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Du wirst feststellen, wie dein Körper seltsame und überraschende Entwicklungen durchmacht. Du erlebst Wachstumsschübe, deine Stimme verändert sich. Du bemerkst plötzlich Superkräfte, wo es früher nie Superkräfte gab. Dies alles gehört zu der Erfahrung, begnadet zu sein, und bedeutet, dass sich in dir eine Biologisch Elementare Genetische Neuorientierung Als Daseinsform Exzeptioneller Tatkraft vollzieht.
Ich beobachtete, wie die Bäume und Stromleitungen an der Scheibe des Volvo meiner Eltern vorbeizogen. Es dauerte zwei Stunden von Sheepsdale nach Manhattan, so dass ich genug Zeit hatte, das Handbuch für BEGNADETE Kinder zu lesen.
Vieles in dem Buch war ziemlicher Schwachsinn, und ein paar Kapitel (»Ferienlager für Superhelden«, »Mein Mutant und ich«) konnte man gleich überspringen. Doch es gab auch eine Menge Informationen, die mich echt weiterbrachten. Zum Beispiel ein ganzes Kapitel mit Entscheidungshilfen zu der Frage, ob man lieber ein Superheld oder ein Superschurke werden will. Oder Tipps, wie man seine Superkräfte kontrolliert. Oder Porträts der wichtigsten Gestalten aus der Super-Szene, zum Beispiel von Captain Saubermann, von Scarlett Flamme und sogar von meinen Eltern.
Ich fand, wenn ich nun schon diese komische Superkraft besaß, sollte ich zumindest ein bisschen Bescheid wissen, was das hieß und wie ich sie anwenden konnte.
Als wir auf New York zufuhren, beobachtete ich, wie allmählich die ersten hohen Gebäude am Horizont auftauchten und in der morgendlichen Sonne schimmerten. Sobald wir die Stadt erreichten, wurde der Verkehr immer chaotischer. Ich rutschte nach vorn und zur Seite, wenn Dad unseren Kombi zwischen den Massen drängelnder Taxis hindurch über volle Kreuzungen lenkte. Schließlich hielten wir an.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte ich. Ein riesiges Lagerhaus ragte vor meinem Seitenfenster auf. Die stählernen Wände waren braun von Rost und mit Graffiti beschmiert. Die Fenster waren eingeschlagen. Das ganze Gebäude wirkte, als ob es jeden Moment in sich zusammenfallen würde.
»Sie müssen ja einen Ort wählen, der nicht zu auffällig ist«, sagte Mom. »Sonst könnten die Polizei und die Superhelden ihn möglicherweise entdecken.«
Wie aus dem Nichts trat plötzlich ein kräftiger Mann in einer roten Jacke an die Fahrertür. Instinktiv fasste ich nach der Türverriegelung. Doch dann sah ich das Schild auf seiner Jacke.
MESSESERVICE
Wir übernehmen keine Verantwortung für verlorene, gestohlene, beschädigte oder unabänderlich verwandelte Gegenstände.
BITTE VERGESSEN SIE NICHT, TRINKGELD ZU GEBEN.
Dad öffnete das Fenster. Der Mann vom Parkservice beugte sich, mit einem Klemmbrett in der Hand, zu ihm herunter und bat um Dads Ausweis. Dad reichte ihm seinen Führerschein. Der Mann suchte auf dem Klemmbrett Dads Namen, dann reichte er ihm den Führerschein wieder zurück.
»Willkommen auf der Schandmesse«, sagte er. »Bitte steigen Sie aus.«
Wir taten, was er von uns verlangte. Sobald wir aus dem Wagen waren, griff der Mann vom Parkservice in seine Jacke und zog einen kleinen silbernen Gegenstand heraus. Lässig richtete er ihn auf unser Auto und drückte eine Taste. Funken, eine kleine Rauchwolke und schon war unser Auto nur noch ein Blechklumpen, ungefähr so groß wie ein Handy.
