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Scheinwerfer tanzten über den demolierten JetRanger, als ein Fahrzeug über das Feld auf das Wrack zuholperte. Ich überlegte noch, wer wohl zuerst kommen würde – die Beamten der Kriminalpolizei von Tennessee oder meine forensische Einsatztruppe.
Ich hatte Miranda über das Satellitentelefon erreicht, das Jim O’Conner mir dagelassen hatte. Es war ein ungünstiger Tag, um ein forensisches Team zusammenzutrommeln. Nicht nur war es Samstag, es war just der Samstag genau mitten in den viertägigen Herbstferien an der University of Tennessee. Normalerweise wimmelten die Flure und Büros unter dem Stadion selbst am Wochenende von Anthropologiestudenten; doch heute waren diese anscheinend so rar wie Jungfrauen auf einer Studentenverbindungsparty. Miranda hatte nach einer halben Stunde zurückgerufen, um mir zu sagen, dass ihre Bemühungen, zwei weitere Doktoranden aufzutreiben, völlig erfolglos gewesen waren. »Rufen Sie Art Bohanan an«, sagte ich. »Er kennt sich nicht mit Knochen aus, aber er kann gut Beweismittel eintüten und Tatortfotos machen. Und versuchen Sie es bei Sarah Carmichael.«
»Wer ist das? Die kenne ich nicht.«
Ich wand mich bei der Frage. »Sie ist in einer meiner Vorlesungen. In der Verwaltung müssten sie eine Adresse von ihr haben.«
»Sarah Carmichael. Ist sie im Magisterstudiengang oder Doktorandin?«
»Sie … sie ist noch im Grundstudium.«
Es gab eine lange Pause. »Hat sie schon Osteologie gemacht?«
»Eigentlich nicht. Aber sie hat das Knochenkundehandbuch von sich aus praktisch auswendig gelernt.«
Eine weitere Pause, noch länger als die erste. »Ist es die, von der ich glaube, dass es sie ist?«
»Wahrscheinlich. Ja. Schauen Sie, es ist die Studentin, mit der Sie mich neulich beim Küssen erwischt haben, okay? Es tut mir leid; ich weiß, dass das komisch ist, und ich ziehe sie nur ungern hier mit herein, aber wenn Sie sonst niemanden finden, ist sie womöglich die Beste, die wir kriegen können. Sie ist klug, sie hat die Grundlagen drauf, und sie wird die Erfassung der Daten und das Ausfüllen des Knocheninventars gut hinkriegen.«
»Knocheninventar« war ein schicker Begriff für eine Umrisszeichnung des menschlichen Skeletts. Bei Untersuchungen vor Ort wie hier übertrug ich immer einem Studenten die Aufgabe, den Umriss der Knochen, die wir fanden, mit einem Bleistift oder Kugelschreiber auszumalen. Im Grunde sah es aus wie ein Halloween-Malbuch, und die einzigen Stellen, wo es schwierig war, nicht über den Rand zu malen, waren Hände, Füße und Schädel. Abgesehen davon, dass es schneller und leichter ging, als all die Namen der gefundenen Knochen aufzuschreiben, zeigte das Schaubild mir auf einen Blick, was wir hatten und was noch fehlte. Ich war zuversichtlich, dass Sarah absolut keine Probleme haben würde, das Formular akkurat auszufüllen.
