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Es war der Aufmacher in der Morgenzeitung, die wenige kurze Stunden, nachdem ich das Krankenzimmer des Sheriffs verlassen hatte, auf meiner Eingangsstufe landete.

»Leiche der kleinen Stacy gefunden«, lautete die Schlagzeile, und darunter hieß es weiter, »Überführter Kinderschänder des Mordes angeklagt«. Das Mädchen – das seit fast einem Monat vermisst worden war – war von Leichenspürhunden in einem Abflussgraben an einer stillgelegten Tuchfabrik gefunden worden, wenige Blocks vom heruntergekommenen Haus des Verdächtigen entfernt. Unter alten Reifen, modrigen Teppichen und anderem Müll war die Leiche so weit verwest, dass sie nicht wiederzuerkennen war. Doch da Stacy Beaman die einzige Achtjährige war, die im Augenblick vermisst wurde, brauchte ein Mitarbeiter des Medical Examiners nur wenige Augenblicke, um ihre Zähne mit den zahnärztlichen Röntgenaufnahmen zu vergleichen, die schon zur Hand waren und auf solch eine schlimme Entdeckung warteten.

Als ich die Seite umblätterte, um die Geschichte zu Ende zu lesen, klingelte das Telefon. »Hey«, sagte eine bedrückte Stimme, die – wie ich bereits gewusst hatte, als ich nach dem Hörer griff – Art gehörte. Der Verdächtige war vor zwölf Stunden verhaftet worden, während Art mir geholfen hatte, in Cooke County Knochen einzutüten.

»Selber hey«, sagte ich. »Wie geht’s?«

»So lala.«

»Ich bin froh, dass man sie gefunden hat. Ich bin froh, dass sie ihn gekriegt haben. Es tut mir leid, dass es so ausgegangen ist.«

»Ja.«

»Wie wasserdicht ist die Klage gegen den Verdächtigen?«

»Es sieht besser aus, als wir erwartet haben. Die Beamten der Spurensicherung haben an der Leiche Haare und Fasern gefunden, die wir wahrscheinlich mit ihm in Verbindung bringen können, und wir hoffen, dass wir Samenspuren finden. Lieber Gott, hast du mich gehört? ›Wir hoffen, dass wir Samenspuren finden‹ Wir haben auch mehrere Zeugen, Mütter anderer Kinder, sehr glaubwürdig und sympathisch im Zeugenstand. Alle haben ihn an dem Tag, an dem sie verschwand, in der Nähe der Schule gesehen. Wenn es deinem Kum…«, er unterbrach sich und setzte noch einmal an. »Wenn es DeVriess nicht gelingt, die Zeugenaussage über das bisherige Strafregister vom Prozess auszuschließen, kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendeine Geschworenenjury im Land ihn nicht verurteilt. Aber andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass irgendein Anwalt im Land diesen Kerl aggressiv verteidigt. Da gibt es eindeutig vieles, was über meinen schwachen Verstand hinausgeht.«

»Über meinen auch«, sagte ich und hoffte, ihn von seinem Zorn auf DeVriess abzulenken. »Ich kann nur bewundern, wie hart ihr gearbeitet habt, um sie zu finden und eine Anklage auf die Beine zu stellen. Ich bin mir sicher, ihre Familie ist euch auch sehr dankbar. Oder wird es sein, wenn sie irgendwann dazu in der Lage ist.«

»Ja, das wird sie nachts wärmen.« Er seufzte. »Weißt du, Bill, manchmal verachte ich diese Welt und das Geschmeiß, das auf ihr herumwimmelt.«

»Ich weiß. Es gibt viel Böses auf der Welt, so viel steht fest, und du hast mehr als deinen gerechten Anteil davon gesehen. Aber es gibt auch viel Gutes, vergiss das nicht.«

»Das Gute scheint sich im Augenblick sehr zurückzuhalten. Meine Mutter wollte, dass ich Zahnarzt werde – ›Fast so renommiert wie Arzt‹, hat sie immer gesagt, ›und man muss bei weitem nicht so viele Überstunden machen.‹ Vielleicht hat Mama es am besten gewusst.«

»Machst du Witze? Den ganzen Tag rumstehen und die Hände im Sabber anderer Leute haben? Abgesehen davon: Im Gegensatz zu den Gefühlen, die sie ihrem Zahnarzt entgegenbringen, bewundern viele Menschen Polizisten.«

