden hatte. Das war nur ein weiteres verwirrendes Ereignis an diesem Tag voller verwirrender Ereignisse. In den letzten vierundzwanzig Stunden waren meine Eltern von Rauch-Gestalten angegriffen, in das verlassene Hotel teleportiert, wie Riesenbabys angezogen und von ihrem größten Widersacher gerettet worden.

Es war wirklich ein ziemlich merkwürdiger Tag gewesen.

»Ich bin einfach nur im richtigen Moment nach vorn getreten«, sagte Dad leise zu mir. »Das Entscheidende aber hast du geschafft.«

Ich schaute zurück auf das brennende Gebäude, aus dem wir nur knapp entkommen waren. »Ich weiß nicht mal, was ich gemacht habe. Irgendwas ist da drinnen passiert. So was wie dort hab ich noch nie getan. Es war wie …« Ich suchte nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, was geschehen war. Die Lichtwelle, die aus meinen Fingerspitzen geschossen war, die Zeit, die stillgestanden hatte. »Es war, als hätte meine Superkraft die Macht übernommen.«

»Erinnerst du dich, was wir dir gesagt haben? An dem Abend, als wir dir erzählt haben, dass du BEGNADET bist?« Die Glut des nahen Feuers warf zuckende Schatten über Moms Gesicht. »Wir haben dir erklärt, dass dein BEGNADETSEIN alles in den Schatten stellt, was wir je erlebt haben. Du besitzt eine ganz außergewöhnliche Superkraft, Joshua. Aber diese Kraft ist explosiv. Es kann Zeiten geben, in denen du das Gefühl hast, sie nicht kontrollieren zu können, und es fast so scheint, als ob –«

»Als ob sie mich kontrolliert?«, fragte ich.

Mom nickte und sah mich dabei mit festem Blick an.

Ich schaute weg und betrachtete den Kies vor meinen Füßen.

»Kopf hoch, mein Junge«, sagte Dad und stieß mir gegen die Schulter. »Du warst unsere Rettung, hast du das schon vergessen? Ohne dich lägen wir wahrscheinlich alle da drunter begraben.« Er zeigte auf den Haufen brennender Trümmer. »Du solltest stolz auf dich sein.«

Egal, was er sagte, ich spürte noch immer eine gewisse Unsicherheit. Was würde das nächste Mal passieren, wenn ich die Kontrolle über meine Superkraft verlor, oder das übernächste Mal?

Erst als ich ein paar Minuten später Sophie und Milton in der Menge entdeckte, besserte sich meine Stimmung. Die beiden drängten sich zwischen ein paar Feuerwehrleuten hindurch und kamen auf uns zu.

»Hallo Milton«, sagte Dad.

Milton starrte meine Eltern an, als ob er plötzlich zu sprechen verlernt hätte. Die ganze Zeit hatte er sie als meine Mom und mein Dad gekannt – zwei normale Erwachsene, die ein Stück weiter die Straße entlang wohnten. Und jetzt war es plötzlich das Schreck-Duo, das vor ihm stand. Wahrscheinlich half es auch nicht sehr, dass sie beide noch immer diese weißen Gewänder trugen.

»Das ist sicher ein Schock für dich«, sagte Mom. »Wir hätten es dir gern früher gesagt, aber, na ja, Geheimhaltung ist ein notwendiger Teil unserer Arbeit.«

»Äh – ja, schon gut«, stammelte Milton. »Zumindest weiß ich jetzt, wieso Joshua mich noch nie zu sich nach Hause eingeladen hat.«

Mom und Dad mussten beide lachen. Doch ihr Lachen erstarb, als sie Sophie erkannten. Dad starrte sie an wie sonst die Mikroorganismen, die er in seinem Labor untersuchte. Mom verschränkte die Arme und gab das perfekte Bild einer strengen Professorin ab.

»Mom, Dad«, sagte ich, »das ist Sophie – Sophie Saubermann. Sie ist meine – äh, meine Projektpartnerin … für ein Schulreferat.« Ich schaute zwischen meinen Eltern und ihr hin und her. »Und meine Freundin.«

Meine Eltern betrachteten Sophie noch ein Weilchen auf diese abweisende Art, erst dann zeigte sich endlich ein höfliches Lächeln auf ihrem Gesicht. Ich nehme an, nach all dem, was sie in den letzten vierundzwanzig Stunden durchgemacht hatten, konnte sie einfach nichts mehr so richtig schockieren. Sie reichten Sophie die Hand. Und ich schaute zu und hoffte, dass sie nichts allzu Peinliches oder Lebensbedrohliches tun würden.