Der Mann vom Parkservice hob das Miniatur-Auto vom Boden auf und reichte es Dad, der es in seine Tasche steckte und dem Mann ein paar Dollar gab.
»Wenn wir wieder fahren wollen, geben wir ihm einfach den Wagen zurück«, sagte Dad, als wir die Treppe zu dem Lagerhaus hochgingen. »Er bringt ihn dann wieder zurück auf die richtige Größe.«
»Und das geht völlig problemlos?«
»Gewöhnlich sieht man nach der Rückvergrößerung ein paar zusätzliche Kratzer. Aber besser so, als in der Stadt irgendwo einen Parkplatz zu suchen.«
Als wir durch den Haupteingang traten, sah ich mich staunend um. Das Innere des Gebäudes unterschied sich völlig von der äußeren Fassade. Ich hatte einen Raum aus verrosteten Eisenstreben und kaputten Ziegelsteinen erwartet, doch was ich sah, war glänzender Stahl, an den Wänden hingen riesige Videoschirme, und im Empfangsbereich gab es Serviceschalter und Ledersofas.
Der riesige Raum war brechend voll von Schurken. Sie liefen in ihren Uniformen herum, redeten miteinander und schauten die verschiedenen Stände an, die in langen Reihen aufgebaut waren. Über jedem Stand hing ein Schild mit dem Namen der Firma und des Artikels, der ausgestellt war.
KLARGON-UMHÄNGE: MODISCH UND FEUERABWEISEND
V-LISTE: DIE INTERNET-KONTAKTBÖRSE
EXKLUSIV FÜR SCHURKEN
REBECCAS BIO-MUTANTEN-NAHRUNG: WENN SIE FÜR IHREN MUTANTEN NUR DAS BESTE WOLLEN
Ich folgte meinen Eltern, vorbei an einer Frau in einem Aluminium-Bikini und dem dazu passenden Helm. Sie unterhielt sich mit einem schweren Bodybuilder-Typen, dessen Haut aus Beton war. Eine Gruppe japanischer Schurken schien ihre Laserkanonen zu vergleichen. Ein älterer Mann sauste auf einem schwebenden Rollstuhl vorbei.
An einem Stand in der Nähe führte eine Frau ein Gehorsamkeitstraining für Zombies vor. Mom blieb stehen und schaute zu.
»Seit jeher«, sagte die Frau, »bieten Zombies eine effektive Möglichkeit, Menschenmassen in Angst und Schrecken zu versetzen. Unglücklicherweise kann aber die Arbeit mit ihnen große Schwierigkeiten bereiten. Sie sind fast unmöglich zu bändigen, besitzen einen unstillbaren Hunger auf Hirn und haben schreckliche Angewohnheiten, was ihre Körperpflege betrifft.«
Sie drehte sich um und schaute den Zombie neben sich an. Er hatte eine graue Haut, dunkle Augen und blutbefleckte Lippen. Eine Kette hielt ihn in der Ecke des Messestands fest.
»Doch ich will Ihnen zeigen, dass es durchaus möglich ist, Zombies so zu trainieren, dass sie aggressive, blutrünstige Bestien sind, ohne ihren Respekt vor den Befehlen ihres Besitzers zu verlieren.«
Sie streckte einen Finger aus und zeigte auf den Zombie.
»Sitz«, sagte sie.
Der Zombie setzte sich in den Sessel, der neben ihm stand.
»Und jetzt sprich«, befahl sie.
»BLARRRRR!«
»Sehr gut!« Die Frau wandte sich wieder uns zu. »Jetzt kommt der entscheidende Teil. Wir müssen den Zombie für sein gutes Benehmen belohnen. Sonst hat er keinen Anreiz für seinen künftigen Gehorsam. Aber wir alle wissen, wenn wir ihn belohnen, indem wir ihn mit Hirn füttern, treiben wir ihn in einen unkontrollierbaren Amoklauf.«
Mom nickte.