»Wir brauchen ihre Hilfe nicht«, sagte Miranda. »Das kriegen wir auch ohne sie hin.«
»Nein, Miranda, das tun wir nicht. Sie haben den rechten Arm in Gips, schon vergessen? Sie können mit einem gebrochenen Arm weder Knochen identifizieren noch etwas notieren, noch Beweismittel eintüten. Rufen Sie Sarah an.«
Trotz der Tausenden von Kilometern bis zum Nachrichtensatelliten und zurück hörte ich Miranda wütend nach Luft schnappen; vor meinem geistigen Auge sah ich sogar ihre Nasenflügel beben. »Verdammt«, sagte sie schließlich, »Sie verlangen da wirklich sehr viel von mir, wissen Sie das?«
»Ja, ich weiß, und es tut mir auch leid. Aber ich tue es nicht für mich. Ich bitte Sie für den toten Mann im Hubschrauber hier darum und für seinen Bruder, den Sheriff, der gerade von einem Rettungshubschrauber abgeholt wurde, und für ihre Mutter und ihren Vater, die nicht mal wissen, dass einer ihrer Söhne gerade umgebracht wurde. Es ist ein komplizierter Mordschauplatz, Miranda, und ich brauche Hilfe. Besonders Ihre. Bitte.«
Zwei Stunden nach diesem wütenden Gespräch kam der institutseigene Pick-up den Talboden heraufgeholpert, mit Miranda am Steuer, Art auf dem Beifahrersitz als Bewacher und Navigator und Sarah auf dem Notsitz hinten eingezwängt. Ich dirigierte sie zur Vorderseite des Hubschraubers, damit die Scheinwerfer in das zerstörte Innere leuchteten. »Wow«, sagte Miranda, als sie aus dem Wagen sprang. Ihr orangefarbener Gips leuchtete praktischerweise im Dunkeln. »Der Kudzutunnel ist ja unglaublich. Wie in der Toskana – wie in einer Weinlaube, allerdings mit einem Touch Tennessee.« Sie wirkte entspannt und glücklich. War es der Adrenalinschub wegen des Arbeit vor Ort, oder hatte sie sich auf der Fahrt hier hoch innerlich mit Sarah ausgesöhnt? Wie auch immer, ich war erleichtert. »Drei Jahre und fünfzig Mordschauplätze, und der hier ist der tollste.« Sie klinkte die Tür des Aufbaus auf der Ladefläche des Pick-ups auf und machte sich mit einer Hand daran, die Ausrüstung auszuladen.
Art winkte herüber und zwinkerte mächtig, was wohl ein Zeichen für irgendetwas sein sollte, aber ich hatte weder die Zeit noch bot mir die Situation genügend Privatsphäre, um ihn zu fragen, was es bedeutete. Dann zwängte Sarah sich aus dem engen Notsitz. Das Lächeln, das sie mir schenkte, war immer noch ein wenig verlegen, aber die Schüchternheit darin konnte der Aufregung in ihren Augen nicht das Wasser reichen. Vielleicht hatte ich doch nicht alles bis ans Ende aller Tage vermasselt.
Die zwei Stunden, die sie gebraucht hatten, um zum Tatort zu kommen, waren mir vorgekommen wie eine Ewigkeit. Doch selbst wenn sie früher gekommen wären, hätten wir nicht anfangen können, die Leiche aus dem Hubschrauber zu bergen, bevor das Wrack nicht abgekühlt war, und es war jetzt immer noch fast zu warm, um es anzufassen.
Ich hatte meine Helfer Williams eben vorgestellt – ich war überrascht, dass Art bei den Besuchen mit mir in Cooke County dem Deputy noch nicht begegnet war –, da zeigte Art auf den Eingang des Tals. »Bill, hast du Pizza bestellt?«
Ein Crown Victoria kam langsam das Tal herauf auf uns zu. Ich wusste, dass das kein Pizzalieferant war, es sei denn, Domino’s rekrutierte seine Fahrer inzwischen aus den Reihen aktiver Kriminalbeamter.