Er lachte – leise, aber immerhin. »Du hast recht, die Sache mit dem Sabber hat es dann auch entschieden. ›Spülen und ausspucken‹ zu sagen ist bei weitem nicht so toll, wie ›Keine Bewegung, du Arschloch‹ zu schreien – oder aufgedunsene oder verkohlte Leichen zu bergen. Apropos Leichen bergen, gab es in den letzten acht Stunden irgendwelche Neuigkeiten aus den Bergen?«

Ich erzählte ihm von der nächtlichen Parade von Besuchern im Krankenzimmer des Sheriffs und von meiner vergeblichen Suche nach den Patronenhülsen. »Ich hatte gehofft, die Kriminalpolizei könnte die Patronenhülsen vergleichen. Ohne die Hülsen bleibt uns nur die Motorradspur, die Waylon gefunden hat. Wenn ich nach dem Wenigen gehe, was ich aus erster Hand mit Orbin erlebt habe, dann kann es da oben ganze Legionen von Menschen geben, die ihm den Tod gewünscht haben.«

Ich erzählte Art, dass ich gegen zwölf losfahren würde, um Orbins Überreste – Miranda hatte die angekokelten, gebrochenen Knochen so gut es ging über Nacht gereinigt – zum Beerdigungsinstitut nach Jonesport zu bringen. Hatte er Lust, mitzukommen? Und hatte er jetzt, wo im Fall Stacy Beaman eine Verhaftung erfolgt war, auch Zeit?

»Sicher«, sagte er. »Wir haben jedes Mal, wenn wir da rauf fahren, so viel Spaß, nicht von zehn Pferden würde ich mich davon abhalten lassen. Abgesehen davon habe ich ungefähr ein ganzes Jahr Überstunden. Kannst du beim Labor vorbeikommen und mich abholen?«

Drei Stunden später fuhr ich vor dem Polizeirevier in Knoxville vor, und Art kam die Stufen heruntergesprungen und stieg in meinen Wagen. Er kam mir vor wie ein anderer Mensch; keine Spur mehr von dem verdrießlichen Alten, der mich am Morgen angerufen hatte. Und er hatte einen Gesichtsausdruck, den ich noch nie an ihm gesehen hatte: Aufregung, Schrecken, Amüsement, Abscheu, alles gut miteinander vermischt.

»Du hast praktisch noch einen Sahneschnurrbart«, sagte ich. »Spuck’s aus. Was ist los?«

»Ich habe gerade einen Anruf von Bob Gonzales erhalten«, sagte Art. »Er konnte dich weder zu Hause noch an der Uni erreichen, also hat er stattdessen mich angerufen.« Bob Gonzales hatte vor ungefähr zehn – nein, mittlerweile wohl eher vor rund fünfzehn – Jahren seinen Doktor bei mir gemacht. Inzwischen war er forensischer Anthropologe im Armed Forces Institute of Pathology in Washington, das sich eines der größten und besten DNA-Labore des Landes rühmte. Per Overnight-Kurier hatten Art und ich die Haar- und Follikel-Proben, die Art aus Tom Kitchings Kopfhaut »geborgen« hatte, dort hingeschickt, dazu Querschnitte sowohl von Leena Bonds Oberschenkelknochen als auch von dem ihres Babys sowie eine Speichelprobe von Jim O’Conner.

»Er hat schon Ergebnisse? Das nenne ich schnell. Normalerweise dauern DNA-Tests Wochen.«

»Ich schätze, er ist immer noch auf ein zusätzliches Lob aus. Einmal Brockton-Student, immer Brockton-Student.«

Ich freute mich, das zu hören. »Irgendwas Interessantes?«

»Oh, vielleicht ein paar Kleinigkeiten.« Er unterbrach sich, um die Spannung noch ein bisschen auszukosten. »Erstens, dein Kumpel O’Conner ist frei von jedem Verdacht, zumindest was die Vaterschaft angeht. Nicht auch nur die geringste Chance, dass das Kind von ihm war.«

»Das überrascht mich nicht, aber ich bin froh, dass seine Geschichte sich als wahr herausgestellt hat. Und das andere?«

Art überlegte. Das war oft kein gutes Zeichen. »Hast du je den Film Chinatown mit Jack Nicholson gesehen? Den mit Faye Dunaway?«

»Ist lange her. Woran ich mich hauptsächlich erinnere, ist, wie gut Faye Dunaway ohne Kleider aussah. Das, und wie schrecklich weh es tun muss, wenn Roman Polanski einem die Nasenlöcher aufschneidet.«

