12
Für viele begnadete Kinder steckt das Leben voller unerwarteter Überraschungen.
Glaub mir, es ist nicht einfach, wenn du plötzlich erfährst, dass deine Projektpartnerin die Tochter des Erzfeindes deiner Eltern ist. Ich starrte Sophie an, und alles, was in den letzten zwei Wochen passiert war, ging mir wieder durch den Kopf. Deshalb war Captain Saubermann so schnell da gewesen, als meine Eltern versuchten, die Erde zu fluten. Weil er unter derselben Postleitzahl wohnte.
»Alles in Ordnung mit dir?«, drang Sophies Stimme durch mein Schweigen. »Du wirkst ein bisschen neben der Kappe.«
Vielleicht liegt das ja daran, dass dein Alter versucht hat, meinen Dad unter Mr Chows Chinarestaurant zu begraben!, dachte ich.
Aber das Einzige, was ich herausbrachte, war: »Ich muss los.«
»Wieso? Was ist denn?«
»Nichts.« Ich trat einen Schritt zurück. »Mir ist nur gerade eingefallen, dass ich … noch wo hin muss.«
Ich wirbelte herum, ehe sie etwas sagen konnte, und rannte den Hang hinunter. Sophie rief hinter mir her, aber ich schaute mich nicht mehr um.
Als ich nach Hause kam, waren meine Eltern immer noch in ihrem Labor. Ich ließ meinen Rucksack im Wohnzimmer fallen und ging in die Küche, um mir etwas zu essen zu holen. Micus warf mit einem Klumpen Erde nach mir, aber ich war noch so in Gedanken über das, was Sophie mir gerade erzählt hatte, dass ich es kaum registrierte.
Wie sollte ich mit Captain Saubermanns Tochter in dieselbe Schule gehen? Wie sollte ich in der siebten Stunde neben ihr sitzen?
Von allen Orten, wohin man ziehen konnte, hatte er sich ausgerechnet Sheepsdale ausgesucht. So einen Zufall konnte es doch unmöglich geben. Was also, wenn Captain Saubermann das Schreck-Duo aufgespürt hatte? Was, wenn er meinen Eltern dicht auf den Fersen war?
In der Küche testete ich meine Superkraft an einem Aufbackkuchen, den ich essen wollte. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Das Marmeladen-Teilchen blieb in meinen Händen gefroren, bis ich aufgab und es stattdessen in unseren Toaster schob.
Offensichtlich war ich nicht der Einzige im Haus, dem etwas schwer auf der Seele lag. Als meine Mom in der Küche auftauchte, erkannte ich sofort die Erschöpfung in ihrem Gesicht. Unter den Augen hatte sie tiefe dunkle Ringe. Die eine Seite vom Kragen ihres Laborkittels hatte Flecken von irgendeiner blauen Flüssigkeit abgekriegt.
»Und, wie läuft’s?«, fragte sie, während sie in einer Schublade herumkramte.
»Ganz gut, glaub ich.«
»Wie war dein Tag in« – sie brach ab, schob die eine Schublade zu und öffnete die nächste – »dein Tag in – äh …«
»In der Schule?«, schlug ich vor.
»Genau. In der Schule. Wie war dein Tag in der Schule?«
»Nicht so toll. Heute haben mich zwei Typen in die Mädchentoilette geworfen –«
»Das ist ja wunderbar, Schätzchen!«, sagte sie mit viel zu lauter Stimme, die zeigte, dass sie mit ihren Gedanken völlig woanders war. »Du hast nicht zufällig irgendwo eine Kneifzange rumliegen sehen, oder?«
»Nein«, sagte ich und gab mir keine Mühe, den Frust in meiner Stimme zu verbergen. »Und, woran arbeitest du?«
Mom zögerte. »Ach … nur das Übliche. Rumfriemeln. Experimentieren. Theoretisieren.«
Irgendetwas verbarg sie vor mir, so viel war klar. Aber was?
»Ah, hier bist du, Emily«, sagte Dad, als er reinkam. »Hast du die Zange gefunden?«
»Noch nicht, Schatz.«
»Hmm. Vielleicht ist sie ja in der Garage. Ich geh mal –« Plötzlich bemerkte mich Dad. »Oh, hab dich gar nicht gesehen, Kumpel.«
»Ich steh schon die ganze Zeit hier«, antwortete ich.
»Klar. Natürlich.« Dad fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Haare. Er sah aus, als ob er sich seit einer Woche nicht mehr rasiert hätte.
»Was ist los mit euch?«, fragte ich.
