11

Weil nur ein kleiner Teil der Bevölkerung mit einer Superkraft geboren wird, ist es äußerst selten, dass man ein zweites begnadetes Kind trifft.




Etliche Spinde waren völlig zerstört. Wo früher die Tür gewesen war, klaffte jetzt nur noch ein gähnendes Loch. Bücher und Unterlagen waren kreuz und quer auf dem Gang verstreut. Joey und Ziegelstein lagen am Boden und stöhnten vor Schmerzen. Vier Spindtüren waren um ihre Körper gewickelt. Die beiden waren bis zum Hals in den verbogenen Stahlblechen gefangen wie menschliche Burritos.

Die Schreie, die ich gehört hatte, waren Schmerzensschreie gewesen.

Joey und Ziegelstein waren in einem Schockzustand, mit leerem Blick starrten sie in die Luft und murmelten vor sich hin. Fast taten sie mir leid. Aber nur fast.

Ich hockte mich neben Joey. »Wer war das?«, fragte ich ihn. Meine Eltern konnten dafür unmöglich verantwortlich sein. Sie mochten ja Superschurken sein, aber auch sie kannten Grenzen.

»Ey, so was hab ich noch nie gesehen …«, murmelte Joey. »Wie ’n Mensch hat der Arsch nicht ausgesehen.«

»Wer? Von wem redest du?«

Joey wimmerte nur als Antwort.

Hinter mir hörte ich das gleichmäßige Klacken von Schritten. Ich wirbelte herum und sah, wie ein Mädchen in die entgegengesetzte Richtung fortging.

Ich wusste es nicht mit Gewissheit, aber ich hätte schwören können, dass es Sophie Smith war.


Eine Mittelschule ist nicht dazu geschaffen, ein Geheimnis zu bewahren. Die Nachricht, was Joey und Ziegelstein passiert war, verbreitete sich in der Sheepsdale Middle School wie ein Lauffeuer.

Jedes Mal, wenn ich die Geschichte hörte, hatte sie sich weiter verändert. Die Grundinfo stimmte zwar noch – die verbogenen Spindtüren, die im Gang verstreuten Bücher und Unterlagen –, aber Etliches war dazugedichtet worden. Zu Beginn der siebten Stunde kochte die Gerüchteküche endgültig über.

»Sie hingen verkehrt herum in der Luft und trugen ihre Unterhose als Mütze«, behauptete Milton.

Er konnte seine Begeisterung kaum verbergen. Wir saßen an unserem gewohnten Platz hinten in der Klasse.

»Alle Spinde auf dem Gang sind total kaputt«, fuhr Milton fort. »Und gebrannt hat es auch. Total verrückt. Und weißt du, was das Beste war?«

»Was?«, fragte ich und versuchte, nicht allzu skeptisch zu klingen.

»Joey hat nach seiner Mama geschrien!« Milton platzte fast vor Lachen.

Alle waren begeistert, dass jemand die zwei fiesesten Typen der Schule zusammengedroschen und so richtig gedemütigt hatte. Doch wie sehr ich die zwei auch hasste, die allgemeine Begeisterung konnte ich nicht teilen. Ich musste unbedingt wissen, wer das getan hatte.

Und offenbar war ich nicht der Einzige.

»Was glaubst du, wer das war?«, fragte Milton Sophie, sobald sie in die Klasse kam.

Sie rutschte auf ihrem Platz herum. »Keine Ahnung. Vielleicht war’s ja bloß irgendein seltsamer Unfall.«

»Niemals! Das muss jemand aus der Schule gewesen sein. Und ich will rausfinden, wer

»Übrigens«, sagte Sophie, und es klang, als ob sie schnell das Thema wechseln wollte. »Wann habt ihr eigentlich vor, mit unserem Projekt anzufangen, Jungs? Nächste Woche müssen wir’s präsentieren. Ich hab gedacht, wir treffen uns vielleicht morgen.«

»Hey, wieso gehen wir nicht in den Spuckschlecht«, sagte Milton. »Wär doch super!«

Der Spuckschlecht war ein Lokal nicht weit von unserer Schule. Es war ein ziemlich schrottiger Laden. Aber man bekam dort so viele Fritten – spiralförmige –, wie man wollte, weshalb es eindeutig Miltons Lieblingsrestaurant war.

»Hat da nicht mal jemand einen abgeschnittenen Daumen in seinem Omelett gefunden?«, fragte Sophie.