»Schön, dich kennenzulernen, Sophie«, sagte mein Dad.

»Du hast da drinnen wirklich sehr gute Arbeit geleistet«, fügte Mom hinzu und schaute von Sophie zu Milton. »Ihr beide. Wir können euch gar nicht genug dafür danken, dass ihr gekommen seid, um uns zu retten.«

»Ich bin nur froh, dass alle heil rausgekommen sind«, sagte Sophie. »Und Sie hätten mal Joshua sehen sollen. Wie er sich da drinnen Vex entgegengestellt hat. Sie wären beeindruckt gewesen.«

Ich spürte, wie meine Eltern mich voller Stolz ansahen. Aus dem Augenwinkel sah ich Sophie, wie sie lächelte.

»Tja«, sagte Dad. »Ich glaube, wir sollten mal schauen, ob wir dem einen oder andern unserer … äh … Kollegen helfen können. Einige von ihnen scheinen noch ein bisschen Schwierigkeiten zu haben, aus ihrem komatösen Zustand herauszukommen.«

Er zeigte auf zwei weiß gewandete Superschurken, die versuchten, mit einem Telefonmast Streit anzufangen.

»Riechst du meine Faust, du vertrottelter Gutmensch?«, sagte der eine zu dem Mast. Der andere probierte einen Karateschlag und fiel hin.

Sobald meine Eltern weg waren, um den verwirrten Schurken zu helfen, drehte ich mich zu Milton um. »Du hast mir da drinnen das Leben gerettet. Du bist wirklich ein Superheld.«

Milton zuckte die Schultern, als ob es keine große Sache gewesen wäre, doch ich sah an seinem Lächeln, wie sehr er sich über das Kompliment freute.

Inzwischen war das Hotel Meeresblick nur noch eine schwelende Grube. Feuerwehrleute spritzten Löschwasser auf die letzten verbliebenen Glutnester.

»Habt ihr eine Ahnung, was mit dem Auto von meinem Dad passiert ist?«, fragte Sophie.

»Wie meinst du das? Das steht doch gleich –« Ich zeigte auf die Stelle, wo das rote Cabrio gestanden hatte, als wir ankamen. Stattdessen war da aber jetzt bloß noch ein riesiger Krater. Der einzige Beweis, dass der Wagen tatsächlich dort gestanden hatte, war ein verrußtes Nummernschild, das in der Nähe lag. Es war in zwei Teile zerbrochen. Auf dem einen stand SAUBER, auf dem anderen MANN.

»Der Wagen von deinem Dad«, stotterte Milton, »ist explodiert?«

»Offensichtlich.« Sophie kratzte sich am Kopf und starrte mit fragendem Blick auf den Krater.

Plötzlich fiel mir die Rakete ein, die wir versehentlich gezündet hatten, als wir wie wild nach der richtigen App auf dem Smartphone suchten. Die Rakete konnte durchaus so einen Krater verursacht haben.

»Keine Ahnung, wie das passiert sein könnte«, sagte ich.  

»Na ja, egal, mein Dad hat schon zu Hause angerufen und Stanley umprogrammiert, damit er kommen und uns mit dem SUV abholen kann. Und …« Sophie machte eine Pause. »Und er lässt dich und deine Eltern fragen, ob ihr nicht mitfahren wollt.«

Ich starrte Sophie an und konnte kaum glauben, was ich da gerade gehört hatte. »Du meinst, meine Eltern sollen mit deinem Dad eine Fahrgemeinschaft bilden?«

»Nach dem, was sie durchgemacht haben, muss es doch eine Qual sein, die ganze Strecke auf Flugrollern zurückzulegen. Vor allem mit dem, was sie anhaben.« Sophie deutete auf meine Eltern in ihren wehenden Gewändern. »Ich wette, der Wind ist heute Nacht ziemlich frisch. Außerdem müssen wir doch sowieso alle in dieselbe Richtung.«

Ich wusste nicht, was meine Eltern davon halten würden, bei ihrem größten Feind mitzufahren.

Andererseits war es sicher nicht schlecht, in dem SUV nach Hause zu fahren.

Joshua Schreck: Fischer. Nur für Jungs
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