Dad starrte mit leerem Blick durch die Gegend. »Wie meinst du das?«
»Ihr verbringt eure ganze Zeit im Labor. Und wenn ihr mal rauskommt, merkt ihr gar nicht, was läuft. Seit Tagen hat hier niemand mehr was gekocht oder abgewaschen, geschweige denn irgendwas eingekauft.«
Mom wollte etwas sagen, aber dann schüttelte sie nur den Kopf. Dad senkte die Augen.
»Was?«, sagte ich. »Was ist los?«
Meine Eltern wechselten einen langen Blick. Als mich Dad wieder ansah, sagte er: »Vielleicht ist es am besten, wenn du mal mit uns rauf ins Labor kommst. Wir müssen dir etwas zeigen.«
Sie führten mich mit schweren Schritten und hängenden Schultern nach oben. Schließlich drehte sich Dad zu mir um und warf mir einen müden Blick zu, bevor er die Labortür öffnete.
Mein letzter Besuch im Labor lag sechs Monate zurück und war nicht besonders gut verlaufen. Einer der Zombies hatte mich für seinen Nachmittags-Snack gehalten, und ich hätte um ein Haar nicht überlebt. Seitdem mied ich diesen Ort.
Zum Glück hatte Mom die Zombies vor ein paar Monaten in den Keller verfrachtet. In der Ecke standen ein paar verdächtig aussehende Zimmerpflanzen, die unter einer künstlichen Sonne gediehen, doch sie hegten offensichtlich nicht den gleichen Groll gegen mich wie Micus. Zumindest noch nicht.
Das Labor schien sich wie immer im Zustand eines gut organisierten Chaos zu befinden. Links von mir stand ein Regal, auf dem sich Betriebsanleitungen, Lehrbücher über Teilchenphysik und Biologie, versiegelte Glasgefäße mit toxischen Chemikalien und Kataloge von VexaCorp stapelten. Als Buchstütze diente eine von Dads alten Schutzbrillen. Mitten in dem Raum befand sich ein großer Stahltisch. Auf der Tischplatte standen kreuz und quer Reagenzgläser herum, die zur Hälfte mit grüner oder blauer Flüssigkeit gefüllt waren. An der Wand rechts von mir gab es eine Tafel mit obskuren Zeichen und eng geschriebenen mathematischen Gleichungen.
Ich folgte meinen Eltern zu einem Glasbehälter, der auf einem Zeichentisch am hinteren Ende des Raums stand.
»Vielleicht hältst du besser ein bisschen Abstand«, sagte Dad, während er durch das Glas schaute.
Ich wusste nicht so recht, wovor ich Angst haben sollte. Der Behälter hatte etwa die Größe eines Schuhkartons und schien leer. Aber ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Ich kannte meine Eltern gut genug, um zu wissen: Die Tatsache, dass man nichts sehen konnte, hieß noch längst nicht, dass man von nichts verletzt werden konnte.
Ich trat ein paar Schritte von dem Behälter zurück. »Weit genug?«
Dad schaute sich zu mir um. »Wahrscheinlich.«
Nur zur Sicherheit trat ich lieber noch einen Schritt weiter nach hinten.
Dad öffnete die oberste Schublade eines Aktenschranks, griff hinein und holte ein kleines schwarzes Ding heraus, das genau in seine Hand passte.
»Diesen Apparat habe ich erfunden, um ein stark vergrößertes Bild von Dingen zu erzeugen, die zu winzig sind, um sie mit normaler Sehkraft erkennen zu können«, sagte er.
»So kann mir dein Vater Sachen zeigen, die normalerweise nur er sieht«, ergänzte Mom.
»Das heißt, es ist ein Mikroskop?«
»Es ist weit mehr als ein Mikroskop«, antwortete Dad und klang ein bisschen, als wollte er sich verteidigen. »Das Gerät ermöglicht es seinem Benutzer, von dem vergrößerten Objekt ein 3-D-Bild zu erzeugen und es dann aus allen denkbaren Blickwinkeln zu untersuchen. Und das Teil passt in jede Hosentasche.«
»Dein Vater hofft, dass ihm VexaCorp diese Erfindung abkauft«, erklärte mir Mom.
»Schreckoskop«, sagte Dad und starrte in die Ferne, als ob er sich das Wort auf einem Plakat vorstellte. »So würde ich es gerne nennen. Aber wer weiß, wie es jetzt weitergeht, wo Phineas Vex verschwunden ist.«
Die Erinnerung an die Ereignisse bewirkte, dass Dad ganz bleich im Gesicht wurde. Für einen Moment schwieg er, bevor er sich wieder zu dem Glasbehälter umwandte. Dann legte er auf dem Zeichentisch einen Schalter um, und der Deckel des Behälters glitt auf. Dad beugte sich vor und spähte hinein. Er senkte das Schreckoskop in den Behälter und stellte es vorsichtig auf den Boden. Als er danach einen kleinen Knopf an der linken Seite des Schreckoskops drückte, erschien auf dem Computermonitor ein Bild. Es sah aus wie ein silbernes Ei mit einer Düse, die vorn herausragte.
