17
Früher, vor vielen Jahren, waren Superhelden meist Ordnungshüter in Strumpfhosen. Heute sind sie bestens geschulte Medienfiguren. In Strumpfhosen.
Der Kopf war ein Hologramm. Blassblau und wie ein Geist flackernd, schwebte er vor Captain Saubermann in der Luft.
»Ich habe unerfreuliche Nachrichten«, sagte das Hologramm.
»Worum geht’s, Fink?«, fragte Captain Saubermann.
»Die Trend-Daten, die wir gesammelt haben, zeigen, dass Ihre Popularität sinkt.«
»Sinkt? In welchen Bevölkerungsgruppen?
»In allen.«
Captain Saubermann sackte nach vorn. »Was ist mit den Vier- bis Achtjährigen weiblichen Geschlechts? Hatten Sie nicht gesagt, dass dort ein wachsender Markt ist?«
»Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass Mädchen unter acht Jahren nicht auf Sie ansprechen«, antwortete das Hologramm namens Fink. »Sie bevorzugen weichere, liebenswertere Merchandising-Formen. Puppen, Kätzchen, Boygroups – solche Sachen.«
»Was kann ich tun, um das zu ändern?«
»Wir arbeiten an einem Plüschtier. Aus der Kuschelhelden-Serie. Leider haben wir beim Testlauf einen Haken entdeckt. Wie es scheint, ist der Kuschel-Captain-Saubermann stärker als Beißspielzeug für Hunde gefragt und nicht so sehr als Spielzeug für kleine Mädchen.«
»Als Beißspielzeug? Wirft so was denn Gewinn ab?«
»Absolut. Merchandising für Haustiere ist ein boomender Markt. Wir basteln schon an einem Captain-Saubermann-Kratzbaum und an einer Fun-Time-Kletterwand für Abenteuerkatzen. Einschließlich Katzenklo.«
»Hm, verstehe.« Captain Saubermann kratzte sich unter dem Stirnband. »Na ja, wenn Sie meinen, dass das ein Markt ist, sollten wir die Sache weiter verfolgen.«
»Schön, dass Sie dabei sind, Captain S!«
Fink nickte mit seinem blauen Kopf.
»Ich bin im Moment der einzige Mitarbeiter, der davon weiß.«
»Gut. Dann lassen Sie es uns auch weiter so halten. Wir wollen ja nicht, dass irgendetwas davon an die Medien durchsickert. Nicht bevor wir so weit sind, es selbst zu verkünden.«
»Deshalb verlagern wir die Operation an diesen abgelegenen Standort, den wir noch haben. Dort sollten wir in der Lage sein, ungestört an dem Projekt weiterzuarbeiten.«
»Wie, glauben Sie, wird die Öffentlichkeit auf so einen Strategiewechsel reagieren?«
»Es wird vielleicht eine Weile dauern, bis sich die Leute an den Wechsel gewöhnt haben«, meinte Fink, »aber glauben Sie mir, es ist ein Schritt in die richtige Richtung.«
»Und Sie halten den Weg nicht für zu … aggressiv?«
»Die Welt ist deutlich aggressiver geworden, Captain S. Sie passen sich nur der Zeit an.«
Captain Saubermann schwieg, als ob er noch immer nicht ganz überzeugt wäre.
Meine Neugier regte sich, und ich beugte mich weiter vor. Was war das für ein Projekt, über das sie sprachen? Und wieso wollten sie es geheim halten? Nach allem, was ich über Captain Saubermann wusste, war er doch wirklich nicht der Typ, der die Medienaufmerksamkeit scheute.
Vielleicht hatte ich mich ja etwas zu weit in den Raum gebeugt, denn für einen Augenblick war ich sicher, dass Fink mich entdeckt hatte. Seine riesigen blauen Augen schwenkten herum, bis ich dachte, sie sähen mich an. Ich sprang zurück und hielt mir die Hände vor die Brust, als ob ich so das Pochen meines Herzens dämpfen könnte. Hatte er mich gesehen? Konnte ein holographischer Kopf überhaupt so weit gucken? Wie auch immer, ich hatte keine Lust, es herauszufinden. So leise wie möglich schlich ich rückwärts davon.
*
»Wo warst du so lange?«, fragte Milton, als ich endlich Sophies Zimmer wiedergefunden hatte. Aber weil er sich gerade den Mund mit Saubermann-Rauchfleisch voll gestopft hatte, klang es wie »O waße o ange?«
Mein Herz pochte noch immer von Finks riesigem blauen Schädel. Ich hatte keine Ahnung, worüber er mit Captain Saubermann gesprochen hatte, doch ich beschloss, es für mich zu behalten.