»Das sind also die zwei Dinge, die du unvergesslich fandest«, sagte Art. »Siehst du, ich erinnere mich hauptsächlich an die Verhörszene. Nicholson versucht, Dunaway dazu zu bringen, ihm die Wahrheit darüber zu sagen, wer diese geheimnisvolle junge Frau ist, und er fängt an, sie zu schlagen.« Er warf den Kopf von einer Seite zur anderen und spielte die Szene nach. Ich konnte nur vermuten, dass er Faye Dunaways Stimme nachahmte. »›Sie ist meine Schwester. Sie ist meine Tochter. Sie ist meine Schwester. Sie ist meine Tochter. Sie ist meine Schwester und meine Tochter!‹«

Ich war in Gedanken noch mit Fayes kurvenreichem Körper beschäftigt. »Und was willst du mir damit sagen?«

»Das Baby – ein Junge übrigens – ist ein Großneffe des Sheriffs, der Sohn einer Cousine von ihm. Wenigstens glaube ich, dass man so das Kind der Tochter der Schwester seiner Mutter nennt. Wie auch immer – bis dahin ist das DNA-Profil genau das, was man erwarten würde. Die Mutter des Sheriffs und seine Tante Sophie hatten dieselben Eltern, also hat die Tochter, Leena, einige DNA von der mütterlichen Seite, die sie an ihr Baby weitergibt. Wie ich schon sagte, bis hierhin ist alles genau so, wie man es erwarten würde.«

»Aber da ist noch was, was man nicht erwarten würde?«

»Nun, vielleicht hätte ich es erwarten sollen, wo wir doch in Cooke County, Tennessee sind. Aber nein, das habe ich nicht geahnt.«

»Verdammt, Art, was ist es?«

»Abgesehen davon, dass Leenas Baby ein Großneffe von Sheriff Tom war, war es auch sein kleiner Bruder.«

Plötzlich war Faye das Letzte, woran ich dachte. Ich wollte ganz sicher sein, dass ich ihn nicht missverstanden hatte. »Mit anderen Worten, laut DNA-Profil …«

»… von dem Gonzales sagt, es war ein grundsolider Treffer …«

»… war der Vater des Babys …?«

»Tom Kitchings Senior. Der – nicht besonders ehrwürdige – Reverend Thomas Kitchings.«

Ich drückte das Gaspedal durch, und der Pick-up schlingerte auf die Auffahrt zur I-40 Richtung Osten.

Selbst bei hochgekurbelten Fenstern hatte ich Mühe, über dem stürmischen Wind Arts Frage zu verstehen. Ich fuhr hundertfünfzig, und ein böiger Herbstwind wehte aus Norden, riss goldene und rote Blätter von den Bäumen, trieb lilafarbene Wolken vor sich her, deren Spitzen sich kräuselten wie Meeresbrecher. »Hältst du das wirklich für eine so gute Idee?«, rief er.

»Aber klar doch«, rief ich mit mehr Zuversicht, als ich empfand.

»Dann erklär mir noch mal, warum wir ins Cooke County stürmen wie Batman und Robin? Sprich langsam – das letzte Mal, als du es mir erklärt hast, hast du mich in einer deiner logischen Haarnadelkurven verloren.«

Sheriff Kitchings liege im sechsten Stock des Universitätskrankenhauses, wiederholte ich. Sein Chief Deputy rutsche in einer schwarzen Kiste hinten in meinem Pick-up hin und her. Der andere Deputy aus Cooke County, der in die Sache involviert sei, plaudere zweifellos mit einem ganzen Raum voller Beamter von Kriminalpolizei und FBI und erkläre ihnen, welche katastrophale Wendung ihre Ermittlung gerade genommen hatte.