»Ich glaube, ich habe den perfekten Kompromiss gefunden«, sagte die Frau.
Sie griff in eine Kühlbox und holte eine matschige rosa Substanz heraus. Der Zombie reckte sich begeistert in seinem Sessel nach vorn.
»Wie Sie sehen, besitzt diese Substanz hier das Aussehen und die Beschaffenheit von Hirn. Sie riecht und schmeckt sogar erstaunlich ähnlich. Doch in Wahrheit handelt es sich« – sie senkte die Stimme – »um Tofu.«
Sie warf dem Zombie eine Handvoll von dem Tofuzeug hin. Er verschlang es in einem einzigen schaurigen Bissen.
»Der erfrischende und nährstoffreiche Snack hält Ihre Zombies bei Laune und lässt sie gehorchen. Und weil es kein echtes Hirn ist, werden sie auch nicht Amok laufen und blindwütig töten, solange Sie nicht den Befehl dazu geben.«
Alle klatschten. Mom kaufte drei Kisten.
Wir liefen weiter in die Halle hinein. Ich sah jede Art von Superschurken, die ich mir vorstellen konnte (und auch viele, die ich mir nicht vorstellen konnte). Ein Schwert schwingendes siamesisches Zwillingspaar. Einen Mann, dessen Kopf aus Feuer bestand. Verschiedene Gruppen internationaler Schurken, die sich in Sprachen unterhielten, von denen ich noch nie gehört hatte. Kranke Wissenschaftler. Gesunde Wissenschaftler. Bösartige Milliardäre, die in ihre Handys brüllten. Diktatoren, die mit Regierungsunternehmen sprachen.
Ab und zu stießen meine Eltern auf jemanden, den sie kannten, und ich musste dabeistehen, während sie sich über irgendein neues Modell eines Mehrzweckgürtels unterhielten, den sie gesehen hatten, oder darüber, welches Supervirus am tödlichsten sei.
In der Mitte der Tagungshalle gab es eine Bühne. Und in der Mitte der Bühne stand ein Mann. Er war kahlköpfig, trug eine Augenklappe, und eine Narbe lief ihm seitlich übers Gesicht. In der Hand hielt er einen Stock mit einem Griff, der wie ein Totenschädel geformt war.
»Das ist Phineas Vex!«, sagte Dad und deutete auf den Mann.
»Wer?«
»Der Chef von VexaCorp Industries.«
Das sagte mir etwas. Das VexaCorp-Logo hatte ich schon auf allen möglichen Sachen bei uns zu Hause gesehen. VexaCorp war die Firma, die die Flugroller, die Mehrzweckgürtel und die Plasma-Revolver meiner Eltern gebaut hatte. Jedes Vierteljahr lag ein neuer Katalog in der Post. Er war dicker als ein Telefonbuch.
»Ich versuche schon seit Jahren, VexaCorp zu überzeugen, dass sie eine meiner Erfindungen kaufen«, sagte Dad. »Stell dir nur mal vor – Superschurken auf der ganzen Welt benutzen etwas, das ich gemacht habe.«
Ich schaute wieder zurück zu Phineas Vex. Er stand vor einem Mikro und starrte mit einem Funkeln in seinem sehenden Auge über die Menge. Zu beiden Seiten von ihm flackerte das bekannte VexaCorp-Logo über Dutzende himmelblauer Flachbildschirme.
VEXACORP INDUSTRIES
DIE MARKE, DER DU VERTRAUST UND DIE DIE GESELLSCHAFT FÜRCHTET
Vex beugte sich zum Mikro vor. »Ich grüße euch, meine Schurkenbrüder!« Seine Stimme dröhnte durch die Halle.
Die Menge jubelte. Vex wartete, bis der Jubel verstummte, dann sprach er weiter.