»Nur die Spitze«, erklärte Milton. »Keine große Sache. Sie haben dem Typen das Omelett nicht mal in Rechnung gestellt. Ich weiß überhaupt nicht, wieso der sich beklagt.«

Sophie zuckte die Schultern. »Klingt gut. Was meinst du, Joshua?«

Ihre Stimme schien vom anderen Ende eines Tunnels zu kommen. Meine Aufmerksamkeit war von etwas völlig anderem gebannt. Von etwas, das ich gerade erst bemerkt hatte. Sophies Ärmel hatte einen ausgefransten Riss. Es sah so aus, als ob sie mit ihrem Shirt an einem Nagel hängen geblieben wäre. Oder an einem großen Stück Blech.

Plötzlich fügte sich eins zum andern. Dass ich sie am Morgen kurz gesehen hatte. Und der zerrissene Ärmel. Sie war es gewesen, die Joey und Ziegelstein zusammengeschlagen hatte. Aber wie? Die Einzigen, die solch eine Zerstörung anrichten konnten, waren Leute wie meine Eltern oder Captain Saubermann. Leute mit Superkräften. Hieß das, Sophie war … BEGNADET?

In meinem Kopf blitzte Neugier auf. Konnte das wirklich sein? Und wenn ja, was war das für eine Superkraft, die sie besaß?

Die ganze siebte Stunde überlegte ich, ob ich sie darauf ansprechen sollte. Wenn es noch ein BEGNADETES Kind in unserer Schule gab, musste ich das unbedingt wissen. Andererseits, so wie sie die beiden übelsten Kerle der Schule krankenhausreif geprügelt hatte, wusste ich nicht, ob es sonderlich klug war, sie mit persönlichen Fragen zu belästigen.

Wie sich zeigte, blieb mir die Entscheidung erspart. Denn als die Stunde zu Ende war, wollte Sophie mit mir reden.

»Hey, Joshua, warte mal eben.«

Sobald sie mich auf dem überfüllten Gang eingeholt hatte, ahnte ich, was jetzt kommen würde. Sophie würde zugeben, dass sie BEGNADET war. Und mich bitten, niemandem zu erzählen, dass sie gemeine Typen zusammenschlug und Schuleigentum zertrümmerte.

Aber das sagte sie nicht. Stattdessen trat Sophie ganz dicht an mich heran, bis ich ihr direkt in die graublauen Augen sehen konnte.

»Ich weiß, dass du BEGNADET bist«, sagte sie.

Der Boden sackte unter mir weg und nahm den Lärm vom Gang gleich mit. So war das nicht geplant gewesen. Ich sollte doch wissen, dass sie BEGNADET war. Nicht andersrum.

»Wie – wie hast du das rausgefunden?«

»Ich hab gesehen, wie du im Unterricht das Handbuch für BEGNADETE Kinder gelesen hast.« Sie zögerte. »Ich … ich hab auch eins.«

Ich biss mir auf die Zähne. Am Ende des Gangs sah ich Joey und Ziegelstein auf uns zukommen. Joey trug den einen Arm in einer Schlaufe. Ziegelstein hatte eine ziemliche Beule auf der Stirn. Als die beiden Sophie entdeckten, wurden sie bleich wie Geister. Joey drehte sich um und humpelte in die andere Richtung. Ziegelstein folgte dicht hinter ihm.

»Vielleicht sollten wir irgendwo hingehen, wo wir mehr unter uns sind«, sagte Sophie.

*

Schweigend gingen wir aus der Schule und an der Reihe wartender Busse vorbei, bis wir einen Hügel erreichten, von dem aus man das Football-Feld überblicken konnte.

»Wie lange weißt du schon, dass du BEGNADET bist?«, fragte Sophie.

Ich zögerte. Es war komisch, das mit einer Mitschülerin zu besprechen, aber es hatte ja keinen Sinn, das Ganze zu leugnen. »Seit ein paar Wochen. Und du?«

»Ungefähr ein Jahr. Normalerweise entwickeln Mädchen ihre besonderen Fähigkeiten etwas früher als Jungs.«

»Und schaffst du es, deine Superkraft zu kontrollieren?«

»Mehr oder weniger. Anfangs war ich total ratlos.« Sophie sah über das Football-Feld. »Als es das erste Mal passierte, war ich gerade beim Fußballtraining. Aus Versehen hab ich den Ball in den Minivan von meinem Trainer geknallt.«

»Und das ist deine Superkraft? Falsch zu zielen?«

Ich musste mich bremsen, um nicht laut loszulachen, aber Sophie brachte nicht mal ein Schmunzeln heraus.

»Als der Ball aufprallte, ist der Minivan umgekippt«, sagte sie. »Dann, ein paar Wochen später in der Klavierstunde, hab ich die Tasten etwas zu fest gedrückt und schon ist das ganze Klavier zusammengebrochen.«

Ich machte große Augen. Es schien unmöglich, dass jemand, der so klein wie Sophie war, solch eine Spur der Verwüstung hinterlassen konnte.

