20
Der Unterschied zwischen Gut und Böse ist oft weniger groß, als du denkst.
ophie schnappte nach Luft. Aber das Ganze war vollkommen einleuchtend. Das, was Captain Saubermann mit den Rauch-Gestalten gemeinsam hatte, war eindeutig der Versuch, die Welt von allen Superschurken zu befreien.
Die ganze Zeit hatte Captain Saubermann hinter dem Plan gesteckt, Superschurken zu entführen.
Sophie und Milton davon zu überzeugen, war natürlich nicht so einfach. Milton schüttelte ungläubig den Kopf. »Niemals«, sagte er. »Captain Saubermann kämpft nur persönlich gegen Schurken. Er lässt nicht irgendwelche Rauch-Monster für ihn die Arbeit erledigen.«
»Das war, bevor er diese geheime neue Strategie begonnen hat«, erklärte ich.
Milton sah mich fragend an. »Was für eine geheime neue Strategie?«
»Ich hab ihn vorhin bei einer holographischen Konferenz belauscht –«
»Moment mal«, sagte Sophie. »Du hast meinen Dad belauscht?«
»Nein, ich – das war Zufall.«
Sophie nahm mir diese Entschuldigung nicht ab. Sie starrte mich an, als hätte sie gerade eine neue eklige Warze auf meinem Gesicht entdeckt.
»Deshalb wolltest du also das Buch holen«, sagte sie. »Damit du die Chance hattest, durchs Haus zu schleichen. Hast du für deine Eltern spioniert? Hast du versucht, Insider-Informationen zu bekommen, die deinen Eltern helfen würden, Captain Saubermann zu besiegen?«
»Natürlich nicht! So was würde ich doch nie tun! Ich meine, klar … ich war ein bisschen neugierig, aber –«
Sophie stieß ein ungläubiges Lachen aus und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hör zu, entscheidend ist doch, dass er von einem geheimen Projekt sprach«, sagte ich. »Von irgendeiner aggressiven neuen Strategie. Damit muss er die Rauch-Gestalten gemeint haben, die Superschurken verschleppen …«
»Aber …« Milton zog die Stirn in Falten. »Das klingt einfach nicht nach ihm.«
»Was ist mit dem Artikel in Superknüller, den du mir gezeigt hast? Mit dem Transport von Roboterteilen nach Sheepsdale?«
»Ja, und?«
»Das heißt, die Teile müssen an Captain Saubermann geliefert worden sein. Für die Nanowesen.«
Milton schaute zurück auf die andere Seite des Parkplatzes. Captain Saubermann schrieb Autogramme für die wartende Menge.
»Ich glaube, irgendwie könnte ich ihn sogar verstehen, falls er das tut«, sagte er. »Ich meine, er fängt ja trotzdem noch gefährliche Typen. Es ist nur eine andere Methode.«
»Genau«, sagte ich.
Aber so leicht wie Milton war Sophie nicht umzustimmen. Sie verschränkte weiter die Arme und starrte mich an, als ob sie sauer wäre, dass ich überhaupt in Erwägung zog, ihr Dad könnte hinter allem stecken.
»Er kann es nicht sein«, beharrte sie. »Was ist denn mit den Raufbolden mit Feuerhintern? Wer immer die Dinger gesteuert hat, hatte doch auch was mit diesen Rauch-Gestalten zu tun, stimmt’s? Und falls du’s vergessen hast, ich war dort, als uns die Raufbolde angriffen.«
»Vielleicht wusste er nicht, dass du mit uns zusammen warst?«, sagte ich. »Ich bin doch der mit den Superschurken als Eltern. Wahrscheinlich hat er angenommen, ich bin allein.«
»Seit wann greift mein Dad die Familie eines Superschurken an? Und außerdem würde er niemals Roboter für ihn die Arbeit erledigen lassen.«
»Und was ist mit Stanley? Du hast sogar einen Roboter, der dich in der Stadt rumkutschiert. Warum soll er dann nicht auch Roboter benutzen, um Schurken zu fangen?«
»Das ist was anderes, das weißt du genau!«
Sophie schaute mich an, als sei sie nicht bereit, ihr Argument fallenzulassen, doch als sie ihre Hände ansah, verstummte sie. Sie begannen zu glühen. Genau wie ihr ganzer Körper. Ihre Superkraft strahlte aus ihr heraus, als hätte sie einen Stimmungsring am Finger, den sie nicht abziehen konnte. Ich hatte das Gefühl, ihre Stimmung lag irgendwo zwischen peinlich berührt weglaufen und dem Wunsch, mich in Stücke zu reißen. Stattdessen holte sie ein paar Mal tief Luft und wartete, bis das Glühen allmählich nachließ.
