30
Allein beim Anblick der Cave Springs Primitive Baptist Church lief es mir eiskalt über den Rücken. Selbst von dem Mörtel zwischen den Steinen schien etwas Bedrohliches auszugehen.
Ich fuhr mit dem Pick-up in weitem Bogen auf den Parkplatz, sodass ich einen Blick auf den Eingang der Höhle erhaschen konnte. Das schwere Eisengitter war noch an seinem Platz – gesichert mit einem schimmernden neuen Vorhängeschloss, was mir seltsam vorkam, denn durch den Einsturz war der Tunnel doch sowieso unzugänglich. Obwohl es Mittag war, schaltete ich die Scheinwerfer ein und machte das Fernlicht an. In der dunklen Öffnung fiel das Licht auf die Ränder des Schutthaufens, der Art und mich beinahe lebendig unter sich begraben hatte.
Ich fuhr wieder zurück auf die andere Seite des Parkplatzes und parkte in der Nähe des Hauses, das an die Kirche angrenzte. Art und ich hatten vermutet, dass es das Pfarrhaus war, wo der Reverend und seine Frau lebten. Die meisten Priester in Knoxville lebten heutzutage kilometerweit von ihren Kirchen weg in besseren Vororten, wo sie sich unauffällig unter Ärzte, Anwälte und Steuerberater mischten, doch ich hatte den Verdacht, dass Cave Springs mehr mit dem Knoxville des neunzehnten Jahrhunderts gemein hatte als mit dem Knoxville des einundzwanzigsten Jahrhunderts und dass der Pastor – »Hirte« bedeutete das Wort ursprünglich – hier noch nah bei seiner Herde weilte. Ich war mir nicht sicher, ob ich den Reverend oder Mrs. Kitchings zu Hause antreffen würde. Wenn nicht, hatte ich die lange Fahrt umsonst gemacht, aber es war mir zu riskant erschienen, vorher anzurufen und – dem Paar oder ihren reizbaren Söhnen – mein Kommen anzukündigen.
Das Haus, ein einfaches Bauernhaus in Holzbauweise aus den 1920er Jahren, erinnerte mich an das Haus meiner Großeltern. Eine breite überdachte Veranda zog sich über die ganze Vorderseite des Gebäudes. Die Dachschräge wurde da flacher, wo das Wellblech über die Veranda ging. Ein hervorgebautes Dachfenster durchbrach die Dachlinie darüber und ließ Licht in ein oberes Schlafzimmer oder, wie im Haus meiner Großeltern, einen Speicher, der vollgestellt war mit verstaubten Möbeln und verblassten Andenken. Ich überlegte, ob einige dieser Andenken wohl Leena gehört hatten.
Die Holztreppe war einst grau gewesen, doch inzwischen war die Farbe – da, wo noch Farbe war – so weit verwittert, dass sie nur noch an trübes, dreckiges Putzwasser erinnerte. Die Enden der Bodendielen der Veranda ragten zwei oder drei Zentimeter über den Querbalken, von dem sie getragen wurden. Auch sie waren ziemlich verwittert und reckten und krümmten sich in sämtliche Richtungen, wodurch die Veranda ein wenig so aussah wie ein Mund voller schiefer Zähne.
Zwei Schaukelstühle – ein hoher mit breiten Querhölzern an der Rückenlehne und ein niedrigerer mit gedrechselten senkrechten Stäben am Rücken – flankierten die Haustür. Die Kufen des hohen Stuhls waren abgenutzt und an den Enden stumpf, was auf jahrelanges energisches Schaukeln schließen ließ. Die Kufen des anderen Stuhls hingegen waren in der Mitte fast flachgewetzt.
Die Fliegengittertür stand leicht offen, sie hatte sich im Laufe der Jahre gesetzt, sodass sie über den Boden schleifte und einen blassen, farblosen Viertelkreis gezeichnet hatte, der Jahrzehnte des Kommens und Gehens markierte. Ich malte mir einige davon aus: Die Familie, die jeden Sonntag zur Kirche eilte, Tom und Orbin, zuerst als Kleinkinder, dann als lärmende Jungen, dann als grämliche Teenager. Eine Prozession sorgenvoller Gemeindemitglieder – ehebrecherische Ehegatten und gekränkte Betrogene, Problemtrinker, straffällige Jugendliche. Und dann die fröhliche Festtagsparade aus Braten, Eintöpfen, Schmortöpfen, Kuchen und Pasteten – so köstlich, dass sie die langen Arbeitszeiten und das niedrige Gehalt, die das Leben als Landpfarrer bestimmten, wieder wettmachten.
