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Ich machte seit Wochen einen weiten Bogen um den Kalender, doch ich konnte die Erinnerung an den Tag nicht verdrängen, der schließlich herangenaht war: der 27. September, der Tag, an dem Kathleens Tod sich zum zweiten Mal jährte. Ich hatte den Tag pünktlich und schlaflos um Mitternacht eingeläutet und hatte mich dann viele weitere Stunden unruhig hin und her geworfen. Bei Tagesanbruch hatte ich höllische Kopfschmerzen, und als ich mir Kaffee einschenkte, zitterte meine Hand. Als das Telefon die Stille in der Küche störte, zuckte ich dermaßen zusammen, dass ich die halbe Tasse verschüttete.
»Hallo?«
»Hey, Dad, ich bin’s, Jeff.«
Jeff wohnte nur fünfundzwanzig Kilometer weit weg, aber Welten entfernt von dem von Bäumen gesäumten Sanktuarium der Sequoyah Hills. Er und seine Frau hatten gerade ein ausladendes neues Haus in Farragut gekauft, einer boomenden Vorstadt ganz im Westen am Kingston Pike. Mit einem Anthropologen als Vater und einer Sozialwissenschaftlerin als Mutter hatte er vermutlich für den Rest seines Lebens genügend Erfahrungen im Elfenbeinturm gemacht, denn Jeff hatte an der University of Tennessee einen Magisterabschluss in BWL gemacht, schnell sein CPA-Examen abgelegt und in weniger als zehn Jahren ein erfolgreiches Steuerberater-Büro aufgebaut. Seine beiden Jungen, fünf und sieben Jahre alt, spielten bereits in einer Fußballliga, und Jeffs Frau Jenny kam bestens mit den anderen wohlhabenden Fußballmuttis in Farragut zurecht. Mit zweiunddreißig war mein Sohn erfolgreich und glücklich. Und ich konnte es kaum ertragen, mit ihm zu reden.
»Hi, Jeff, ich muss mich kurz fassen … ich bin schon fast zu spät zur Vorlesung.«
»Es ist Samstag, Dad. Werden jetzt an der University of Tennessee schon Vorlesungen auf den Samstag gelegt?«
»Ich meinte nicht Vorlesung. Ich meine eine Exhumierung. Ich muss eine Leiche exhumieren.«
»Geht es dir gut? Du klingst … seltsam.«
»Mir geht es gut.«
»Hör mal, ich wollte dir nur sagen, dass ich heute an dich denke.« Ich wünschte, das hätte er nicht gesagt. »Wie geht es dir … wirklich? Sag nicht einfach ›gut‹, denn so besonders ehrlich klingt das nicht.«
»Na, wieso bloß? Ach, jetzt weiß ich es wieder … meine Frau ist heute vor zwei Jahren gestorben.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Augenblick Schweigen. »Ich weiß, Dad. Meine Mutter auch.«
»Na, du scheinst ja gut darüber hinweggekommen zu sein.« Mein Tonfall war schärfer als beabsichtigt.
»Was soll das denn heißen? Ist das etwa ein Vorwurf?«
»Nein. Nur eine Beobachtung. Du scheinst nicht besonders zu trauern.«
Ich hörte ihn tief Luft holen, dann atmete er lange und angestrengt aus. »Da liegst du gewaltig daneben. Ich habe Mom geliebt. Und als sie starb, hat das wehgetan wie Hölle; und manchmal tut es das auch heute noch. Aber weißt du was, Dad? Ich habe viel geweint, und dann habe ich mich der Tatsache gestellt, dass sie gestorben ist, und bin zu dem Schluss gekommen, mein Leben weiterzuleben. Du dagegen scheinst wild entschlossen zu sein, dich in deiner Trauer zu suhlen – du trägst sie wie ein Kreuz, du trägst sie wie eine Dornenkrone, wie selbst auferlegte Stigmata. Und jeder, der nicht mit dir zu Boden geht und sich mit dir suhlt, dessen Trauer ist in deinen Augen nicht groß genug, und folglich war es auch seine Liebe zu ihr nicht. Und wenn du das tust, Dad, dann entfremdest du dich von den Menschen, die dich lieben und dir nur das Beste wünschen und wollen, dass du wieder glücklich bist.«
»Ich werde wieder glücklich sein, wenn die Zeit kommt.«
»Nein, wirst du nicht. Denn du wehrst dich dagegen. Das scheint so eine Art perverser Herausforderung für dich zu sein … zu sehen, wie lange du dein Elend und deine Einsamkeit schröpfen kannst.«
