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Wenn dir ein tödlicher Kampf bevorsteht, sorge dafür, dass du ihn vor laufender Kamera führst.
Milton drängte sich noch dichter an mich, um besser sehen zu können. Seit ich ihn kannte, war er von Superhelden und Superschurken besessen, aber ganz besonders von Captain Saubermann. Milton hatte Poster von ihm in seinem Zimmer hängen und besaß sämtliche Tauschbilder von Captain Saubermann. Die einzigen Cornflakes, die Milton aß, waren die Fantastischen Feuer-Flakes (gesponsert von Captain Saubermann).
Und jetzt schwebte Captain Saubermann direkt vor dem Busfenster.
»Das sind doch Dr. Schreck und die Botanikerin.« Die Stimme von Captain Saubermann hallte durch das Zentrum von Sheepsdale. »Wie unschön, euch wiederzusehen.«
Meine Eltern starrten ihn wütend an.
»Wie hat er das geschafft, so schnell hier zu sein?«, murmelte Dad meiner Mom zu.
Dads Hand glitt in Richtung seiner Taille, die Finger fuhren über eine kleine graue Box, die an seinem Gürtel hing. Die Kontrollbox des Wetter-Veränderers. Sie hatte einen Knopf, der einen totalen Wetterzusammenbruch auslösen und die ganze Erde in wenigen Sekunden auslöschen konnte – oder zumindest alles außerhalb des Wirbels der Stille. Und niemand, nicht mal Captain Saubermann, konnte das verhindern.
»Ihr seid wirklich ein übles Paar«, sagte Captain Saubermann. »Die Erde fluten. Journalisten terrorisieren. Einen Bus mit unschuldigen Kindern als Geisel nehmen. Gibt es eigentlich nichts, was dem Schreck-Duo zu niederträchtig und abstoßend ist?«
Mein Dad warf einen Blick auf unseren Schulbus, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Wir haben die Kinder nicht als Geiseln genommen!«
»Ruhe! Ich bin nicht gekommen, um mir eure jämmerlichen Entschuldigungen anzuhören.« Captain Saubermann wandte sich zu unserem Bus um. »Fürchtet euch nicht, meine lieben Kinder! Captain Saubermann ist da, um euch aus den Fängen eurer schändlichen Feinde zu retten!«
Und schon schoss er aus der Luft herab und packte das Dach des Busses. Ein Ächzen und Knarren erfüllte die Luft, als er den oberen Teil des Busses einfach abriss. Einige Kinder schrien. Milton machte mit seinem Handy blitzschnell ein Foto.
»Nun seid ihr frei!«, sagte Captain Saubermann und hielt die obere Hälfte des Busses mit einer Hand über seinem Kopf, als ob es nichts wäre. »Eure Gefangenschaft in diesem Todesbus ist zu Ende!«
Meine Klassenkameraden klebten sprachlos an ihren Sitzen.
»Geht nur«, drängte Captain Saubermann. »Ihr seid alle frei.«
»Captain Saubermann?«, fragte ein Mädchen ein paar Reihen vor mir.
»Was gibt es, meine Kleine?«
»Der Busfahrer hat gesagt, es ist zu gefährlich für uns, den Wirbel der Stille zu Fuß zu verlassen. Wegen des Unwetters und so.«
Captain Saubermann warf einen Blick auf die obere Hälfte des Busses, so als überlegte er, ob er sie wieder anschrauben sollte.
»Seid unbesorgt«, antwortete er. »Captain Saubermann wird einen Weg finden, euch alle wohlbehalten nach Hause zu bringen.«
Er zuckte die Achseln und warf das Dach des Busses wie ein zusammengeknülltes Stück Papier über die Schulter. Das riesige Blechteil krachte in das Postamt und zerstörte die gesamte Vorderseite des Gebäudes.
Ich beobachtete meinen Dad mit wachsender Furcht. Er wirkte panisch, als sei er kurz davor, den Knopf für den totalen Wetterzusammenbruch zu drücken. Vor allem wünschte ich, meine Eltern hätten sich diesen bescheuerten Plan gar nicht erst ausgedacht. Was sollten wir überhaupt mit einem Privatjet voller Hundert-Dollar-Scheine? Unsere Auffahrt war doch gerade groß genug für unseren alten Volvo.
Ich dachte kurz daran, meine Eltern zu rufen. Vielleicht konnte ich sie ja überzeugen, ihr Vorhaben aufzugeben und alle freizulassen. Aber was, wenn plötzlich jemand begriff, dass ich mit ihnen verwandt war? Was, wenn alle in der Schule herausfanden, dass ich der Sohn des Schreck-Duos war?
