22
Du kannst dich nicht immer nur auf deine Superkraft verlassen. Manchmal brauchst du auch Geschick, Talent und Glück.
Von innen wirkte das Hotel noch schäbiger als von außen.
In der Nähe des Eingangs wand sich eine Treppe in eine schattige Finsternis hinauf. Am Fuß der Treppe glotzten uns zwei verrostete gusseiserne Wasserspeier entgegen. Triste Vorhänge verdeckten die Fenster des Eingangsbereichs. Alles lag im Dunkel verschleiert. Und nirgends gab es ein Zeichen von Captain Saubermann oder sonst irgendwem.
Wir waren allein.
Die Dielenbretter knarrten unter unseren Füßen, als wir an der lang gestreckten Rezeption vorbeigingen. Doch auch dahinter herrschte, wie überall sonst, gähnende Leere.
Am Ende des Eingangsbereichs ging es in einen offenen Flur. Aus dem Augenwinkel glaubte ich zu erkennen, wie ein dunkler Schemen den Flur entlang lief. Doch als ich genau hinschaute, sah ich nichts außer verblichenem Teppichboden und Tapeten, die sich von den Wänden lösten.
»Findet ihr wirklich, wir sollten hier übernachten?«, fragte Milton. »Vielleicht gibt es ja irgendwo in der Nähe ein Bed-and-Breakfast, das wir uns vorher mal ansehen könnten.«
»Mein Dad ist hier«, sagte Sophie. »Wir müssen ihn unbedingt finden.«
Wir schoben eine Tür auf, die in einen riesigen Raum mit schmutzigen Fliesenwänden führte. In der Mitte des Raums fiel der Boden senkrecht nach unten ab. Um das Loch herum standen Kunststoffsessel.
»Das ist ein Hallenbad«, sagte Sophie. »Sie haben das ganze Wasser abgelassen.«
Auch wenn es kein Wasser gab, war der Pool trotzdem nicht leer. Unten lag ein Haufen Uniformen und Accessoires von Superschurken. Ich erkannte den Umhang und die Lanze, die mal dem Gräuelator gehört hatten. Und die gepanzerten Handschuhe von Tesla der Schrecklichen.
Und plötzlich verkrampfte sich mein Herz, als ich oben auf dem Haufen die Brille von meinem Dad sah. Daneben lagen ein grün-schwarzes Kleiderbündel und eine Panzerweste, die nur meiner Mom gehören konnten.
»Meine Eltern«, flüsterte ich. »Sie sind hier. Oder zumindest waren sie hier.«
Ich starrte hinunter in den trockengelegten Pool. Ein Schatten legte sich über meine Gedanken.
»Wieso liegt wohl das ganze Zeug da drinnen auf einem Haufen?«, fragte ich. »Glaubt ihr vielleicht, dass meine Eltern –«
»Nein«, sagte Sophie. Sie musste gewusst haben, was ich sagen wollte. »Das würde mein Dad nicht tun.«
»Und was ist mit den Rauch-Gestalten oder den Raufbolden mit Feuerhintern, die dein Dad steuert?«, fragte ich. »Und mit all den anderen Geheimnissen, die dein Dad dir nicht erzählt?«
Sophie warf mir einen wütenden Blick zu. Aber meine Angst war zu groß, als dass ich den Mund halten konnte.
»Vielleicht ist dein Dad ja gar nicht der, für den du ihn hältst«, sagte ich.
Sophies Hände waren jetzt zu zitternden Fäusten geballt.
»Hey, kommt schon«, sagte Milton in gespielt heiterem Ton. »Wir wissen doch überhaupt nicht, was hier passiert ist. Ich bin sicher, deinen Eltern geht’s gut.« Er tätschelte mir den Rücken. »Wahrscheinlich haben sie sich nur ausgezogen, um mal ein bisschen nackt zu baden.«
Doch die Vorstellung, dass hundert Superschurken zusammen nackt badeten, konnte mich auch nicht aufheitern (zumal, wenn meine Eltern dabei waren). Außerdem sah es hier wirklich nicht so aus, als ob noch ein Whirlpool existierte. Es musste eine andere Erklärung geben, warum die ganzen Klamotten in das leere Becken geworfen worden waren. Und ich wusste, etwas Gutes bedeutete das ganz sicher nicht.
»Los, kommt«, sagte ich. »Kann sein, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt.«
Wir hatten fast das andere Ende des Pools erreicht, als sich plötzlich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten löste. Panik schnürte mir die Brust zu. Die Gestalt drehte sich um und starrte uns an, aber dort, wo das Gesicht hätte sein müssen, war nur eine konturlose Wolke.