»Ich hab mich nur ein bisschen verlaufen«, sagte ich und reichte ihm das Geschichtsbuch. Zum Glück hatte ich auf dem Rückweg die Bibliothek doch noch gefunden.
»Ich hab dir ja gesagt, das Haus ist verwirrend«, meinte Sophie. »Selbst ich verlaufe mich manchmal noch.«
Milton fasste in die halb leere Saubermann-Rauchfleisch-Tüte neben sich auf dem Schreibtisch und nahm einen riesigen Bissen. »Bille auwa onem Auei?«
Zu Deutsch: Willst du auch was von dem Rauchfleisch?
Sophie blickte ihn angewidert an. »Hat dir nie jemand beigebracht, dass man mit vollem Mund nicht spricht?«
Milton zuckte die Schultern. Er hatte dicke Hamsterbacken. »Oh, ahe di ecke o oll.«
»Was?«
Milton schluckte das Rauchfleisch herunter. »Schon, aber die schmecken so toll.« Er warf der Tüte Saubermann-Rauchfleisch einen bewundernden Blick zu. »Ehrlich, dein Dad macht das beste Rauchfleisch der Welt.«
Sophie verdrehte die Augen. »Er macht das Zeug doch nicht selbst. Die klatschen bloß seinen Namen und sein Gesicht auf die Packung, sonst nichts.«
»Egal«, meinte Milton und schob sich die nächste Handvoll in den Mund.
Ein paar Stunden später bot Stanley an, uns nach Hause zu fahren, und Sophie bestand darauf, mitzukommen. »Falls es weitere Angriffe gibt«, sagte sie.
Wir nahmen wieder den schwebenden SUV, obwohl wir diesmal am Boden blieben und Straßen benutzten. Nachdem er die Garage verlassen hatte, fuhr der SUV einen Waldweg hinab, an Überwachungskameras vorbei und über den Wallgraben. Stanley steuerte den Wagen durch das Sicherheitstor, und bald waren wir auf der Straße, die in die Stadt führte.
Als wir an einer roten Ampel hielten, schaute ich aus dem Fenster und sah etwas, das mich wünschen ließ, wir hätten eine andere Strecke genommen.
Meine Eltern.
Sie waren in voller Superschurken-Montur. Mom trug ihren grünen Ganzkörper-Panzer und die schwarze Augenmaske. Dad hatte die schwere Silberbrille aufgesetzt, die er nur benutzte, wenn er dabei war, seine schrecklichen Pläne zu verwirklichen.
Sie standen in der Nähe des Eingangs zu einem zweistöckigen Bürohaus. Auf dem Dach des Gebäudes war ein Schild angebracht, auf dem der Name der Firma stand: ChemiCo Labs, Inc.
Meine Eltern hatten ChemiCo Labs am Abend zuvor erwähnt. Es war das Unternehmen, in dem zenoplyrische Säure gelagert wurde, diese tödliche Chemikalie, die ihnen helfen sollte, den Ort ausfindig zu machen, wo diese Rauch-Gestalten alle Schurken hinbrachten.
Das war es also. Sie waren dort, um die Säure zu klauen.
Ich rief mir Dads Blick ins Gedächtnis, mit dem er mich angesehen hatte, als ich ihn fragte, wie er an das Zeug rankommen wolle. Ach, uns wird schon irgendwas einfallen, hatte er gesagt. So wie uns eben immer was einfällt.
Offensichtlich hatte er das hier mit dem Wort »irgendwas« gemeint.
Das Gebäude war von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben, der oben zusätzlich mit Stacheldraht besetzt war. Es schien, als ob meine Eltern sämtliche Angestellten zusammengetrieben hätten. Menschen in Laborkitteln und Sicherheitsuniformen drängten sich auf dem Firmenparkplatz. Mom hob eine Hand, und eine Kletterpflanze löste sich von der Gebäudewand. Die Pflanze schlängelte sich vorwärts, schwebte unter Moms Befehl über den Boden und schlang sich um die Gruppe.
Dad nahm ein kleines Gerät von seinem Gürtel und drückte einen Knopf, wodurch sich das Teil in eine Art Miniatur-Satellitenschüssel verwandelte. Den Apparat hatte ich schon mal gesehen. Er war eine von Dads Erfindungen. Die Schreck-Deaktomatik. Sie deaktivierte alle elektronischen Geräte in der Menschenmenge, sodass jegliche Handys und Walkie-Talkies nutzlos wurden. Inzwischen konfiszierte Mom alle Waffen der Sicherheitsleute.