Bei genauerer Betrachtung war ich vielleicht besser dran, wenn ich das Risiko eines Weltuntergangs einging.
Das Unwetter wurde immer schlimmer. Die grauen Wolkenmassen, die sich am Himmel zusammenbrauten, waren inzwischen pechschwarz. Regen peitschte gegen die Wände der Häuser. Der Sturm riss Straßenschilder aus dem Boden. Aber im Umkreis von fünfzehn Metern um unseren Bus herum war alles vollkommen ruhig.
Captain Saubermann hatte sich von meinen Eltern abgewandt, schwebte jetzt drei Meter über dem Boden und posierte für die Fotografen. Er lächelte in die Menge der Journalisten und ließ vor den Kameras seine Muskeln spielen.
Der Finger meines Dads schob sich immer dichter an den Vernichtungs-Knopf heran. Als er zu uns herübersah, drückte ich mich noch tiefer in meinen Sitz. Für den Bruchteil einer Sekunde verweilte sein Blick auf dem Bus, dann schüttelte er den Kopf und zog seine Hand von dem Knopf weg. Er fasste nach einem anderen Gegenstand an seinem Gürtel. Nach dem Plasma-Revolver.
»Hey, Captain Saubermann«, sagte er und zog den Revolver aus dem Halfter. »Noch ein Schnappschuss gefällig?«
Er zielte und drückte ab. Ein roter Strahl flammte aus dem Revolverlauf.
Captain Saubermann wirbelte herum und schrie: »Schild der Ehre aktivieren!« Und in seiner Hand nahm plötzlich ein strahlend blauer Schild Gestalt an. Der Schild schien gleichzeitig wirklich und unwirklich, als ob aus Captain Saubermanns Ärmel ein Hologramm aufgetaucht wäre. Der Plasmastrahl wurde vom Schild zurückgeworfen und traf Moms Flugroller. Sie stürzte zu Boden.
Dad flog gerade hinüber, um ihr zu helfen, als Captain Saubermann die andere Hand hob. »Netz der Wahrheit auswerfen!«
Ein weiteres blaues Hologramm trat aus seinem Ärmel hervor. Diesmal sah es aus wie ein Netz, das über uns hinwegflog und gegen meinen Vater prallte. Er stürzte samt Roller in ein Gebüsch.
»Habt ihr das gesehen, Kinder?«, fragte Captain Saubermann und schwebte näher an unseren Schulbus heran. »Das soll euch nur zeigen, dass Wahrheit und Ehre stets den Sieg davontragen. Und mich erinnert es daran, wie ich einmal im Alleingang den Gräuelator und seine ganze Mutanten-Armee besiegt habe. Sie hatten mich umzingelt, doch es gelang mir – UFF!«
Die Stimme von Captain Saubermann war plötzlich verstummt, als sich die Äste eines nahen Baumes um seine Taille legten. Bevor er sich dem Griff entziehen konnte, schleuderte der Baum ihn mit seinen Ästen in die Luft, als ob er ein Football in Superheldengestalt wäre. Er flog über unseren Bus und an dem Pulk von Journalisten vorbei, ehe er in das chinesische Restaurant an der Ecke krachte.
Sicher findet es manch einer von euch ein bisschen ungewöhnlich, dass Pflanzen solche Angriffe loslassen. Aber wenn deine Mom jede Art von Vegetation auf der Erde steuern kann, gewöhnst du dich dran.
Dad befreite sich aus dem Hologramm-Netz und schoss mit seinem Flugroller über die Kreuzung. Am anderen Ende lag Captain Saubermann in einem Haufen aus Schutt und Frühlingsrollen. Dad zielte mit seinem Plasma-Revolver auf ihn und schoss.
ZAAAAP!
Alle um mich herum stöhnten erst auf und jubelten dann, als Captain Saubermann sich seitlich wegduckte. Der Plasmastrahl ging über seine Schulter und setzte eine Kiste mit Glückskeksen in Brand.
Sofort war Captain Saubermann wieder auf den Beinen.
»Lanze der Freiheit ausfahren!« Seine Stimme donnerte durch das Zentrum von Sheepsdale, als er die Hologrammlanze in die Luft reckte.
Dad wich zur Seite aus, und die Lanze schrammte an seinem Metallgürtel entlang und ließ dabei Funken sprühen.