»Wenn du meinem Vater für irgendwas die Schuld geben willst, was er nicht getan hat – von mir aus«, sagte sie in rauem Flüsterton. »Aber erwarte nicht, dass ich dir auch noch recht gebe.«
Sophie starrte mich einen Moment weiter an, und ein letztes Glühen lag in ihren Augenwinkeln, dann drehte sie sich um und marschierte im Stampfschritt davon.
Stanley wartete in der Nähe des SUV. Die beiden fuhren nicht mal mehr an uns vorbei, um sich zu verabschieden, sondern ließen uns einfach auf dem Parkplatz zurück, ohne uns eine Mitfahrgelegenheit nach Hause anzubieten.
Ich konnte verstehen, warum sie wahrscheinlich sauer war. Ich hatte gerade ihren Vater beschuldigt, meine Eltern entführt und versucht zu haben, uns drei zu töten. Aber das änderte nichts daran, was ich über Captain Saubermann dachte. Ich war mir ganz sicher, dass er hinter den Rauch-Gestalten steckte. Und ich wollte unbedingt herausfinden, wohin er meine Eltern gebracht hatte.
Milton rief seine Mom an. Sie holte uns ab. Es war gar nicht so leicht, ihr zu erklären, wieso wir an einem späten Freitagabend, von Polizeiwagen und Nachrichten-Vans umringt, an einem Gebäude standen, das erst vor wenigen Stunden von Superschurken angegriffen wurde.
»Wir … äh – haben gefragt, ob wir aussteigen dürfen, als wir Captain Saubermann vor dem Gebäude entdeckten«, sagte Milton. »Du weißt schon, um zu versuchen ein Autogramm zu bekommen.«
Zum Glück war Miltons Mom genauso ein Captain-Saubermann-Fan wie ihr Sohn. Und er konnte ja sogar die signierte Superknüller-Ausgabe von vor ein paar Stunden vorzeigen. Als er sie ihr hinhielt, kreischte sie wie ein Teenie und kam vor Begeisterung fast von der Straße ab.
Danach hatte Milton keine Probleme mehr, sie zu überreden, dass ich bei ihnen zu Hause übernachten konnte. Was eine gute Idee war, schließlich hatte ich keine Lust, bei mir zu schlafen, jetzt, da meine Eltern verschwunden waren.
Miltons Mom ließ mich vor dem Haus meiner Eltern aussteigen, damit ich ein paar Sachen für die Nacht holen konnte. Danach würde ich zu ihnen rüberkommen. Als sich das Geräusch des Autos auf der Straße verlor, lief ich allein über den Rasen. An der Haustür löste ich drei Bolzenschlösser, tippte den Sicherheitscode ein, deaktivierte die Alarmsensoren und drückte meinen Daumen auf ein Feld, um mich zu identifizieren.
Dann ging ich hinein.
Das Haus wirkte irgendwie verändert. Als ob die Abwesenheit meiner Eltern bereits in die Möbel und Wände gesickert wäre. Micus schien zu wissen, dass etwas nicht stimmte, denn er drohte mir nicht ein einziges Mal, mich umzubringen, als ich durchs Esszimmer lief. Er blieb einfach an seinem gewohnten Fleck in der Ecke und ließ die Äste traurig nach unten hängen.
Meine Füße tappten mit hohlem Klang auf die Treppenstufen, als ich nach oben ging. Nachdem ich das Labor meiner Eltern betreten hatte, zog ich das Fläschchen mit der Säure aus der Tasche und trat an den Glasbehälter. Er wirkte immer noch leer, aber ich wusste, dass irgendwo dort drinnen das Nanowesen steckte.