»Ich und alle Mitarbeiter von VexaCorp Industries heißen euch herzlich willkommen zur jährlichen Schandmesse, die nun schon zum zwölften Mal stattfindet«, rief er.
Die Halle brach wieder in Beifallsstürme aus.
»Vieles hat sich in den letzten vierzig Jahren, seit ich VexaCorp gründete, in der Schurken-Gemeinde verändert«, sagte Vex. »Das moderne Superhirn des Bösen ist nicht mehr die zweidimensionale Figur aus den verstaubten alten Comic-Heften. Heute muss der Schurke seine Aufgabe in einem globalen Zusammenhang begreifen, die Technologie und Effizienz mit einer kompetenten Medienstrategie verbindet. Zusammen haben wir bedeutende Fortschritte erreicht. Internationale Konflikte sind um dreihundert Prozent gestiegen, und die globale Schurkerei befindet sich auf einem Allzeithoch.«
Ein weiterer Beifallssturm brandete durch die Halle.
»Doch es gibt immer noch viel Raum für Verbesserungen«, sagte Vex. »Bei VexaCorp arbeiten wir ständig an neuen Technologien, die euer Leben vereinfachen werden. An Software, die eure Terminpläne überschaubarer macht, damit ihr eure Projekte des Bösen und die Zeit mit der Familie besser in Einklang bringen könnt. Oder an der neuesten Generation von schwebenden Fahrzeugen – Autos, Flugrollern und SUVs –, die garantieren, dass ihr fahren könnt, wohin ihr wollt und wann immer ihr wollt.«
Während Vex sprach, liefen Bilder über die Flachbildschirme hinter ihm – von Superschurken, die zusammen um einen Computer saßen, einer grünhäutigen Frau, die Lebensmittel in den Kofferraum ihres SUVs lud, oder von Kindern, die zum ersten Mal ihre Umhänge anprobierten, während ihre Eltern mit leuchtenden Augen zusahen.
»Doch die größte Innovation lässt sich nicht in einem Mikrochip messen. Sie kann nicht in eine Steckdose gesteckt oder anprobiert werden. Sie wurde nicht in einem Labor hergestellt oder in einer Fabrik zusammengebaut. Nein, die größte Innovation ist viel einfacher als das. Die größte Innovation seid ihr.«
Das Mikro in der einen Hand, seinen Stock in der andern, trat Vex nach vorn an den Rand der Bühne.
»Ihr seid der Grund, dass Superhelden nachts nicht mehr ruhig schlafen können«, sagte er. »Ihr erfüllt die Herzen schwacher Menschen mit Angst. Ihr unterbrecht die Lokalnachrichten mit schrecklichen und raffinierten Bedrohungen, ihr ändert das Wetter auf verrückte und besorgniserregende Weise.«
Ich sah, wie Dad beim letzten Punkt nickte.
»Ohne euch«, sagte Vex, »spielte keine unserer Dienstleistungen eine Rolle. Wir sind hier, weil wir an die bösen Dinge glauben, die ihr tut. Deshalb geben wir unser Bestes, damit ihr euer Schlimmstes geben könnt!«
Die Menge brach in einen wilden Beifallsturm aus. Ich war überrascht, als ich merkte, dass auch ich klatschte. Ich war zwar noch immer skeptisch, was all die bösartigen Pläne und schrecklichen Drohungen betraf, doch zum ersten Mal konnte ich verstehen, was den Reiz des Lebens als Superschurke ausmachte. Es war die Form der Macht, ein Weg, Kontrolle zu übernehmen in einer unkontrollierbaren Welt.
Der Jubel schien diesmal noch länger anzuhalten. Die Messehalle tobte. Es wurde gejohlt und mit den Füßen getrampelt. Doch als ich hinter mich schaute, sah ich Menschen, die überhaupt nicht jubelten. Sie schrien.
Irgendetwas war gerade schrecklich schief gegangen.