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Ich parkte auf meinem gewohnten Platz unter der Straßenlampe hinter dem rechtsmedizinischen Institut und drückte die richtige Ziffernfolge, um die Hintertür zu öffnen. Inzwischen war es fast Mitternacht, und Rücken und Hals taten mir höllisch weh, weil ich mich drei Stunden ununterbrochen ins Cockpit des Hubschraubers gebeugt hatte. Das Leichenschauhaus wirkte verlassen, obwohl es in Wirklichkeit niemals unbeaufsichtigt war. Wenn ich an der Tür bei der Laderampe geklingelt hätte, wäre nach wenigen Sekunden eine Videokamera in meine Richtung geschwenkt und ein müder Sektionsassistent hätte mir die Tür aufgedrückt. Doch da der Assistent wahrscheinlich ein Assistenzarzt der Pathologie war – und folglich immer zu wenig Schlaf bekam –, hatte ich mich selbst eingelassen und bewegte mich nun so leise wie möglich durch die Gänge, um ein dringend gebrauchtes Nickerchen nicht zu stören.
Sobald ich im Keller des Krankenhauses selbst war, nahm ich einen Aufzug in den sechsten Stock, wo sich die Kardiologie befand. Die diensttuende Nachtschwester auf der Station lächelte breit, als sie mich sah.
»Hi, Dr. Brockton, freut mich, Sie zu sehen«, sagte sie strahlend. »Was führt Sie kurz vor Mitternacht hier hoch? Sie halten wohl nach potenziellen Körperspendern Ausschau.« Wir lachten zusammen über den Witz, den ich in den unterschiedlichsten Variationen fast jedes Mal zu hören bekam, wenn ich aus den Katakomben der Toten zu den Krankenstationen aufstieg.
»Heute Nacht nicht«, sagte ich, »aber wenn Sie ein paar heiße Kandidaten für mich haben, dann rufen Sie mich doch bitte an. Eigentlich wollte ich nach einem Ihrer Neuzugänge sehen, Sheriff Tom Kitchings, der vor ein paar Stunden mit einem LifeStar-Hubschrauber eingeliefert wurde.«
»Ein sehr beliebter Bursche«, sagte sie.
»Ach?«
»Kurz bevor ich zur Schicht kam, war wohl ein Gentleman hier, und einer seiner Deputys ist gerade weg. Ich bin überrascht, dass er Ihnen am Aufzug nicht über den Weg gelaufen ist.«
Williams? Es musste Williams gewesen sein, schließlich war Orbin drüben im Knochenlabor bei Miranda, um gekocht und sauber geschrubbt zu werden. Alle möglichen Szenarios schossen mir durch den Kopf. War der Deputy aus Sorge um seinen Chef gekommen? Hatte er gehört, dass wir den Sender an meinem Auto gefunden hatten – und hatte er gewusst, dass er dort war? Hatte er die Patronenhülsen von der Schießerei an sich genommen, und wenn ja, warum?
»Wenn er mir über den Weg gelaufen wäre, stünde es schlimm um ihn«, sagte ich. »Ich bin nämlich mit dem Versorgungsaufzug aus dem Leichenschauhaus hochgekommen. Aber es überrascht mich, dass er hier war. Für mich liegt es auf dem Heimweg, aber für jemanden aus Cooke County ist es doch ein langer Weg.«
»Und auch noch einer, der umsonst gewesen ist«, sagte sie. »Der Sheriff schläft – als ich ihm um elf eine neue Infusion angehängt habe, habe ich ihm eine ordentliche Portion Ativan gegeben. Der Deputy sagte, er wolle nur wissen, wie es ihm gehe, also bin ich das Krankenblatt mit ihm durchgegangen. Er hat gefragt, ob er kurz beim Sheriff reinschauen und ein paar Minuten an seinem Bett sitzen könnte. Ich sagte, das könne er, solange er ihn nicht weckt.«
Ich war hundemüde und meine Nerven lagen blank, also war ich womöglich nur paranoid, aber irgendetwas daran jagte mir Angst ein. »Waren Sie noch mal beim Sheriff im Zimmer, seit der Deputy weg ist?«
»Nein, das war erst vor fünf Minuten. Warum?«
»Ich weiß nicht; ich bin einfach nervös. Macht es Ihnen was aus, wenn wir mal nachschauen gehen?«
Sie war sichtlich genervt, verließ aber doch ihren Schreibtisch, ging den Flur hinunter und schob sich in ein Krankenzimmer. Kitchings war heftig am Sägen, er saß halb in dem hoch gestellten Krankenbett. Am linken Arm hatte er eine Infusion, und aus dem Halsausschnitt seines Krankenhausnachthemds schlängelten sich einige EKG-Kabel. Auf dem Herzmonitor blitzte in regelmäßigen Abständen die Zahl 72 auf, und seine Brust hob und senkte sich alle vier Herzschläge einmal. Die Krankenschwester hob den Daumen. »Es geht ihm gut«, flüsterte sie. »Er hatte ein sehr kleines Gerinnsel – wahrscheinlich ist er mehr aus Stress zusammengebrochen als wegen des Gerinnsels –, und er ist wirklich schnell ins Herzlabor gekommen. Die Arterie ein bisschen durchgeputzt, und er ist so gut wie neu. Wahrscheinlich kann er morgen schon nach Hause.« Ich war erstaunt über die gute Prognose – als er umgekippt war, war ich mehr oder weniger davon ausgegangen, das sei’s gewesen. Die Krankenschwester wandte sich ab, um zu gehen, und hielt mir die Tür auf, doch mir war noch etwas eingefallen. Ich tippte auf meine Armbanduhr, hielt fünf Finger hoch und legte fragend den Kopf schief. Sie zuckte die Achseln, legte den Zeigefinger auf die Lippen und ließ mich mit dem schnarchenden Sheriff allein. Sobald die Tür zu war, schlich ich auf Zehenspitzen zum Schrank, wo ich seine Kleider vermutete. Und richtig, dort hing seine Uniform – zerknittert und voller Flecken – auf einem Bügel. Sein Gürtel mit dem Holster und seine leere Pistole baumelten an einem Haken hinten im Schrank. Ich tastete die linke Hemdtasche ab, dann die rechte. Beide leer. Ich durchsuchte die Hosentaschen – ebenfalls leer. Dann fiel mir eine kleine Plastiktüte auf, die auf dem Boden des Schranks lag. Die Tüte war schwer, und es klapperte darin, als ich sie aufhob und auf den fahrbaren Tisch legte, der am Fenster stand. Im Halbdunkel kramte ich in der Tüte herum und fand, nur beschienen vom Schimmern des Herzmonitors und den Laternen draußen vor dem Fenster, den Sheriffstern, seine Schlüssel, seine Brieftasche, ein bisschen Kleingeld, ein Päckchen zuckerfreien Kaugummi und die Kugeln aus seiner Waffe. Doch weder beim ersten noch beim zweiten oder dritten Durchsuchen fand ich das schweißfleckige Taschentuch, in das Waylon die Patronenhülsen, die uns wahrscheinlich zu Orbins Mörder geführt hätten, eingeknotet hatte.