Ich zog die Fliegengittertür auf und fügte damit meine eigene bescheidene Markierung zu den in den Fußboden gekratzten Geschichten hinzu. Die rostigen Scharniere quietschten genau in der haarsträubenden Tonlage, in der auch die Scharniere an der Fliegengittertür meiner Großmutter einst gejault hatten. Mein Klopfen an der Haustür ließ die Fenster erzittern, deren Kitt mit der Zeit geschrumpft und gerissen war.
Es kam keine Antwort, also klopfte ich noch einmal, bevor ich die Fliegengittertür wieder schloss, um nicht zu aufdringlich zu erscheinen. Nach einem Augenblick hörte ich langsame, knarrende Schritte. Ein Spitzenvorhang wurde leicht zur Seite gezogen, wieder losgelassen, und dann hörte ich das Klicken, mit dem ein altmodisches Schloss geöffnet wurde. Eine ältere Frau schaute mich stirnrunzelnd durch das staubige Fliegengitter an.
»Ja?«
»Sind Sie Mrs. Kitchings?«
»Ja.«
»Es tut mir leid, Sie zu belästigen, Madam, aber ich hatte gehofft, ein paar Minuten mit Ihnen reden zu können. Ich bin Dr. Bill Brockton, und ich bin hier oben, weil ich Ihrem Sohn Tom bei der Aufklärung eines Falles helfe.«
»Was für ein Fall?«
»Nun, ein alter Fall, der erst jetzt ans Tageslicht gekommen ist. Der Tod … der Mord … an einer jungen Frau, die, soweit man mir gesagt hat, Ihre Nichte war.«
»Oh, ja … Evelina. Tommy hat mir erzählt, dass Leena gefunden wurde. Erwürgt. Nach all den Jahren. Was für eine Schande.«
»Ja, Madam. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich hereinzulassen und mit mir darüber zu reden?«
»Nun, darüber muss ich erst nachdenken. Tommy ist Sheriff, und ich habe ihm alles erzählt, was ich weiß. Sie ist eines Tages einfach weggelaufen. Wir haben damals nicht gewusst, warum. Tommy sagte, Sie hätten herausgefunden, dass sie in anderen Umständen war. Ich schätze, das erklärt die Sache. Wir haben sie nie wiedergesehen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Mrs. Kitchings, ich weiß, dass es lange her ist, und es ist womöglich schwer, sich an Einzelheiten zu erinnern, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Vielleicht erinnern Sie sich an etwas, was uns weiterhelfen könnte.« Die dünne Fliegengittertür war wie eine unüberwindliche Hürde zwischen uns. »Könnte ich vielleicht hereinkommen? Nur für ein paar Minuten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, Doktor, aber mein Mann ist nicht zu Hause, und ich lasse keine fremden Männer ins Haus, wenn ich allein bin.«
»Ich bin nicht so fremd, wie ich aussehe, und ich verspreche Ihnen, dass ich nicht beiße.« Das fand sie gar nicht lustig. »Wissen Sie was, es ist ein schöner Tag, wie wäre es, wenn wir uns hier draußen auf die Veranda auf die Schaukelstühle setzten?«
Sie runzelte die Stirn, schob aber die Fliegengittertür auf und trat heraus auf die Veranda. Ich ging zu dem hohen Stuhl, um ihr den kleineren zu überlassen, doch sie streckte eine knochige Hand aus, um mich aufzuhalten. »Das ist meiner«, sagte sie. »Sie können Thomas’ Stuhl dort nehmen.« Sie ließ sich auf dem großen Stuhl nieder und stieß sich einige Male kräftig ab.
»Sie holen auf jeden Fall das Beste aus so einem Schaukelstuhl raus«, sagte ich.