In diesem Moment geschah plötzlich eine erstaunliche Veränderung um mich herum. Der Himmel wechselte von Dunkelgrau zu Hellblau. Der Regen, der außerhalb des Wirbels der Stille niedergeprasselt war, verzog sich. Und die Sonne spiegelte sich in den Pfützen der umliegenden Straßen.
Es war wieder ein ganz normaler sonniger Nachmittag im Zentrum von Sheepsdale.
Dad warf einen Blick zum Himmel. Enttäuschung und Wut zeichneten sich auf seinem Gesicht ab. »Verflucht seist du, Captain Saubermann! Du hast die Fernbedienung des Wetter-Veränderers kaputt gemacht. Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um sie zu bauen!«
Captain Saubermann wirkte genauso überrascht wie meine Eltern. »Das – ähm … war genau meine Absicht.« Er streckte seine Brust heraus, als sein strahlendes Lächeln zurückkehrte.
Dad lag noch immer am Boden und hielt sich das Fußgelenk. Doch plötzlich, als sich Captain Saubermann einen gewaltigen Brocken der Mauer schnappte, die einmal zu dem chinesischen Restaurant gehört hatte, verwandelte sich sein Gesichtsausdruck von Wut in Angst.
»Und um dich endgültig zur Strecke zu bringen …« Captain Saubermann hob das Mauerstück über seinen Kopf und zielte.
»HALT!«
Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass ich es war, der das gerade geschrien hatte. Alle im Bus drehten sich zu mir um. Ich konnte nur hoffen, dass mein Gesicht nicht so rot angelaufen war, wie es sich anfühlte.
»Ja, mein Junge?« Captain Saubermann grinste mich an und wartete, dass ich etwas sagte.
In meinem Kopf drehte sich alles. Ich hatte nur geschrien, um ihn davon abzuhalten, meine Eltern zu töten – über das, was ich danach sagen wollte, hatte ich nicht groß nachgedacht.
Ich erhaschte einen Blick auf meinen Dad, der am Boden lag. Ein Funke des Wiedererkennens zuckte durch sein Gesicht. Es war, als ob er sich nicht entscheiden könnte, mir zum Gruß zuzuwinken oder um Gnade zu flehen. Alle sahen mich an – Captain Saubermann, meine Eltern, Dutzende von Reportern. Ich schirmte meine Augen vor dem grellen Licht der aufblitzenden Kameras ab, dann räusperte ich mich.
»Ähm … könnte ich –« Ich kam ins Stottern und musste noch einmal von vorn anfangen. »Könnte ich vielleicht ein Foto von Ihnen machen?«
»Ach so, ja gut.« Captain Saubermann grinste. »Von mir aus. Mach schnell ein Foto.«
Der Superheld schwebte in Positur, strich sich mit einer Hand die Haare glatt und balancierte mit der andern das Mauerstück über seinem Kopf.
Die Ablenkung reichte Dad, um seinen Plasma-Revolver zu ziehen. Der rote Lichtstrahl ließ die Mauer in Millionen kleine Teile zerspringen.
Captain Saubermann hielt sich die Hände vor die Augen, als der Staub der zerstörten Mauer ihn einhüllte. Dad richtete jetzt seinen Plasma-Revolver auf die Brust von Captain Saubermann.
»Nein!«, schrie ich.
Ich sah das Zögern in Dads Gesicht. Sein größter Feind schwebte, blind vom Staub, vor ihm. Er musste einfach nur abdrücken. Dad schaute von Captain Saubermann zu mir. Seufzend schnappte er sich seinen Flugroller und schwebte dorthin, wo meine Mom lag. Nachdem er ihr aufgeholfen hatte, wandte er sich noch einmal um und warf Captain Saubermann einen letzten verächtlichen Blick zu. Dann schwebten meine Eltern zusammen in die Luft. Und im nächsten Moment waren sie auch schon verschwunden.
Als Captain Saubermann wieder sehen konnte, flog er auf uns zu und streifte sich Staub und Mauerreste aus den Haaren.
»Ein weiterer schändlicher Anschlag wurde von Captain Saubermann vereitelt!«, sagte er unter den wilden Freudenschreien der Schüler und Reporter. »Aber wir müssen wachsam bleiben. Denn wir können nicht wissen, wann das Böse erneut zuschlägt. Doch eines ist sicher. Wenn ihr so super werden wollt wie ich, dann vergesst nicht, jeden Morgen eure Fantastischen Feuer-Flakes zu essen. Mit acht wichtigen Vitaminen und allen Nährstoffen für den richtigen Start in den Tag!«
Und danach schwebte er empor und verschwand im wolkenlosen blauen Himmel.