16

Einen Superhelden in echt zu treffen, kann eine unvergessliche Erfahrung sein.




Die Hände von Captain Saubermann wurden von mechanischen Hebeln festgehalten. Seine Füße waren an rotierende Pedale angeschlossen. Gefährlich aussehende Roboterarme umfassten ihn an Hüfte und Hals.

Erst jetzt begriff ich, dass Captain Saubermann nicht gefoltert wurde. Er trainierte.

Die Maschine bewegte sich um ihn herum, ein surrender Bienenstock wirbelnder silberner Objekte. Captain Saubermanns Beine schwangen auf den rotierenden Pedalen vor und zurück, während er gleichzeitig mit den Armen Hanteln stemmte. Und als ob das nicht reichte, hing er auch noch in Gurten, die bestimmte Teile seines Körpers in verschiedene Yoga-Stellungen streckten, zogen und beugten.

Milton rang nach Luft. Er war im selben Raum wie sein großer Held. Und sein großer Held schien die grausigsten Trainingsübungen zu machen, die wir je gesehen hatten.

»Hi, Dad«, sagte Sophie und ging durch den Raum.

»Hallo, Tochter!«, brachte Captain Saubermann zwischen zwei Atemstößen heraus.

»Wie läuft’s?«

»Großartig! Das Labor hat gerade letzte Woche diese Maschine entwickelt, und sie ist phantastisch effizient. Sie erlaubt es mir, all diese verschiedenen Übungen gleichzeitig zu machen. In nur fünfzehn Minuten!«

Ich beobachtete in ehrfurchtsvollem Schweigen, wie Captain Saubermann joggte, Gewichte stemmte und Liegestütze machte, alles parallel.

»Das sind meine Freunde.« Sophie nickte in die Richtung von uns beiden. »Milton und Joshua.«

Eine Panikattacke flammte in meiner Brust auf. Was, wenn Captain Saubermann mich als den Sohn des Schreck-Duos erkannte? Wenn er meine Eltern in Sheepsdale aufgespürt hatte, konnte er doch auch über mich Bescheid wissen.

Aber Captain Saubermann schien mich nicht zu bemerken – oder überhaupt irgendetwas außerhalb seiner Trainingsmaschine. »Seid gegrüßt, Kinder aus Sheepsdale!«, sagte er nur. Er drehte sein Gesicht zur Seite und lächelte uns an, doch schon packte die Maschine seinen Nacken und riss ihn in eine neue Position.

»H-hallo, Captain Saubermann«, sagte Milton nervös. »I-ich wollte nur sagen, dass es mir e-eine Ehre … und s-sehr aufregend ist, Sie hier und heute z-zu treffen.«

Seine Hand zitterte. Milton fasste in seinen Rucksack – oder in das, was davon übrig war. Der Raufbold mit dem Feuerhintern hatte ein ziemlich großes Stück herausgebissen. Milton zog aus dem Chaos zerfetzter Unterlagen und Bücher eine Zeitschrift hervor, die noch weitgehend in Ordnung zu sein schien. Ich schaute kurz auf die Titelseite und erkannte sofort die schrillen Farben und großen Überschriften. Es war die neueste Ausgabe von Superknüller.

Milton trat einen Schritt nach vorn und hielt die Zeitschrift eng an die Brust gedrückt. Captain Saubermann keuchte, joggte, stemmte und beugte weiter.

»Ähm … Mr – ich meine, Captain Saubermann«, begann Milton. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir vielleicht, nur wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht … ein Autogramm geben könnten.«

»Aber sicher doch!«

Milton streckte ihm mit der einen Hand die Zeitschrift entgegen, in der anderen hielt er bereits einen Stift. Ein mechanischer Arm schwang aus der Trainingsmaschine und griff nach dem Stift. Dann kritzelte der Arm etwas mit einer schnellen roboterhaften Bewegung auf das Cover.

»Seht ihr, was ich meine?«, sagte Captain Saubermann, als die Maschine für ihn das Autogramm gab. »Das erhöht deutlich meine Effizienz!«

Als die Maschine mit dem Signieren fertig war, versuchte sie Milton den Stift zurückzugeben, auch wenn es eher so aussah, als ob sie beabsichtige, ihm ins Gesicht zu stechen. Milton duckte sich gerade noch rechtzeitig. Der Stift fiel auf den Boden. Captain Saubermann fuhr unbeirrt mit seinen Übungen fort.