Sie zauderte kein einziges Mal. »Schaukel deine Sorgen weg, das hat meine Mutter mir immer gesagt.«
»Funktioniert es?«
»Ich weiß nicht. Hab nie versucht, nicht zu schaukeln. Wenigstens hat man dann etwas zu tun, während man sich Sorgen macht. Und es kräftigt obendrein die Beine.«
Ich lachte. »Ich sollte mir wohl einen Schaukelstuhl kaufen, wenn ich wieder in Knoxville bin.« Ich versuchte, auf dem Stuhl mit der Rückenlehne aus gedrechselten Sprossen einen Rhythmus zu finden, aber kaum hatte ich ein bisschen Schwung in die eine Richtung, stieß ich auch schon wieder auf die flache Stelle, ruckte zurück in die andere Richtung und kam knirschend zum Stehen. »Der hier muss vielleicht mal gewartet werden. Ich kriege überhaupt keinen Schwung.«
»Thomas ist nicht so fürs Schaukeln. Er macht zwar freundlich die Bewegungen mit, aber mit dem Herzen ist er nicht dabei.«
»Was macht er denn mit seinen Sorgen?«
»Betet sie weg. Predigt sie weg. Geht auf Waschbärenjagd und ist sie los, wenn er wiederkommt. Jeder hat so seine eigenen Methoden.«
»Erzählen Sie mir von Leena.«
Ihr weißes Haar flog im Rhythmus ihrer Bewegungen auf und ab. »Leena war die Tochter meiner Schwester Sophie. Leena war eine Bonds, keine Kitchings, aber sie war trotzdem meine Blutsverwandte. Ihr Vater war einer von den Bonds drüben in Clairborne County.« Der Schaukelrhythmus schien sie fast in Trance zu versetzen. »Leena kam zu uns, als ihre Mutter und ihr Vater starben. Unsere Jungen, Orbin und Tom, waren damals drei und fünf. Manchmal war sie sehr lieb zu ihnen, manchmal nicht. Leena war … nun, man könnte es wohl temperamentvoll nennen, man kann auch sturköpfig sagen. Aber sie war hübsch anzusehen, genau wie ihre Mutter, das muss man ihr lassen.«
»Erzählen Sie mir von ihrer Mutter – Sophie, sagten Sie, war ihr Name?« Die alte Frau nickte im Takt ihrer mächtigen Schaukelbewegungen. »Sophie war Ihre Schwester?« Ein weiteres gewaltiges Nicken. »Älter oder jünger als Sie?«
»Jünger. Drei Jahre? Nein, vier.« Sie schaute auf ihre gefleckten Hände, die die Armlehnen des Schaukelstuhls umklammerten. »Sophie war immer die Hübschere von uns beiden. Ich glaube, Thomas hatte sich eigentlich in sie verguckt, aber als sie dann mit Junior Bonds anbändelte, hat Thomas mir den Hof gemacht. Er dachte wohl, wenn er Sophie nicht haben kann, würde er sich eben mit mir begnügen.« Mir fiel wieder ein, was O’Conner mir über die Strenge des Priesters erzählt hatte, und ich empfand Mitleid mit der Frau, die seine zweite Wahl als Ehefrau gewesen war.
»Wie sind Leenas Eltern gestorben?«
»Das Haus ist abgebrannt. Eines Nachts, als alle schliefen, fing der Schornstein Feuer. Leena sprang aus dem Fenster, das war ihre Rettung. Sophie und Junior hatten nicht so viel Glück.«
»Wie alt war Leena damals?«
»Dreizehn, vielleicht vierzehn. Leena war glücklicherweise eine Spätentwicklerin, aber als sie schließlich erblühte, war sie eine Schönheit. Ob beim geselligen Beisammensein der Kirchengemeinde oder bei Hochzeiten, ja selbst bei Beerdigungen, man kam durch die Schar der Jungen, die sie umlagerten, kaum zu ihr durch.«
»War einer von diesen Jungen Jim O’Conner?«
Sie warf mir einen raschen Blick zu. »Nun, sicher. Er war nicht der größte Kerl in der Gegend, aber er sah gut aus, und er hatte ’ne Menge Schneid. Wie ein kleiner Zwerghahn stolzierte er über den Wirtschaftshof, aber das machte nichts.« Ein trauriges Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Er war richtig süß damals. Seither ist er ein wenig hart geworden, aber ich kann nicht behaupten, ich würde ihm daraus einen Vorwurf machen. Vielleicht werden wir alle härter, sobald das Leben uns ein paar harte Lektionen erteilt.«
Sie machte eine Pause – beim Reden und beim Schaukeln –, und ich wartete eine Weile, bevor ich ihr meine nächste Frage stellte. »Mrs. Kitchings, waren Leena und Jim O’Conner ein Paar? Meinten sie es ernst?«
Sie fing wieder an zu schaukeln und nickte. »Ja. Ja, es war ihnen ernst. Sie sprachen davon, zu heiraten, sobald er aus Vietnam zurück wäre.« Sie zog die zweiten Silbe beträchtlich in die Länge – »nahm«.
