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Es ist völlig normal, sich fremd und anders zu fühlen.




In den letzten Monaten hatte es bereits ähnliche Vorfälle gegeben. Verrückte, unerklärliche Dinge, die um mich herum passierten. Zum Beispiel irgendwann mitten in einer Mathearbeit, als plötzlich der Stift in meiner Hand explodierte. Oder das andere Mal, ein paar Wochen später, als ich auf dem Boden saß, um ein Videospiel zu spielen, und plötzlich spürte, dass irgendwas brannte. Ich warf den Controller zur Seite und rappelte mich hoch. Und da sah ich den Brandfleck im Teppich, exakt dort, wo ich gerade eben noch gesessen hatte. Und er hatte genau die Form von meinem Hintern.

Unsere Lehrerin für Gesundheitserziehung hatte uns erklärt, dass »der Körper in eurem Alter eine Menge merkwürdiger und wunderbarer Veränderungen durchmacht«.

Aber irgendwie glaubte ich nicht, dass sie so was damit gemeint hatte.

Die folgenden Schulstunden verbrachte ich mehr oder weniger in benebeltem Zustand. Irgendetwas Merkwürdiges passierte hier, und ich musste unbedingt herausfinden, was.

Zum Mittagessen setzte ich mich in der Cafeteria an einen freien Tisch und versuchte noch einmal die Powerwelle zu erzeugen, die ich zuvor gespürt hatte. Ich blendete sämtliche Geräusche um mich herum aus und konzentrierte mich. Zuerst passierte nichts. Aber dann spürte ich es. Ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen. Mein Herz pochte, als sich ein Energieschub die Arme entlang ausbreitete, und dann –

»Alles in Ordnung? Du siehst aus, als ob du einen Käfer verschluckt hättest.«

Milton stellte sein Tablett neben mir auf den Tisch. Meine ganze Konzentration war plötzlich verpufft. Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt etwas gespürt hatte.

»Hey, Milton«, sagte ich.

Den Mund noch halb voll mit Makkaroni und Käse, setzte Milton zu einer detaillierten Nacherzählung des Kampfs zwischen meinen Eltern und Captain Saubermann an. »Und wie Captain Saubermann die Fernbedienung mit seiner Lanze der Freiheit zerstört hat!« Milton hob eine Gabel voll Makkaroni, als wäre sie eine Lanze. »Hast du das Gesicht von Dr. Schreck bemerkt, als plötzlich das Wetter besser wurde? Er hat so dämlich ausgesehen!«

Ich wusste nicht, wie viel mehr ich noch aushalten würde. Es war schon schlimm genug, zuzuhören, wie meine Eltern in den Nachrichten und auf dem Schulflur beleidigt wurden. Jetzt kriegte ich es auch noch von meinem besten Freund zu hören.

Aber was sollte ich tun? Ich konnte ja schlecht herumlaufen und das Schreck-Duo verteidigen.

Auf einmal schwieg Milton. Als ich aufblickte, sah ich, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die Cafeteria Girls hatten sich gerade an das andere Ende von unserem Tisch gesetzt.

Es waren vier. Siebtklässlerinnen. Schön – wenn man auf total mit Make-up vollgekleisterte Gesichter steht. Sie teilten schon seit zwei Monaten unseren Tisch (nicht dass sie je Notiz von uns nahmen), und irgendwann hatten Milton und ich damit angefangen, sie Cafeteria Girls zu nennen (auch wenn wir ihnen das natürlich nie sagten). Sofort taten sie das, was sie immer taten – jeden zu kritisieren, der in ihrem Blickfeld aufkreuzte.

»Jetzt guckt euch mal Jenny Allens neue Frisur an!«

»Ist das ein Pickel oder wächst James Wendler da ein zweiter Kopf?«

»Schaut mal die Schuhe von Maria Rodriguez an! Wo stammen die denn her? Hat sie die einem obdachlosen Astronauten geklaut?«

So ging es die nächsten zehn Minuten immer weiter. Bei jedem, der durch die Cafeteria lief, zogen sie über Klamotten, Aussehen oder Körperpflege her. Weil wir so dicht in ihrer Nähe saßen, waren wir über sämtliche Gerüchte und alles Gerede, das die Sheepsdale Middle School zu bieten hatte, stets auf dem allerneuesten Stand.

»Wer ist denn die Neue da?« Eines der Mädchen zeigte durch die Cafeteria auf jemanden, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.

»Sophie Smith aus der Sechsten.«

»Wisst ihr, was Daniel Clark über sie erzählt hat?«

Die übrigen Cafeteria Girls schüttelten den Kopf.