»Wow!«, stieß Milton hervor. »Vielen Dank, Captain Saubermann!«

»Keine Ursache, Marlon! Glaub nur einfach nicht alles, was du in dieser Zeitschrift liest.« Captain Saubermann nickte in Richtung der Superknüller-Ausgabe. Im nächsten Moment drückte ihn die Maschine in eine neue Folterlage. »Vor ein paar Wochen haben sie behauptet, ich hätte eine heimliche Affäre mit Scarlett Flamme, nur weil uns ein paar Paparazzi fünf Minuten vor dem Büro meines Agenten haben stehen sehen. Andererseits ist Superknüller eine fantastische Werbeplattform. Mein Business-Manager hat mir gesagt, dass die Zeitschrift eine durchschnittliche Leserrate von mehr als –«

»Das ist toll, Dad«, unterbrach ihn Sophie. »Ich wollte den beiden schnell noch den Rest des Hauses zeigen.«

»Natürlich, mein Schatz«, sagte Captain Saubermann. »Macht euch einen schönen Nachmittag.«

Milton hätte natürlich gern so lange wie möglich an Captain Saubermanns Seite verbracht, aber Sophie geleitete uns schon aus dem Raum. Sie führte uns durch einen Türbogen hinaus, einen weiterten Flur entlang und an seinem Ende eine Wendeltreppe hinauf.

»Das glaube ich nicht«, flüsterte mir Milton zu, während wir die Treppe hochstiegen. »Captain Saubermann hat mir ein Autogramm gegeben!«

»Na ja, genau genommen ist es das Autogramm seiner Trainingsmaschine«, antwortete ich.

»Ich weiß. Aber das ist der Wahnsinn!« Er hielt sich die Zeitschrift vor die Nase und bewunderte das noch frische Autogramm. Plötzlich blieb ich stehen, als mein Blick von dem Autogramm zur rechten unteren Ecke des Covers wanderte. Dort sah ich das Foto einer Rauch-Gestalt. Daneben fett gedruckt die Überschrift:

WEITERE SCHURKEN VERMISST

Meine Brust schnürte sich zu. Ich starrte auf das Foto der Rauch-Gestalt. Die Aufnahme war dunkel und etwas unscharf, doch sie zeigte eindeutig das gleiche Ding, das auf der Schandmesse angegriffen hatte.

Auch auf allen Websites der Super-Gemeinde wurde das Thema diskutiert. Es hatte nach der Schandmesse noch Dutzende weitere Angriffe von Rauch-Gestalten gegeben. Sie erschienen bei Superschurken zu Hause oder störten sie mitten in ihren üblen Verschwörungen. Und jedes Mal passierte das Gleiche. Der Rauch umschloss das Opfer. Ein Blitzschlag erhellte die Wolke. Und dann – weg.

Plötzlich war mir, als ob jemand den Thermostat in Sophies Haus um zwanzig Grad runtergedreht hätte. Ich musste unweigerlich an meine Eltern denken. Sie waren kurz davor, herauszufinden, wer die Kontrolle über die Dinger hatte. Aber was, wenn der Rauch sie vorher erwischte?

»Kommst du?«, hallte Sophies Stimme die Marmortreppe hinab. Sie und Milton waren schon oben und schauten zu mir herunter.

Ich gab mir Mühe, den Kloß in meinem Hals wieder runterzuschlucken, und folgte ihnen.

Sophie führte uns einen weiteren gewundenen Flur entlang und durch riesige Zimmer, in denen sich unausgepackte Umzugskartons stapelten. Am Ende des langen Flurs stieß Sophie eine Tür auf, die in ihr eigenes Zimmer führte.

Wenn man bedachte, wie riesig das ganze Haus war, wirkte ihr Zimmer nicht sonderlich groß. In der Ecke stand ein Schreibtisch, auf dem sich Papiere und Bücher stapelten. Über einem Stuhl in der Nähe lag eine Jeans. An den Wänden hingen gerahmte Fotos von schneebedeckten Bäumen, von gewaltigen Felsformationen, die sich an einem Strand erhoben, und einem alten Haus aus Sandstein mit zugenagelten Fenstern.

Milton untersuchte sofort eines der Fotos – eine Nahaufnahme von einem Streifen Wiese mit mehreren Häusern im Hintergrund.

»Gab’s die Fotos gleich so, also, ich meine, mit Rahmen?«, fragte er.

Sophie sah ihn beleidigt an.

»Nein«, sagte sie.

»Oh. Weil die echt gut sind. Ich dachte, das sind bestimmt Profi-Fotos.«

Der beleidigte Blick in Sophies Gesicht verschwand. »Ich hab die Fotos gemacht«, erklärte sie. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, ihre Superkraft würde sich wieder bemerkbar machen. Aber diesmal glühte sie nicht, sondern wurde nur rot.