»Und dieses Gespräch soll mich gut draufbringen?«
»Ich habe nicht damit angefangen. Komm schon, Dad, gib’s zu – du versteckst dich vor dem Leben. Du vergräbst dich in deiner Arbeit, und du versinkst in deiner Trauer. Und das ist alles, was du überhaupt noch tust.«
»Meine Arbeit ist sehr anspruchsvoll.«
»So anspruchsvoll, dass du keine Zeit hast, mal anzurufen oder deinen Sohn und deine Enkelkinder zu besuchen? So anspruchsvoll, dass du keine Zeit hast, abends mal zum Essen auszugehen? Wann warst du das letzte Mal mit einer Frau zum Essen aus? Oder mit einem Mann? Mit mir zum Beispiel?«
»Es ist schwer, dich zu sehen. Es tut weh.«
»Und warum, Dad?«
Wenn ich es mit der Wahrheit gehalten hätte, hätte ich zu meinem Sohn gesagt: »Weil ich uns beiden die Schuld an ihrem Tod gebe. Ich gebe mir die Schuld, und ich gebe dir die Schuld, weil deine Geburt so schwer war.« Aber ich sagte ihm die Wahrheit nicht – ich konnte sie ihm nicht sagen –, sondern meinte nur: »Du erinnerst mich zu sehr an sie.«
»Warum kannst du daraus keinen Trost schöpfen – aus der Tatsache, dass ein Teil von ihr in mir fortlebt?« Ich versuchte erst gar nicht, ihm darauf eine Antwort zu geben. »Zum Teufel, ich vermisse meinen Vater, und meine Söhne vermissen ihren Großvater. Mom ist gestorben, und das ist wirklich schlimm. Sie war nicht meine Frau, also weiß ich nicht, wie es ist, Witwer zu sein. Aber sie ist tot. Wir sind nicht tot, und du auch nicht. Als hör auf, so zu tun, als wärst du es.«
In meinen Schläfen pochte das Blut, und alles verschwamm mir vor den Augen. Wie benommen starrte ich auf den Hörer, und dann bewegte ich ihn langsam vom Ohr weg.
»Dad? Dad!« Seine Stimme wurde leiser. »Dad, leg nicht auf. Bitte, leg nicht auf.«
Gott möge mir verzeihen, aber ich legte auf.
Und dann saß ich allein in meiner leeren Küche – einem Raum, der mehr an meinen Nerven zerrte als das Leichenschauhaus – und überlegte: Wie war das passiert? Wie hatte meine Familie – einst meine größte Freude – zu meinem größten Kummer werden können? Kathleen war fast gestorben, um mir Jeff zu schenken, und doch behandelte ich ihn wie einen Fluch statt wie ein Geschenk. Ich wusste, dass es ihr das Herz brechen würde, wenn sie das sehen könnte, doch obwohl ich mich schämte, schien ich unserem Sohn mein Herz nicht öffnen zu können.
Nach Kathleens Tod hatte mir ein wohlmeinender Freund ein Exemplar von Der Prophet gegeben, ein Buch mit Essays von Khalil Gibran. Ich hatte noch nie hineingeschaut. Jetzt holte ich es zum ersten Mal aus dem Regal und schlug es bei einem Kapitel auf, das mit einem purpurroten Lesebändchen gezeichnet war. Es war »Von der Freude und dem Leid« überschrieben.
Zitternd las ich: »Wenn ihr fröhlich seid, schaut tief in eure Herzen, und ihr werdet finden, dass nur das, was euch Leid bereitet hat, euch auch Freude gibt. Wenn ihr traurig seid, schaut wieder in eure Herzen, und ihr werdet sehen, dass die Wahrheit um das weint, was euch Vergnügen bereitet hat … Sie sind untrennbar. Sie kommen zusammen, und wenn einer alleine mit euch am Tisch sitzt, denkt daran, dass der andere auf eurem Bett schläft.«
Ich dachte an Jeff und daran, welche Mühe wir gehabt hatten, ihn zu zeugen, und auch, wie dankbar wir waren, als er die schwierige Geburt überlebte. Er und sie – beide zusammen – waren meine Freude gewesen, und es war mir nicht gelungen, ihn von der Trauer zu trennen, die mich überwältigte, als sie starb.
»Je tiefer sich das Leid in euer Sein eingräbt, desto mehr Freude könnt ihr fassen«, las ich weiter.
Wenn das stimmt, dachte ich, dann muss ich Platz machen für verdammt viel Freude.