Doch dann merkte ich, dass an dem Computer neben dem Behälter etwas anders war. Überall hingen Aufkleber. Kleine gelbe Post-its, die an bestimmten Stellen angebracht waren. Auf einem stand: Hier chemische Substanz eingeben. Mit einem Pfeil, der auf einen Schlitz in der Maschine wies. Mein Blick wanderte zu einem anderen Zettel: Diesen Knopf drücken, um die Such-Sequenz zu aktivieren.
Allmählich dämmerte es mir. Meine Eltern hatten die Zettel nicht für sich selbst dort hingeklebt. Sie waren für mich bestimmt.
Sie mussten gewusst haben, dass sie das Risiko eingingen, angegriffen zu werden, ehe sie die Chance hatten, an die Chemikalie heranzukommen. Deshalb hatten sie mich ins Labor geführt und mir so genau erklärt, was die Rauch-Gestalten waren und wie man sie aufspüren konnte. Und deshalb hatten sie sorgfältig jeden Schritt auf die Post-its geschrieben, der notwendig war, um die Such-Sequenz laufen zu lassen.
Sie wollten, dass ich wusste, wie ich sie finden konnte, falls sie entführt wurden.
Ich setzte das Fläschchen in den Schlitz ein und führte einen langen Strohhalm in die Flüssigkeit. Danach folgte ich den weiteren Anweisungen, die meine Eltern mir hinterlassen hatten, schaltete den Computer an, drückte auf noch einen Schalter, durch den ein einzelner Tropfen der Säure im Strohhalm hochstieg und durch ein Loch in den Glasbehälter fiel. Dann holte ich einmal tief Luft und aktivierte die Such-Sequenz.
Ich starrte auf den Monitor. Zuerst passierte gar nichts. Aber nach ein paar Sekunden tauchte auf dem Bildschirm ein rechteckiges Feld auf.
Koordinaten-Suche
Ergebnisse
Lat: +45,262321
Lon: –69,012489
Im Geografie-Unterricht hatten wir letztes Jahr eine ganze Stunde damit verbracht, Nadeln genau dort in eine Wandkarte zu stecken, wo sich Breiten- und Längengrade trafen. »Lat« war die Abkürzung für Breitengrad, »Lon« die Abkürzung für Längengrad.
Ich tippte bei Google »Breitengrad Längengrad« ein. Dann wählte ich die erste Website, die auftauchte, und gab die Ziffern in die Koordinaten-Suchfelder ein. Breitengrad: +45,262321. Längengrad: –69,012489. Sofort erschien ein Ort auf dem Bildschirm:
Carrolshire, Maine.
Ich druckte die Karte und die Koordinaten aus, schnappte mir meine Zahnbürste und ein frisches T-Shirt und lief schnell zu Milton.
*
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück traten Milton und ich vor die Haustür. Ein vertrauter schwarzer SUV hatte drüben bei mir zu Hause am Bordstein gehalten. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Sophie stieg aus.
»Was machst du hier?«, rief ich, während ich zu ihr hinlief.
»Ich dachte, vielleicht brauchst du Hilfe«, antwortete sie.
»Und was ist mit gestern Nacht?«
Sophie starrte nach unten auf ihren Schatten, der über dem Rasen lag. »Vielleicht habe ich ja ein bisschen überreagiert. Und … also, es gibt da noch was anderes. Gestern Nacht, als ich nach Hause kam, habe ich das hier gefunden.«
Sie griff in den SUV, zog etwas heraus und hielt es so hin, dass nur Milton und ich es sehen konnten. Ein breites Silberarmband, wie es Captain Saubermann trug, um seine Hologramm-Waffen zu erschaffen.
»Es ist ein brandneues Modell«, sagte Sophie. »Ich hab ihn noch nie so eines tragen sehen. Es lag in einer Schachtel mit der Aufschrift ›vertraulich‹.«
Sophie drehte das Armband um und zeigte uns, was auf der Rückseite aufgedruckt war.