Eine Rauch-Gestalt.
Sie stand in der Ecke, gleich neben einem Schild mit dem Hinweis »Kein Bademeister im Dienst«.
Ich wirbelte herum und wollte in die Richtung wegrennen, aus der wir gekommen waren. Aber weiter kam ich nicht. Eine zweite Rauch-Gestalt bewegte sich direkt auf uns zu.
»Da lang!« Sophie zeigte auf eine Tür am anderen Ende des Raums.
Unsere Schritte hallten von den Fliesenwänden, als wir um den Rand des Pools jagten, vorbei an einem Ständer mit Schwimmhilfen, die aussahen, als ob sie zum letzten Mal in einer Zeit vor meiner Geburt benutzt worden wären. Die Rauch-Gestalten stolzierten weiter auf uns zu und kamen Stück für Stück näher.
Eine streckte den Arm aus. Ihre Finger wirkten wie Schlinggewächse aus Rauch. Ich rannte weiter, folgte Sophie und Milton einen schmalen Gang entlang, der sich durch endlose schäbige Zimmer und verlassene Büros wand.
Rings um mich herum erkannte ich aus dem Augenwinkel den verfallenen Zustand des Hotels. Kaputte Möbel, verstaubte Antiquitäten, schief hängende Kandelaber. Wir hatten keine Zeit, uns zu überlegen, wohin wir eigentlich rannten. Die Rauch-Gestalten waren uns dicht auf den Fersen. Ihre dunklen Körper bewegten sich geräuschlos in unserem Schlepptau.
Wir liefen in einen Flur, der auf eine Küche zuführte, und rannten an einem Kühlschrank mit fehlender Tür und einem zusammengebrochenen Herd vorbei. Milton stieß gegen eine Anrichte und schickte krachend eine Flut verrosteter Töpfe und Pfannen zu Boden.
Als wir durch die nächste Tür platzten, standen wir plötzlich in einem Ballsaal. So wie das ganze Hotel wirkte auch er wie ein altes Gemäuer, das vor vielen Jahren vielleicht einmal schön gewesen war. Verblichene Samtvorhänge umgaben die Wände. Die Bar in der Ecke sah aus, als hätte eine Abrissbirne mitten hineingeschlagen.
Sekunden später drangen auch die Rauch-Gestalten in den Saal. Wir liefen ans andere Ende und blieben ruckartig stehen, als wir sahen, was dort durch die andere Tür getreten war. Zwei weitere Rauch-Gestalten. Nun waren sie zu viert und versperrten beide Ausgänge.
Sie hatten uns umzingelt.
»Was machen wir jetzt?« Milton starrte mit vor Angst weit aufgerissenen Augen in Richtung der immer näher kommenden Rauch-Gestalten.
»Keine Ahnung«, sagte ich, »aber wir müssen uns was überlegen. Dreh jetzt nicht durch!«
»Zu spät!«
Die wolkigen Gestalten erreichten uns, ihre Rauch-Beine trugen sie leichtfüßig über die fleckigen Teppiche.
Ich schaute mich in dem heruntergekommenen Ballsaal um und suchte verzweifelt nach einem Fluchtweg. Plötzlich entdeckte ich einen mit Brettern vernagelten Kamin direkt neben der Bar. Wenn wir es rechtzeitig bis dorthin schafften, konnten wir vielleicht hineinklettern und waren in Sicherheit.
Sophie hatte die gleiche Idee. Sie rannte schon los, Milton und ich folgten dicht hinter ihr. Als sie den Kamin erreichte, glühte ihre Haut. Sie riss die Bretter weg, als wären sie aus Papier.
»Wahnsinn«, sagte sie, als sie in den Kamin blickte.
Ich schaute ihr über die Schulter und sah, was sie so beeindruckt hatte. Das war kein normaler Kamin. Das war ein Tunnel.
Wir hatten keine Zeit, uns zu wundern, wieso das Hotel einen begehbaren Kamin hatte oder wo der Tunnel hinführte. Die Rauch-Gestalten schwebten immer näher heran.
»Rein da, schnell!« Meine Stimme hallte im Tunnel wider.
Milton ging als Erster, gefolgt von Sophie. Schon ragten die Rauch-Gestalten über mir auf, als ich gerade noch schnell hinter ihr hineinkroch.
Der schmale Gang führte in engen Windungen steil nach unten, so dass es uns vorkam, als ob wir uns immer tiefer in die Erde gruben. Es war dunkel, doch zum Glück glühte Sophie wie ein Nachtlicht in Menschengestalt und erhellte den steinernen Tunnel, der endlos weiterzuführen schien.