»Wow! Du hast die gemacht?« Milton wirkte sichtlich beeindruckt. »Echt cool. Immer, wenn ich irgendwas fotografiere, sind die Bilder entweder zu dunkel oder verschwommen oder die Leute haben total rote Augen. Aber die hier sind stark.«

»Ich hab eine ziemlich gute Kamera und ein sehr gutes Objektiv. Daher der Unterschied. Und meine Mom war Profi-Fotografin. Deshalb …«

Sophies Stimme verlor sich. Es war das erste Mal, dass sie ihre Mom erwähnt hatte.

»Das da hab ich erst vor ein paar Wochen gemacht«, sagte sie und zeigte auf das Foto mit dem Gras und den Häusern. »Das war an dem Tag, als wir nach Sheepsdale zogen. Mein Dad war den ganzen Tag in Sitzungen, deshalb hat mich Stanley mit der Kamera in den Park gefahren.«

Die Erinnerung brachte wieder ein Lächeln in Sophies Gesicht. Ich hatte den Eindruck, dass sie oft lächelte, wenn es um Fotografie ging.

Wir setzten uns an Sophies Schreibtisch, um an unserem Projekt zu arbeiten.

»Wird schwer werden, das zu erklären.« Milton zog die Reste unseres Geschichtsbuchs aus seinem zerfetzten Rucksack. Der Buchdeckel war komplett abgerissen und die Hälfte der Seiten übel zugerichtet. Sein Schreibblock war in einem noch schlimmeren Zustand. »Meint ihr, die Lehrer werden mir glauben, wenn ich ihnen sage, ein Raufbold mit Feuerhintern hat meine Hausaufgaben gefressen?«

»Ich hab noch ein Exemplar von dem Buch«, sagte Sophie. »Steht in der Bibliothek.«

»Ich hol’s«, sagte ich.

»Bist du sicher? Dieses Haus kann einem manchmal wie ein Labyrinth vorkommen.«

»Ich weiß trotzdem noch genau, wo die Bibliothek war.«

Sophie schaute noch immer skeptisch, doch ich war schon aufgestanden und halb durchs Zimmer. Eigentlich suchte ich nur nach einer Ausrede, um mich ein bisschen allein umzuschauen. Da ich bei Superschurken aufgewachsen war, hatte ich mich seit jeher gefragt, wie es wohl bei einem Superhelden zu Hause aussah. Bis jetzt wusste ich nur, dass alles viel – viel – größer war.

»Geh am Ende des Flurs einfach nach links, dann bei der nächsten Gelegenheit nach rechts, durch einen Raum, in dem ein Marmorhund neben einem riesigen Kamin steht, von dort in einen weiteren Flur, und da nimmst du die dritte Tür rechts«, erklärte mir Sophie den Weg. »Hast du verstanden?«

Ich nickte und versuchte, mir ihre Angaben einzuprägen. Links, rechts, Marmorhund, Flur, dritte Tür rechts. Kein Problem.

Glaubte ich jedenfalls. Aber ich war noch keine Minute unterwegs, da hatte ich mich schon verlaufen. Nachdem ich von einem Zimmer ins nächste geirrt war, landete ich schließlich vor einer Wand, die vollständig mit Fernsehern bedeckt war. Jeder zeigte ein anderes Bild: eine ganz gewöhnliche Szene – eine Straße, ein Bordstein oder Park.

Ich stand wie hypnotisiert davor. Auf dem Bildschirm direkt vor mir war ein Mann zu sehen, der seinen Hund auf einem Gehweg Gassi führte, offenbar ohne zu wissen, dass er beobachtet wurde. Der Hund schnupperte an einem Busch, dann kratzte er sich. Auch sein Besitzer fing plötzlich an sich zu kratzen.

Es war genau, wie die Cafeteria Girls gesagt hatten. Auf jedem Fernseher lief ein Überwachungsvideo. Ich schaute zu, wie sich der Mann und der Hund weiter kratzten.

Und plötzlich hörte ich Geräusche von jemandem, der in den Raum nebenan trat. Schritte. Dann eine Stimme.

Ich spähte um die Ecke und sah Captain Saubermann, der an der anderen Seite des Zimmers stand. Er schaute in die mir entgegengesetzte Richtung, hatte noch immer seine silberne Trainingskluft an und unterhielt sich mit einem riesigen abgetrennten Kopf.

Joshua Schreck: Fischer. Nur für Jungs
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