»Daniels älterer Bruder arbeitet nämlich bei der Spedition, die Sophie Smith und ihrem Dad beim Einzug in dieses – wie soll ich sagen –, in dieses Schloss geholfen hat, das da draußen vor der Stadt liegt. Eine Mom hat sie nicht. Brüder oder Schwestern auch nicht. Das heißt, es gibt nur die zwei in dem riesigen Haus. Und das ganze Zeug, mit dem sie umgezogen sind! So was, sagt Daniel, hätte sein Bruder noch nie gesehen.«

»Was denn für Zeug?«

Das Mädchen, das die Geschichte erzählte, senkte die Stimme und beugte sich über den Tisch. Die anderen beugten sich auch vor. Milton und ich reckten die Hälse, um noch irgendwas mitzubekommen.

»Komisches Zeug«, flüsterte sie. Drei Umzugswagen voll mit Flachbildfernsehern. Aber es gab noch mehr. Ein Wagen hatte nur leere Kisten geladen. Ich meine, wer zieht denn mit einem ganzen Laster voll Kisten um, in denen nichts drin ist?«

Während ich in mein Sandwich biss, fragte ich mich, ob irgendetwas von dem Ganzen tatsächlich stimmte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Milton seine Schokomilch schlürfte und dabei zu lauschen versuchte, ohne aufzufallen.

»Aber wollt ihr das Allerverrückteste hören?« Das Mädchen machte eine ausreichend lange Pause, um genüsslich ihr Kaugummi platzen zu lassen. »Draußen vor dem Haus gibt es Wachtürme. Mit Maschinengewehren.«

Der ganze Tisch stöhnte auf. Milton spuckte seine Milch aus. Zum Glück waren die Cafeteria Girls zu sehr von der Geschichte gebannt, um es zu merken.

»Maschinengewehre? Wieso das denn?«

»Das ist es ja gerade. Niemand hat eine Ahnung, warum. Deshalb glaube ich, Sophie Smith ist die Tochter von – wie soll ich sagen – von irgendeinem Mafiaboss, der total auf Fernseher steht, oder von irgendeinem superreichen Typen, der komisches Zeug sammelt, einfach nur so, ohne Grund, und sich ziemlich um seine Sicherheit sorgt, oder –«

»Psst. Da kommt sie.«

Der Tisch verstummte. Ich warf einen Blick auf Sophie, als sie vorbeiging. Sie hatte leuchtende blaugraue Augen. Während sie mit der einen Hand ihr Tablett hielt, schob sie sich mit der andern eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

Dann schweifte ihr Blick durch den Raum, auf der Suche nach einem freien Platz. Für einen Augenblick tat sie mir leid. Der erste Tag in einer neuen Schule, ohne jegliche Freunde. Das kannte ich nur zu gut.

Ich war schon drauf und dran, Sophie einen Platz an unserem Tisch anzubieten – es wäre die Sache wert gewesen, allein um die dummen Gesichter der Cafeteria Girls zu sehen. Doch bevor ich etwas sagen konnte, kehrte sie um und ging wieder hinaus.

*

Die Gerüchte über Sophie Smith verbreiteten sich wie ein schlimmer Fall von Akne. Die Leute behaupteten, dass ihr Dad irgendeine Berühmtheit sei, die sich hier verstecke. Dass sie die letzten Jahre auf einer Eliteschule für Kids einflussreicher Eltern verbracht habe. Dass sie eine abgedrehte Einzelgängerin sei. Dass sie nur mit Kindern berühmter Leute rede. Dass ihr Dad nach Sheepsdale gezogen sei, um den Paparazzi zu entkommen …

Aber natürlich waren das alles nur Gerüchte. Sophie und ihr Vater waren allen ein Rätsel. Ein Rätsel, über das alle in der Schule Bescheid zu wissen schienen.


Als ich in die siebte Stunde ging, setzte ich mich auf einen Platz ganz hinten. Joey und Ziegelstein saßen wie immer in der Mitte der Klasse (an der günstigsten Stelle für ihre Mogelabsichten). Sobald ich mich hingesetzt hatte, drehten sie sich um und starrten mich an. Ich versuchte, sie nicht zu beachten, doch das war nicht so einfach.

»Ich glaube, Joey und Ziegelstein versuchen, dich auf sich aufmerksam zu machen«, meinte Milton und stupste mir gegen die Schulter.

»Ich weiß, Milton.« Ich konzentrierte mich auf meinen Tisch. »Aber ich ignoriere sie.«

»Ziegelstein hat gerade die Ärmel hochgekrempelt, und jetzt starrt er dich an, während er gleichzeitig mit der Faust auf den Tisch haut.«

»Danke für den Kommentar.«

»Und Joey ist wegen irgendwas super wütend. Ich glaube, er schreibt gerade einen Zettel. Hmm. Wenn ich nur wüsste, was drauf steht. Okay, jetzt faltet er den Zettel zusammen und gibt ihn Jade Walker. Jetzt reicht sie ihn an Sam Berthold weiter und der gibt ihn … Oh – warte mal eben.«

Sam reichte den Zettel an Milton, der ihn kurz ansah und mir dann auf die Schulter tippte.