Meine Schuhe rutschten auf dem steilen felsigen Boden und meine Arme schrammten an den zerklüfteten Wänden entlang, aber ich wusste, ich musste weiter.
Plötzlich schrie ich laut auf, als sich etwas um meinen Knöchel legte. Ich stürzte nach vorn. Panik schoss mir durch sämtliche Adern. Ich taumelte zur Seite und erwartete, dunkle Schemen der Rauch-Gestalten zu sehen, die auf mich niederschossen. Doch der Tunnel war leer. Keine Rauch-Gestalten. Nichts.
Mein Fuß steckte in einem Loch im Boden fest.
Ich holte tief Luft und versuchte mich zu beruhigen, danach befreite ich mit einem festen Ruck meinen Fuß. Dann schaute ich noch mal zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren, und erkannte die wolkenhaften Silhouetten der Rauch-Gestalten in der Kaminöffnung, durch die wir eingestiegen waren.
»Scheint so, als ob sie uns nicht mehr verfolgen«, sagte ich.
»Was glaubst du, wieso sie oben geblieben sind?«, fragte Sophie.
»Vielleicht haben sie ja Platzangst«, hallte Miltons zittrige Stimme durch den Tunnel. »Oder vielleicht ist am Ende des Tunnels irgendwas, vor dem sogar sie sich fürchten.«
»Tja, wenn wir nicht zurückgehen und sie persönlich fragen wollen, bleibt uns nichts anderes übrig als weiterzugehen«, sagte Sophie.
Wir marschierten weiter nach unten, jetzt etwas langsamer, seit wir wussten, dass uns niemand mehr folgte. Ich beobachtete, wie unsere Schatten an den Steinmauern tanzten, und horchte auf unsere Schritte, die dumpf in dem engen Gang widerhallten.
Schließlich entdeckten wir vor uns ein schwaches Licht. Der Tunnel verlief jetzt flacher. Wir gingen weiter und versuchten, so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Sophies Superkraft musste nachgelassen haben, denn ihr Leuchten wurde schwächer. Als wir das Ende des Tunnels erreichten, wirkte ihre Haut wieder völlig normal.
Vor uns befand sich eine Öffnung. Milton ging als Erster hindurch, dann Sophie, danach ich. Als ich heraustrat, hielt ich den Atem an.
Vor uns lag eine stählerne Rampe. Dahinter öffnete sich ein höhlenartiger Raum, der sich bis weit unter uns erstreckte. Eine Treppe links von uns führte zum Boden der Höhle hinab. Wenn auch der Rest des Hotels so aussah, als ob er seit den letzten fünfzig Jahren vor sich hin rottete, so wirkte dieser Teil eher wie aus der Zukunft.
Die Rampe war von silbernen Kanistern umgeben, die zwei Stockwerke hoch aufragten. Drähte hingen aus den Böden der Kanister wie ein Gewirr regungsloser Schlangen.
»Ich kann nicht glauben, dass das hier ein Teil dieses klapprigen alten Hotels sein soll«, flüsterte ich.
Wir suchten Deckung und schauten hinab in den Raum unter uns. Weitere silberne Kanister standen dort an den Wänden aufgereiht, jeder mit Dutzenden Drähten verkabelt, die alle in eine Richtung führten – auf eine Glasscheibe zu. Ich streckte mich, um zu sehen, was sich hinter der Scheibe befand, doch es war zu dunkel, um irgendwas sehen zu können.
Plötzlich spürte ich, dass sich etwas bewegte, und sofort wurde mir klar, dass wir nicht allein waren. Zwei Männer gingen zur Mitte des Raums unter uns. Einer von ihnen trug einen dunklen Anzug und hatte ein Gesicht, das mir seltsam bekannt vorkam.
Der andere Mann war deutlich leichter zu erkennen. Die silberne Uniform, der glänzende blaue Umhang und die passenden Handschuhe waren unverkennbar.
»Dad?«, rief Sophie.
Als sie ihre Stimme hörten, wirbelten Captain Saubermann und der andere herum.
Milton und ich hielten uns weiter hinter einem der Kanister versteckt, während Sophie die Treppe hinunterging.
»Sophie?«, sagte Captain Saubermann. »Was zum Teufel machst du hier?«
»Das wollte ich dich gerade fragen«, antwortete sie.