C
Multifunktions-Armband™
Ein Schauer lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Das letzte Mal hatte ich das C-Logo gesehen, als ich um mein Leben rannte und zu verhindern versuchte, dass mich die Raufbolde mit Feuerhintern umbrachten.
»Er hatte noch mindestens fünfzig weitere Schachteln da liegen«, sagte Sophie. »Mit Uniformen, Accessoires und Umhängen. Und alle mit diesem Logo drauf.«
»Das heißt, er war es wirklich?« Milton klang, als ob es schon wehtäte, die Worte überhaupt auszusprechen. »Dein Dad steckt hinter den Rauch-Gestalten und den Raufbolden?«
Sophie nickte. Ihr Gesicht verhärtete sich. »Es muss so sein. Eine andere Erklärung sehe ich nicht.«
»Hast du ihn darauf angesprochen.«
»Dazu bin ich nicht mehr gekommen. Er war schon weg, als ich heute Morgen aufwachte. Stanley meinte, er hätte in irgendeine Stadt in Maine gemusst.«
»Carrolshire?«, fragte ich.
Sophie sah mich erstaunt an. »Woher weißt du das?«
»Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass genau dort meine Eltern sind.«
Ich zog die Karte mit den Koordinaten aus der Tasche und erklärte ihr, was ich in der Nacht zuvor herausgefunden hatte.
»Wir müssen uns überlegen, wie wir nach Carrolshire kommen«, sagte Sophie.
»Heißt das, du kommst mit?«, fragte ich.
»Natürlich. Wenn mein Dad tatsächlich so etwas macht, dann will ich diejenige sein, die ihn zur Rede stellt.«
»Das ist ja super!«, sagte Milton. »Nicht das mit deinen verschwundenen Eltern natürlich, und auch nicht die Sache, dass Captain Saubermann versucht, uns umzubringen. Aber dass wir drei zusammen losziehen – als ob wir Superhelden wären!«
Ich sah ihn an. »Was meinst du mit ›wir drei‹?«
Milton presste den Kiefer zusammen. »Ich komme auch mit.«
»Das geht nicht«, sagte ich. »Es könnte gefährlich werden. Und du bist kein … ich meine – du hast keine …«
»Superkräfte?« Milton vergrub seine Hände in den Taschen. »Ich darf nicht mit, weil ich nicht besonders bin, so wie ihr beiden – willst du mir das sagen?«
»Mehr oder weniger. Du könntest schwer verletzt werden.«
Aber Milton ließ nicht locker. Er stampfte mit dem Fuß auf und sah mich mit einem bettelnden Blick an. »Ich dachte, wir wären beste Freunde.«
»Sind wir auch –«
»Und beste Freunde helfen einander, stimmt’s?«
»Ja, aber –«
»Weißt du noch, wie du den komischen Ausschlag am Arm hattest, und ich es niemandem gesagt habe?«
»Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst«, murmelte ich. »Und was willst du mir damit sagen?«
»Ich bin für dich da gewesen«, sagte Milton. »Genau wie damals, als du dir die Haare hast lang wachsen lassen und alle dich für ein Mädchen hielten. Da bin ich auch für dich eingetreten. Und das Mal, als –«
»Also schön«, sagte ich, ehe Milton noch mehr herausposaunte. »Du kommst auch mit.«
»Super!« Milton ballte vor Aufregung die Faust. »Und wie kommen wir nach Maine?«
Ich sah Sophie an. »Kann Stanley uns fahren?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Ohne Erlaubnis meines Dads darf er mich nicht über die Stadtgrenze fahren. So ist er programmiert.«
»Und meine Mom hat heute ihren Buchclub zu Gast«, sagte Milton. »Die kann also auch nicht.«
»Und wenn wir mit dem Bus fahren?«, fragte Sophie.
»Das hab ich schon nachgeguckt«, antwortete ich. »Es gibt in der Nähe von Carrolshire keine Haltestelle.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Milton.
Ich schaute an Milton vorbei, und mein Blick landete auf dem geschlossenen Garagentor. Da kam mir plötzlich eine Idee.
»Milton, heute ist dein Glückstag«, sagte ich.