»Und wie standen Sie dazu?«
»Oh, ich fand das in Ordnung. Ich mochte Jim, und ich wusste, dass sie verrückt nach ihm war. Nicht viele Mädchen hier oben in den Bergen kriegen so einen Mann. Die Auswahl ist mager; man nimmt, was man kriegen kann, oder macht seinen Frieden damit, eine alte Jungfer zu werden.« Das klang, als spräche sie jetzt von sich. »Leena sollte ein gutes Leben und einen guten Mann haben.«
»Dann haben Sie und Ihr Mann ihnen Ihren Segen gegeben.«
Das Schaukeln wurde durch einen Ruck unterbrochen, doch sie fand rasch wieder in ihren Rhythmus zurück. »Nun, das hätten wir getan. Ich kann nicht behaupten, dass Thomas den O’Conner-Jungen genauso ins Herz geschlossen gehabt hätte wie ich. Thomas war für das Mädchen wie ein Vater, kein Bursche wäre in seinen Augen je gut genug gewesen für sie.«
Ich wusste, was ich fragen musste, aber nicht, wie ich es formulieren sollte. »Hat er versucht, ihr abzuraten? Oder ihn zu entmutigen?«
Ihr Tempo nahm zu. »Die eine oder andere Diskussion mag es wohl gegeben haben. Thomas hat immer direkt heraus gesagt, was er dachte. Der nimmt kein Blatt vor den Mund. Er konnte sehr scharf werden, und einmal hat er ein paar harsche Sachen über den O’Conner-Jungen zu ihr gesagt.«
»Und wie hat Leena reagiert?«
»Na, das Mädchen ist über ihn hergefallen wie …« Sie hörte auf zu schaukeln und blickte mich argwöhnisch an. »Warum stellen Sie mir all diese Fragen? Das ist dreißig Jahre her, und wir haben sie seither nicht mehr gesehen. Nicht, seit sie in Schwierigkeiten geriet und weggelaufen ist. Wir haben auch nie mehr was von ihr gehört – nicht mal ein ›mit eurem Einverständnis‹ oder ›lebt wohl‹ oder ›danke für alles‹. Sie hat ganz allein entschieden, wie sie sich bettet, und ich weiß nicht, mit wem sie gelegen hat, aber wir waren es nicht. Also, wir trauern ihr nicht nach, würde ich sagen.«
Im Haus begann ein Telefon zu läuten. Es war ein raues, metallisches Bimmeln, wie ich es seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Ich erwartete, einen Anrufbeantworter anspringen zu hören, doch das Telefon klingelte ohne Unterlass. Je länger es klingelte, desto nervöser wurde ich, wer Mrs. Kitchings wohl anrief und was passieren würde, wenn sie dem Anrufer sagte, dass sie sich gerade mit mir unterhielt. Sie zupfte am Stoff ihres Hauskleids, und ich sah, dass sie gerne an den Apparat gegangen wäre. Ich wollte nicht die Gefahr eingehen, während des Gesprächs hierzubleiben, also drückte ich mich aus dem platt geschaukelten Stuhl hoch. »Klingt so, als wollte jemand wirklich dringend mit Ihnen sprechen. Schätze, ich sollte Sie nicht länger aufhalten.«
Sie wirkte verdutzt, dass ich so schnell den Abgang machte. Im Süden war es üblich, sich eine halbe Stunde oder länger zu verabschieden, aber ich konnte diesen ausgedehnten Verabschiedungen nichts abgewinnen. Ich dankte ihr für ihre Zeit und eilte die Stufen hinunter.
An der Fliegengittertür zögerte sie, als wollte sie sicherstellen, dass ich auch wirklich ging. Als ich mich umdrehte, um noch einmal zu winken, fiel mir etwas auf, was ich vorher nicht bemerkt hatte. Von der Rückseite des Hauses, wo wahrscheinlich die Küche, eine Hintertür und eine zweite Veranda lagen, führte ein schmaler Pfad dicht an der Baumgrenze am Fuß des Steilhangs entlang direkt zum gesprengten Eingang der Höhle.