»Und ihr wollt mir ernsthaft erzählen, dass das da in dem Glaskasten ist?«
»Genau«, antwortete Mom. »Nur in viel kleinerem Maßstab.«
Plötzlich begriff ich, wieso mein Dad mich gewarnt hatte, mehr Abstand von dem Kasten zu halten. Es diente nicht meiner eigenen Sicherheit. Sondern vielmehr der Sicherheit dessen, was in dem Glasbehälter war.
»Was ist das?«
»Erinnerst du dich noch an diese Rauch-Gestalten?«, fragte mich Dad.
»Du meinst diese unaufhaltsamen Monster, die eine ganze Messehalle voller Superschurken angegriffen haben? Nein, die hatte ich völlig vergessen.«
Dad ignorierte meinen Sarkasmus und zeigte auf das Monitorbild. »Das da ist ein winzig kleines Stück der Rauch-Gestalt.«
»Aber – wie?«
»Die Gestalt besteht nämlich keineswegs aus Rauch«, sagte Dad. »In Wahrheit ist sie ein verdichtetes anthropomorphes Kompositum ferngesteuerter Nanowesen.«
»Na, das erklärt dann ja alles.« Ich verdrehte die Augen.
»Was dein Vater zu sagen versucht, ist«, erläuterte Mom, »dass die Rauch-Gestalten aus Millionen winziger Flugroboter bestehen. Robotern wie diesem hier.« Sie nickte in Richtung des silbernen Eis. »Jeder dieser Roboter ist mikroskopisch klein. Viel zu klein, um ihn mit dem menschlichen Auge zu sehen. Deshalb können wir ihn nur mit einem Mikro–«
Dad warf ihr einen bösen Blick zu.
»Mit einem Schreckoskop erkennen«, sagte Mom. »Wenn wir ihn etwas näher heranzoomen, siehst du, dass da etwas aufgedruckt ist.«
Sie zeigte auf eine Stelle an der Seite des Roboters. Es schien nur ein Schmutzfleck zu sein, aber als Mom die Zoom-Taste drückte, sah ich, dass es etwas anderes war. Ein Logo.
C
Wandelnder Rauch™
»Wofür steht das C?«, fragte ich.
»Das wissen wir nicht«, antwortete Dad. »Aber wer immer das da geschaffen hat, muss Unmengen Geld und Ressourcen besitzen, um so eine ausgeklügelte Technologie zu entwickeln.«
»Jemand hat es geschafft, Millionen von diesen Dingern zu produzieren«, meinte Mom mit einem Blick auf das Bild des Roboters. »Und wenn sie zusammenkommen, dann bilden sie eine Art –«
»Schwarm«, sagte Dad zitternd. »Sie fliegen wie Insekten zusammen – so dicht nebeneinander, dass die Illusion einer bestimmten Form entsteht. In diesem Fall einer Wolke. Einer Wolke, die so programmiert ist, dass sie aussieht wie ein wandelnder Mensch.«
»Wir sprechen von Nanotechnologie in einem Maßstab, wie man ihn noch nie gesehen hat«, sagte Mom.
»Und was passiert, wenn diese Wolke – äh, diese Nanowesen … ach, was weiß ich, wenn diese Gestalt jemanden frisst?« Ich schaute beunruhigt von Mom zu Dad. »Stirbt die Person dann?«
»Soweit wir wissen, nicht«, erklärte Dad. »Wenn sich die Gruppe der Nanowesen um jemanden sammelt, verliert sie ihre menschenähnliche Form. Stattdessen erschafft sie ein Tor. Zuerst umzingeln die Nanowesen ihr Opfer. Dann feuert jedes aus der Düse vorn einen konzentrierten Energiestrahl.
Jeder einzelne Strahl ist viel zu klein, um ihn mit bloßem Auge zu sehen«, erklärte Mom weiter. »Aber wenn sie sich alle auf dasselbe Objekt fokussieren und gleichzeitig feuern, sieht es aus wie –«
»Ein Blitz«, flüsterte ich.
Eine Erinnerung schoss mir durch den Kopf. Phineas Vex, von Rauch umgeben, von einer dunklen Wolke verschlungen. Ein Lichtstrahl hatte den düsteren Raum erfüllt. Genau wie bei einem Blitz.