»Du hältst es also angesichts des vollkommenen Zusammenbruchs von Recht und Ordnung für eine gute Idee, dass wir zurück in die Klauen des Todes fahren? Ist das dein zwingendes Argument?«

Das fasste es so ziemlich zusammen. »Aber dieser neue DNA-Beweis wirft ein völlig neues Licht auf den Fall«, argumentierte ich, »und niemand weiß es. Und niemand weiß, dass wir es wissen; das wissen nur wir.«

»Deine Argumentationskünste sind wirklich einmalig«, sagte er kopfschüttelnd. »Ganz zu schweigen von deinem zungenbrecherischen Satzbau.«

»Satzbau, pah. Verstehst du das nicht? Der alte Kitchings schwängert sie, und dann bringt er sie um, um die Schwangerschaft zu vertuschen. Vielleicht hat sie ihm nicht mal erzählt, dass sie schwanger war – wahrscheinlich hatte sie zu viel Angst. Aber irgendwann sieht man es, und er weiß, dass der Skandal, wenn er bekannt wird, ihm das Genick bricht. Schwer für einen Priester, seine Schäfchen zusammenzuhalten, wenn die wissen, dass er Ehebruch, Inzest und womöglich auch noch Vergewaltigung auf dem Gewissen hat.«

Art hob die Hand wie ein Student, der eine Frage stellen möchte. »Ich gebe ja zu, dass er sich tatsächlich mit einem Riesensatz an die Spitze der Verdächtigenliste katapultiert hat. Aber deinem nächsten Schritt – dass wir zwei das perfekte Paar sind, um den Mörder zu stellen –, dem kann ich nicht ganz folgen.«

Ich wies ihn darauf hin, dass die Leute in Cooke County es so an sich hatten, plötzlich zu verschwinden und zu sterben. Das, erwiderte er, war genau der Grund, warum er der Meinung sei, wir sollten nicht dort hinfahren, schließlich seien wir schon einmal fast verschwunden und gestorben.

»Aber was ist, wenn Kitchings Senior – oder sonst jemand da oben – irgendwie Wind von den DNA-Ergebnissen bekommt? Was ist, wenn er verschwindet, wegläuft oder plötzlich tot ist? Dann erfahren wir die Wahrheit nie.«

»Und du denkst, nach all den Jahren wird er uns ein Geständnis ablegen, nur weil wir zwei so tolle Kerle sind?«

»Wir tauchen da auf und konfrontieren ihn damit, wenn er gerade an nichts Böses denkt. Dann wird er sehr viel eher gestehen oder wenigstens etwas verraten als wenn nicht.«

»Wenn was nicht? Wenn wir nicht dort auftauchten oder wenn er gerade an etwas Böses denkt?«

»Entweder oder. Beides. Der Sheriff und Williams sind im Augenblick aus dem Weg, also ist die Luft rein. Und wenn wir die DNA-Bombe platzen lassen, können wir den Reverend vielleicht so schockieren, dass er irgendetwas zugibt.« Art wandte den Kopf ab und schaute aus dem Fenster. Ich wusste, dass meine Argumentation schwach war. Ich wusste, dass es nicht Logik war, was mich heute zwang, ins Cooke County zurückzukehren. Ich langte in meine Hemdtasche, holte das Foto von Leena heraus, das Jim O’Conner mir gegeben hatte, und reichte es Art. »In ihrem Gesicht ist etwas, was mich an Kathleen vor dreißig Jahren erinnert. Kathleen, als sie jung war. Nicht nur das – es erinnert mich an Kathleen, als sie schwanger war. Sie hatte ein bisschen Gewicht zugelegt, und ihr Gesicht war etwas voller geworden …« Ich schwieg, denn ich hörte mich an wie ein kleines Kind.

»Dann geht es hier irgendwie jetzt um Kathleen?«

»Nein. Na ja, vielleicht. Nicht unbedingt um sie. Mehr um mich, also darum, dass ich versuche, die Sache mit ihr irgendwie in Ordnung zu bringen.«

»Komm schon, Bill, wann verzeihst du dir endlich? Es war nicht deine Schuld, dass Kathleen gestorben ist.«

»Das kannst du mir erzählen, bis du schwarz wirst – ich kann’s mir auch selbst erzählen, bis ich schwarz werde –, aber das hat keinen Einfluss darauf, was ich empfinde. Vielleicht hilft das hier.«

»Und wenn nicht?«

»Ich weiß es nicht, Art. Von der Brücke springe ich, wenn ich draufstehe.«

Er seufzte. »Na, dann vergiss aber nicht, sie in Brand zu setzen, bevor du über das Geländer kletterst.« Er schob das Foto von Leena in seine Hemdtasche. »Na gut. Lass uns nur beten, dass wir den guten Reverend davon überzeugen können, dass eine Beichte gut fürs Seelenheil ist.«

Ich hatte vor zwei Jahren so ziemlich aufgehört zu beten, doch jetzt war ein guter Zeitpunkt, es noch einmal zu versuchen.