»Woher weißt du, wo ich bin? Und wie bist du überhaupt hergekommen? Hat Stanley dich gefahren? Sobald ich zurück bin, muss ich den Roboter unbedingt neu –«
»Stanley hat mich nicht gefahren. Ich hab eine andere Möglichkeit gefunden, herzukommen.«
»Was ist los, Captain S?«, fragte der Mann im schwarzen Anzug.
Sobald er sprach, wusste ich, wo ich ihn schon mal gesehen hatte. Er war der Hologramm-Kopf. Fink.
Sophies Schritte schlugen mit einem metallischen Klirren gegen jede Stufe, bis sie das Ende der Treppe erreicht hatte.
»Ich weiß, Sie sind ein Familienmensch und so«, sagte Fink zu Captain Saubermann, »aber ich dachte, das hier sei ein privates Treffen.«
»Ist es auch«, antwortete Captain Saubermann. »Sophie, du solltest nicht hier sein.«
»Ich weiß bereits von deinem geheimen Projekt«, konterte Sophie.
Captain Saubermann legte verwirrt die Stirn in Falten. »Du weißt davon? Aber … woher?«
»Das spielt keine Rolle. Der Punkt ist, ich weiß es – und ich bin da, um dich zu bitten, es fallenzulassen.«
»Schau mal, mein Schatz … ich bin mir ja bewusst, dass das hier als große Veränderung gesehen werden könnte. Aber manchmal müssen Veränderungen eben sein.«
»Und warum verhältst du dich dann so geheimnistuerisch?«
»Ich hatte ja vor, es öffentlich bekanntzugeben. Deshalb haben Fink und ich uns getroffen. Wir sind hier, um den nächsten Schritt des Projekts zu besprechen. Die Pressemitteilung ist schon fertig, die neue Uniform ist entworfen –«
»Okay, ich glaube, das geht jetzt ein bisschen zu schnell«, unterbrach ihn Fink. »Vielleicht sollten wir das besser später besprechen –«
Aber Sophie ignorierte Fink. »Ich weiß über alles Bescheid, Dad«, sagte sie. »Über den kleinen Plan, mal eben sämtliche Superschurken der Welt durch mikroskopische Roboter zu teleportieren.«
»Mikroskopische Roboter? Teleportieren?« Captain Saubermann schüttelte den Kopf.
»Captain S«, sagte Fink. »Ich glaube wirklich, wir sollten das –«
»Du hast mich und meine Freunde fast umgebracht – zwei Mal!«, sagte Sophie. »Gehört das etwa auch zu deinem tollen Plan?«
»Sophie, ich würde doch nie …« Captain Saubermann wirkte bestürzt, als ob er von den Details des Plans gerade zum ersten Mal erfuhr. »Du musst dich irren. Fink und ich arbeiten an einem geheimen Projekt, das stimmt. Aber dabei geht es doch nicht um das Teleportieren von Schurken oder um den Versuch, jemanden zu töten.«
Bevor Captain Saubermann weitersprechen konnte, griff Fink in seine Tasche und zog ein Handy heraus. Er tippte mit seinem Finger auf das Touchpad. Im selben Moment bildete sich eine gewaltige rot glühende Wand um die Stelle, an der Sophie und Captain Saubermann standen, und hielt die zwei wie in einem Käfig gefangen. Fink starrte sie von draußen an und hatte dabei sein Handy fest umklammert.
Captain Saubermann schlug mit der Faust gegen die glühende Wand. Doch egal, wie fest er dagegen hämmerte, das Hindernis rührte sich nicht.
»Was soll das, Fink?«, schrie Captain Saubermann. »Was haben Sie getan?«
»Tut mir leid, Captain S«, antwortete Fink von der anderen Seite, »aber es ist, wie Sie gesagt haben, manchmal müssen Veränderungen eben sein.«
»Fink, Sie sollen verflucht sein! Lassen Sie uns sofort raus aus diesem Ding!«
»Ich fürchte, das kann ich nicht. Mein Chef will, dass Sie dort bleiben.«
»Ich bin Ihr Chef!«
»Nicht mehr. Ich habe jetzt einen neuen Chef. Und der zahlt deutlich besser.«
Plötzlich gab es ein Geräusch von der anderen Seite des Raums. Schritte. Das rhythmische Auftreten von Schuhen, die sich über den Boden bewegten. Und noch etwas anderes – das gleichmäßige Klacken eines Stocks.
Eine Gestalt trat aus dem Schatten. Ein Mann, ganz in Dunkel gehüllt. Er bewegte sich langsam. Unterstützt von dem Stock, trat er an die glühende Wand.
Phineas Vex.