Und dann war Phineas Vex verschwunden.
»Jeder Energiestrahl ist in der Lage, Materie aufzubrechen und ein einzelnes Molekül zu transportieren«, sagte Mom. Millionen dieser Nanowesen bedeuten Millionen Energiestrahlen. Der Mensch, der mitten in der Wolke steckt, wird in lauter einzelne Moleküle aufgelöst und danach Stück für Stück an einen anderen Ort verfrachtet. Und dort werden die Moleküle wieder zusammengesetzt. Mit anderen Worten, die Person wird teleportiert.«
»Und wie habt ihr das Ding da erwischt?« Ich zeigte zu dem Bild des Nanowesens auf dem Computer.
»Ehrlich gesagt haben wir dir das zu verdanken.« Dad lächelte mich an.
»Mir? Wieso das?«
»Erinnerst du dich, wie du mit dem verkohlten Stück Tofu nach der Rauch-Gestalt geworfen hast?«
Ich nickte. So eine Sache vergaß man ja schließlich nicht so leicht.
»Nun, als das Stück Tofu spontan in Flammen aufging, behielt es trotzdem noch etwas von seiner charakteristischen klebrigen Beschaffenheit. Als du es auf die Rauch-Gestalt geschleudert hast, blieben ein paar von den Nanowesen an dem Klumpen verbranntem Tofu kleben.«
»Als wir aus der Messehalle flohen, sah dein Vater den Tofu – und was darin eingeschlossen war«, erklärte Mom.
Ich erinnerte mich an das Chaos in der Halle. Brennende Stände, randalierende Rauch-Gestalten. Und daran, wie Dad plötzlich stehen blieb und irgendwas aus den Trümmern aufhob. Mit seiner super Sehschärfe hatte er die Nanowesen entdeckt, die an dem Tofu klebten.
»Als wir nach Hause kamen, haben dein Vater und ich eines dieser Nanowesen deaktiviert und in den Behälter gelegt, um es zu beobachten«, sagte Mom. »Im Innern seines Schaltkreises befindet sich ein Chip, der mit Aufspür-Koordinaten programmiert ist. Wenn wir auf diesen Chip zugreifen könnten, ließe sich herausfinden, wohin all die Schurken gebracht wurden.«
Ich spürte einen Hoffnungsschimmer. »Und dann könntet ihr herausfinden, wer so was macht!«
Dad seufzte. »Ganz so einfach ist es leider nicht. Wer immer das hier entwickelt hat, wusste genau, was er tat. Der Chip sitzt in einem schützenden Titangehäuse. Um an den Chip heranzukommen, muss man das Gehäuse aufbrechen. Aber wenn man das Gehäuse aufbricht, zerstört man den Chip.«
»Das heißt, das war’s? Es gibt keine Möglichkeit, die Dinger zu stoppen?«
Die Rauch-Gestalten waren noch immer da draußen. Sie konnten jederzeit wieder angreifen.
Ich starrte in den Glasbehälter. Er wirkte leer, doch er konnte meine Familie vernichten.
Moms Stimme zerriss das Schweigen. »Eine Möglichkeit gibt es vielleicht, an den Chip heranzukommen«, sagte sie. »Eine chemische Substanz, die zenoplyrische Säure heißt. Sie ist aber extrem gefährlich.«
»Vor zwei Jahren haben wir versucht, eine Ladung davon zu stehlen, aber Captain Saubermann musste sich ja unbedingt einmischen.« Dad starrte wütend auf den Zeichentisch. »Er hat mir damals fast das Fußgelenk gebrochen, dieser Idiot.«
»Wie auch immer«, fuhr meine Mom fort. »Eine kleine Menge zenoplyrische Säure könnte das Titangehäuse um den Chip auflösen –«
»Ohne den Chip selbst zu zerstören –«
»Was uns die Möglichkeit gäbe, herauszufinden, wohin die Superschurken gebracht wurden.«
»Aber ihr habt gesagt, das Zeug ist gefährlich.«
»Extrem gefährlich«, betonte Dad. »Doch es gibt eine Adresse in einem Vorort der Stadt, wo ein paar Fläschchen zenoplyrische Säure zu kriegen sind. Bei ChemiCo Labs. Natürlich verwahren sie die Fläschchen unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen. Mit bewaffneten Schutzleuten. Mit Überwachungskameras. Und so weiter.«
»Und … wie wollt ihr an das Zeug rankommen?«
»Ach, uns wird schon irgendwas einfallen«, sagte Dad, und ein vertrautes Leuchten blitzte in seinen Augen auf. »So wie uns eben immer etwas einfällt.«