Plötzlich erregte eine Bewegung am Rand des Parkplatzes meine Aufmerksamkeit. Eine graue, schmuddelige Gestalt torkelte dicht an dem Maschendrahtzaun vorbei. Eine zweite erschien seitlich von dem Gebäude. Zombies. Meine Eltern mussten sie als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme mitgebracht haben.
Ich war nicht der Einzige, der bemerkt hatte, was da draußen vor dem Gebäude von ChemiCo Labs ablief. Milton und Sophie drängten sich vor die Scheibe und zeigten hinaus.
»Das Schreck-Duo bricht in das Gebäude ein!«, sagte Milton »Und sie haben Zombies! Cool!«
Ich biss die Zähne zusammen. »Wir sollten lieber fahren. Könnte gefährlich werden.«
Doch keiner im Auto hörte mir zu. Sophie kramte in ihrer Tasche nach ihrem Handy. »Ich muss meinen Dad anrufen.«
»Wozu denn Eltern holen?«, sagte ich etwas zu laut. »Dein Dad hat bestimmt eine Menge zu tun. Oh, schau – es ist grün. Du kannst weiterfahren, Stanley.«
Aber Stanley behielt seinen Roboterfuß auf der Bremse. »Ich glaube, Sophie hat recht«, sagte er. »Captain Saubermann ist immer gern informiert, wenn das Schreck-Duo gesichtet wird.«
Captain Saubermann würde wahrscheinlich ein paar Minuten brauchen, bis er angezogen war. Plus etwa eine Minute Flugzeit. Das hieß, meine Eltern hatten circa fünf Minuten – höchstens –, bevor ihre kleine Party unterbrochen würde. Und ich wollte nicht noch einmal die gleiche Szene miterleben wie vor ein paar Wochen.
In Sekundenschnelle entriegelte ich meine Tür und stand auf dem Gehweg. Sophie und Milton riefen hinter mir her, doch ich hörte ihre Stimmen nur noch wie eine Art Hintergrundrauschen.
Fast hätte mich ein Minivan platt gemacht, als ich über die Straße rannte. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig auf die Bordsteinkante. Als ich den Zaun erreichte, riss ich die Arme nach vorn. Ein Stromstoß jagte durch meine Hände und schon hatte ich ein Loch in den Zaun gebrannt, groß genug, dass ich hindurchklettern konnte.
Gerade als ich mich durch die Zaunlücke duckte, kam Sophie hinter mir her gerannt.
»Bist du verrückt, Joshua?« Der Zaun rasselte, als sie mir folgte. »Das Schreck-Duo wird dich umbringen!«
»Nein, wird es nicht.«
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Ich … ich weiß es eben.«
Sophie starrte mich an und wartete. Aber ich konnte ihr unmöglich die Wahrheit sagen – nicht ohne ihr auch zu erklären, wer meine Eltern waren –, deshalb entschied ich mich für Plan B.
»Ihr müsst schnell weg hier, Milton und du!«, sagte ich mit rauer Stimme. »Mir passiert nichts. Und jetzt – verschwindet!«
Sophie schüttelte nur den Kopf und presste ihren Kiefer zusammen. Im nächsten Moment kam Milton keuchend dazu. »Auf keinen Fall lassen wir dich da alleine rein«, sagte er.
Alles geschah viel zu schnell. Ich hatte keine Zeit mehr, ihnen auszureden, mir zu folgen. Aber sie mitzunehmen hielt ich auch nicht für eine gute Idee. Und jede Minute würde Captain Saubermann aufkreuzen.
Gerade als ich dachte, die Situation könnte nicht mehr schlimmer werden, passierte genau das. Einer der Zombies starrte uns aus seinen leblosen roten Augen an. Und dann torkelte er auf uns zu.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte Milton.
Ein schreckliches Knurren hallte über den Parkplatz. Der Zombie kam näher.
Plötzlich hatte ich eine Idee. Ich wusste nicht, ob sie funktionieren würde, aber wir hatten keine andere Wahl.