»Übermenschliche Stärke«, sagte sie. »So heißt meine besondere Fähigkeit.«

Verglichen mit übermenschlicher Stärke schien meine Superkraft deutlich weniger beeindruckend. Ich dachte an all die Dinge, zu denen sie fähig war – Autos umkippen, die stärksten Fieslinge zusammenschlagen. So etwas Cooles schaffte ich nicht. Nicht mal annähernd. Ich war nichts als eine übergroße Steckdose.

»Ist nicht so toll, wie es klingt«, sagte Sophie. »Hat nämlich auch eine Nebenwirkung.«

»Wie meinst du das?«

So wie Sophie den Blick zu Boden richtete, war klar, dass sie nichts weiter darüber erzählen wollte. Meine Gedanken sprangen zurück zu den Ereignissen am Morgen, als Joey im Gang auf dem Boden lag und vor sich hin murmelte. Ey, so was hab ich noch nie gesehen …, hatte er gewimmert. Wie ’n Mensch hat der Arsch nicht ausgesehen.

»Und du?«, fragte Sophie. »Mit welcher besonderen Fähigkeit bist du BEGNADET?«

»Meine heißt spontane Entflammung«, gab ich zu. »Im Grunde genommen lass ich einfach nur Sachen hochgehen.«

Ich erzählte ihr von den Explosionen, den Brandflecken, den Wochen, in denen ich ständig mit meiner Superkraft herumexperimentiert hatte.

»Kennst du noch andere Kinder wie uns?«, fragte ich sie. »Kinder mit – Superkräften?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht viele. Die meisten BEGNADETEN Kinder haben zu viel Angst, um darüber zu reden. Aber ein paar habe ich über Freunde meines Dads kennengelernt. Er, äh, er ist auch als BEGNADETER aufgewachsen.«

»Dein Dad?«

Sophie seufzte und drückte ihre Schuhe fester ins Gras. »Na, sag schon, was hast du über ihn gehört?«

»Nichts.«

Der Blick, mit dem sie mich ansah, zeigte mir deutlich, dass sie meine Lüge durchschaute.

»Also gut. Ja, ich hab ein paar Dinge gehört«, sagte ich.

»Zum Beispiel?«

Ich wollte nicht, aber schließlich erzählte ich ihr alles, was ich gehört hatte. Von den möbelwagenweise gelieferten leeren Kisten, den unzähligen Fernsehapparaten, den Maschinengewehren, den Foltergeräten …

Ich hatte erwartet, dass sie alles abstreiten oder mit einem Lachen andeuten würde, wie absurd Gerüchte werden konnten. Aber sie zuckte nur mit den Schultern. »Ja, das stimmt alles so ungefähr.«

»Boah. Das heißt … das Ganze ist wahr?«

Sophie nickte. »Mehr oder weniger ja. Bis auf den Teil mit den Foltergeräten. Ich glaube nicht, dass er solche Dinger hat.«

»Du glaubst

Irgendwie war das doch etwas, was man ganz sicher wissen musste. Entweder hatte man Foltergeräte oder eben nicht. Aber auch bei mir zu Hause passierte ja manches, wovon ich nichts wusste. Zum Beispiel die Sache mit dem »die Erde fluten und die Regierung erpressen«. Davon hatte ich ja auch bis zu dem Tag, als meine Eltern es taten, keine Ahnung gehabt.

»Mein Dad hat Probleme, seine Identität geheim zu halten«, sagte Sophie. »Das ist einer der Gründe, warum wir ständig umziehen müssen. Er genießt es einfach zu sehr, berühmt zu sein. Es ist immer dasselbe. Die Leute finden zuerst hier und da ein paar Kleinigkeiten raus. Aber dann erfahren sie immer mehr von der Wahrheit. Und schließlich schwups! – packen wir unsere Sachen und ziehen in eine neue Stadt. Und ich muss in eine neue Schule und hab einen neuen falschen Namen.

Fast hätte ich gesagt, ich weiß, wie das ist, doch ich hielt den Mund.

»Bei meinem Dad kommt über kurz oder lang immer die Wahrheit raus«, sagte Sophie. »Und von mir erwartet er, dass ich schweige, wo immer wir hinkommen. Manchmal bin ich es so leid, alle anzulügen, verstehst du?«

»Aber wenn du nicht Sophie Smith bist«, sagte ich, »wer bist du dann

»Versprichst du mir, es niemandem weiterzusagen?«

Ich nickte. »Ich bin ziemlich gut darin, Geheimnisse für mich zu behalten«, antwortete ich. Ich hab das ja schließlich für meine Eltern ein Leben lang getan.

Sophie schaute noch einmal über den menschenleeren Hügel um uns herum. »Mein Dad ist Captain Saubermann.«

Joshua Schreck: Fischer. Nur für Jungs
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