»Für dich.« Milton ließ den Zettel auf meinen Tisch fallen.

Ich faltete das Blatt auseinander und schaute auf Joeys schluderige Handschrift.

Hallo Scheißstreber,
du = erledigt.
Gruß.
Joey und Ziegelstein
P.S. Sag Milton, er soll die Klappe halten.

Als ich hörte, wie plötzlich überall in der Klasse geflüstert wurde, schaute ich von dem Zettel hoch. Sophie Smith war hereingekommen. Die ganze Klasse beobachtete, wie sie den Raum durchquerte. Selbst Joey und Ziegelstein.

Sophie lief zwischen zwei Tischreihen hindurch nach hinten, wo Milton und ich saßen.

»Ist der Platz hier besetzt?« Sie zeigte auf den leeren Stuhl neben mir.

Ich starrte sie an und musste an alles denken, was ich über sie gehört hatte. Die Umzugswagen voller Fernseher und die leeren Kisten, die Maschinengewehre –

»Nein«, platzte ich heraus. »Ich meine – ja.«

Sophie neigte den Kopf zur Seite.

»Ich meine, nein, der Platz ist frei, und ja, du kannst dich hinsetzen«, brachte ich schließlich heraus.

»Danke.« Und damit setzte sie sich.

In der siebten Stunde hatten wir amerikanische Geschichte. Unsere Lehrerin war Ms McGirt, die ungefähr zwischen siebzig und siebenhundert Jahre alt war. Sie hatte fusselige Haare und Augen, die von dicken Brillengläsern vergrößert wurden.

Ms McGirt war halb blind und zu drei Vierteln taub. Sie missverstand jede Frage, die wir Schüler stellten, sie sah nicht, wenn wir den Arm hoben, und sie erwischte Joey und Ziegelstein nie, wenn die beiden bei den Schülern um sie herum abschrieben. All das machte die Stunde eigentlich ganz interessant, wenn auch aus Gründen, die rein gar nichts mit amerikanischer Geschichte zu tun hatten.

Als es läutete, stand Ms McGirt auf, wankte durchs Klassenzimmer und fing an, uns ihr Unterrichtsprojekt zu erläutern.

»Die besondere Betonung liegt auf ZNOB – Zeit, Name, Ort und Bedeutung.« Sie sprach mit hoher, zittriger Stimme und blinzelte die Klasse an, als hätte sie Zweifel, ob wir überhaupt da seien. »Wenn ihr die ZNOB eines historischen Ereignisses richtig begreift, werdet ihr ein erstklassiges Verständnis für amerikanische Geschichte bekommen. Habt ihr verstanden?«

»Nein«, sagte Joey.

»Sehr gut. Dann machen wir weiter.«

Ziegelstein lachte. Ms McGirt, die nichts mitbekam, redete weiter.

»Alle Schüler der Klasse bilden Dreiergruppen«, sagte sie. »Jede Gruppe wird ein zehnminütiges Referat vorbereiten.«

Die Klasse brach in ein kollektives Stöhnen aus. Ms McGirt ignorierte es (vermutlich, weil sie es gar nicht hörte).

»Eure Aufgabe ist es, ein bestimmtes historisches Ereignis auszuwählen und euch dabei auf die ZNOB zu konzentrieren«, erklärte sie. »Wer kann mir noch einmal sagen, wofür diese vier Buchstaben stehen?«

»Für Zumutung nichtsnutzig oberschwachsinniger Blödheit?«, fragte Joey.

»Das ist korrekt. Für Zeit, Name, Ort und Bedeutung. Und jetzt bildet eure Gruppen.«

Es war klar, dass Milton und ich zusammen in einer Gruppe sein würden. Ich drehte mich um und hielt nach jemand Drittem Ausschau. Sophies Blick traf meinen.

»Hättest du –« Ich brach ab. Das ganze Gerede über sie schwirrte wieder in meinem Kopf herum. Sie war die Tochter von irgendeinem berühmten Heini; sie wohnte in einem Riesenpalast, der mit Maschinengewehren bewacht wurde; sie hing nur mit Kindern anderer berühmter Leute ab. Wieso sollte sich so eine mit jemandem abgeben, den alle Scheißstreber nannten?

»Klar! Ich mache bei euch mit.« Sophie lächelte mich an. »Übrigens, ich heiße Sophie. Sophie – Smith.«

Ich klammerte mich ein bisschen fester an meinen Tisch. Vielleicht bildete ich es mir ja nur ein, doch es war etwas Merkwürdiges an der Art, wie sie ihren Vor- und Nachnamen aussprach. Als ob sie sich nicht mehr richtig erinnerte, wie die beiden zusammengehörten. Nach all den Jahren, in denen ich meine Identität verheimlicht hatte, merkte ich es natürlich sofort, wenn jemand anderes das Gleiche tat.

Joshua Schreck: Fischer. Nur für Jungs
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