»Milton! Hast du noch was von dem Rauchfleisch dabei?«
Er blinzelte. »Kann sein, dass ich für unterwegs ein paar Stücke eingesteckt habe. Wieso?«
»Gib sie mir. Schnell.«
Milton griff in seine Tasche und zog eine Handvoll Saubermann-Rauchfleisch heraus. »Hier. Aber ich weiß wirklich nicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Snack ist.«
Die schlurfenden Schritte des Zombies wurden lauter. Bildete ich es mir nur ein, oder hatte ich gerade eine Wolke von seinem widerlichen Atem abgekriegt?
Ich konzentrierte mich, so dass meine Hände nicht zitterten, als ich die Rauchfleischstücke aus ihrer Verpackung wickelte. Dann hielt ich sie hoch.
»Nein … Joshua.« Ich konnte die Angst in Sophies Stimme hören. »Was machst du denn da?«
»Nur etwas, das meine Mom mir mal gezeigt hat. Sie kennt alle möglichen Tricks, wie man mit Zombies umgeht.«
Kaum hatte ich es gesagt, merkte ich, wie seltsam das für sie klingen musste. Aber es war zu spät. Der Zombie war nur noch ein paar Schritte entfernt. Ich wedelte mit dem Rauchfleisch hin und her. Der Zombie blieb stehen, und ich erkannte den hungrigen Ausdruck in seinem grauen Gesicht. Seine trüben Augen folgten dem Rauchfleisch wie ein Hund einem Ball, der jeden Moment geworfen wird.
»Na, willst du das Saubermann-Rauchfleisch haben?«, fragte ich.
Ich war mir nicht sicher, aber der Zombie schien zu nicken. Er hatte sein Maul mit den schrecklich verrotteten Zähnen weit aufgerissen.
»Bist du sicher, dass du das Saubermann-Rauchfleisch willst?«
Der Zombie sprang jetzt gierig hoch.
»Dann hol’s dir!« Ich warf die Handvoll Rauchfleisch so weit ich nur konnte über den Parkplatz.
Der Zombie drehte sich um und schlurfte hinterher.
Ehe Sophie und Milton irgendwas fragen konnten, rannte ich los. Meine Eltern standen nicht mehr auf dem Parkplatz. Sie mussten inzwischen in dem Gebäude sein und nach der Säure suchen.
Die gefesselte Gruppe von Wissenschaftlern und Sicherheitsleuten schaute auf, als ich vorbeilief.
»Hey, Junge – warte!«, schrie eine Frau. »Geh da nicht rein!«
Die Stimme der Frau verlor sich in den anderen Hintergrundgeräuschen. Durch die gläserne Flügeltür sah ich jetzt meine Eltern. Und irgendwas war nicht in Ordnung. Ich sah es an ihren Gesichtern. Mom machte einen schnellen Schritt nach vorn und wich sofort wieder zurück. Dads Hand schob sich immer weiter an seinen Mehrzweckgürtel heran.
Sie schienen umzingelt, eingekreist von allen Seiten. Aber von wem? Ich konnte nur Schatten an den Rändern der Eingangshalle erkennen.
Und dann bewegten sich die Schatten. Dunkle Schemen schoben sich aus den Ecken der Halle und bewegten sich näher auf meine Eltern zu.
Es war, als ob die Schatten lebten.
Eine Welle des Entsetzens brach über mich herein. Rauch-Gestalten. Es waren vier. Und sie hatten meine Eltern umzingelt.
Ich drückte gegen die Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Meine Eltern mussten sie von innen abgeschlossen haben. Durch die Scheibe sah ich, wie Dad seine Deaktomatik zückte. Für den Bruchteil einer Sekunde hüpfte mein Herz. Doch bevor er abdrücken konnte, schlug ihm eine der Rauch-Gestalten die Waffe aus der Hand.
Der letzte kleine Funke Hoffnung erlosch. Meine Eltern waren machtlos. Ich hörte ihre gedämpften Schreie auf der anderen Seite der Tür, als die Rauch-Gestalten um sie herumwirbelten wie Sturmwolken.
Panik erfasste mich. Ich schlug mit den Fäusten gegen die Doppeltür. Den Rest erledigte meine spontane Entflammung. Die Glastür zersprang in tausend Scherben.
Ich rannte in die Halle, noch immer pulsierte die Energiewelle in meinen Adern. Doch genau in dem Moment sah ich, wie die letzte Spur meiner Eltern hinter dem dunklen Rauch verschwand. Diesmal gab es zwei Lichtblitze – einen für jeden – aus dem Inneren der Wolken.
Und im nächsten Moment waren die Rauch-Gestalten verschwunden.
Genau wie meine Eltern.