Über die Frage, ob wir die Kriminalpolizei hinzuziehen sollten, waren Williams und ich fast aneinandergeraten. Sobald der Rotorlärm des LifeStar-Hubschraubers verklungen war, hatte ich das Satellitentelefon herausgeholt, um sie anzurufen. »Zum Teufel, nein«, sagte der Deputy, als ich ihm erklärte, was ich vorhatte. »Ich bin hier verantwortlich, und ich sage Nein.« Er hatte recht, der Sheriff war im Krankenhaus, und der Chief Deputy war tot, also war Williams der ranghöchste Beamte am Tatort – sowie, was das anging, im ganzen County. Doch er war ein Befehlshaber ohne Untergeordnete, und er schien unsicher zu sein, wie er weiter verfahren sollte. Als er sich gegen die Kriminalpolizei sträubte, schlug ich stattdessen die Tennessee Highway Patrol vor, doch das lehnte er ebenfalls ab. »Na gut«, sagte ich, »wir sind nicht auf Bundesterritorium, also können wir auch nicht die Bundespolizei hinzuziehen. Scheint, als wäre die beste Lösung doch Ihre neuen Kumpel von der Kripo.«
Ich hatte das nicht sagen wollen; es war mir im Eifer des Gefechts so rausgerutscht. Williams wurde zuerst leichenblass und dann rot vor Zorn; und mein Versuch einer Erklärung – dass ich ein Buch in die Bibliothek in der Innenstadt zurückgebracht und zufällig gesehen hatte, wie er sich auf den Stufen des Federal Buildings mit Steve Morgan unterhalten hatte – klang selbst in meinen eigenen Ohren lahm. »Schauen Sie«, sagte ich schließlich, »jemand hat gerade den Bruder des Sheriffs erschossen. Sie haben nicht die Ressourcen, um eine große Ermittlung durchzuführen. Rufen Sie Verstärkung herbei. Dann haben Sie die größte Chance, den zu schnappen, der das getan hat.« Er sah immer noch unglücklich aus, doch er hinderte mich nicht länger daran, den Anruf zu machen.
Fahrer- und Beifahrertür des Crown Victoria öffneten sich gleichzeitig. Auf der Fahrerseite stieg mit grimmiger Miene Steve Morgan aus, auf der Beifahrerseite Brian »Rooster« Rankin. Da seine Deckung inzwischen vollständig aufgeflogen war, hatte er Schirmmütze und Overall jetzt gegen Sportsakko und Seidenkrawatte eingetauscht.
Williams und Morgan nickten einander unbehaglich zu, so wie Menschen, die sich kennen, es aber nicht gerne zugeben – etwa zwei Priester, die in einer Striptease-Bar aufeinandertreffen. Rankin dagegen legte großen Wert darauf, sich Williams vorzustellen, was mir verriet, dass der Deputy Rankin im Federal Building nicht begegnet war. Das kam mir logisch vor – er arbeitete schließlich immer noch verdeckt. Während Rankin ihm die Hand schüttelte, verriet Williams’ Miene jedoch eine kräftige Mischung aus Verwirrung, Schock und Angst. Also hatte Rankin wohl – als verdeckt ermittelnder Beamter – in irgendeinem zwielichtigen oder illegalen Kontext Tuchfühlung mit dem Deputy gehabt.
Die beiden Kriminalbeamten steckten kurz die Köpfe mit uns zusammen. Zuerst bekamen sie von mir eine Zusammenfassung, dann stellten sie Williams ein paar Fragen – wo und wann hatte er von der Schießerei erfahren, wann war er gekommen und so weiter. Sie entschuldigten sich einen Augenblick und stiegen wieder in ihr Auto, wo sie sich in leisem, ernstem Tonfall berieten. Als sie sich wieder zu uns gesellten, schien Morgan die Führung übernommen zu haben. »Wir schlagen folgendes Vorgehen vor«, sagte er in einem Tonfall, der nicht gerade zu Rückmeldungen oder Fragen einlud. »Ich bleibe mit Dr. Brockton und seinen Leuten hier, während sie die Leiche aus dem Hubschrauber bergen. Agent Rankin fährt mit Deputy Williams zurück zum Gerichtsgebäude, um mehr Hintergrundinformationen zu erhalten, die eingegangenen Anrufe durchzugehen und sich die relevanten Akten anzusehen.«
»Ich rühre mich hier nicht von der Stelle«, sagte Williams. »Dies ist ein Tatort in Cooke County, ich war der erste Beamte am Tatort, und damit bin ich für diesen Vorfall hier zuständig.«
Die Beamten der Kriminalpolizei sahen einander an, und Rankin winkte Williams zu sich. »Leon – Kumpel – wie wäre es, wenn du ein paar Minuten mit deinem alten Spezi Rooster quatschst?« Er zeigte auf Leons Jeep, und sie stiegen ein. Diesmal wurden die Stimmen ziemlich laut – wenigstens die des Deputys. Sehr zu meiner Überraschung wurde dann jedoch der Motor des Cherokee angeworfen und das Fahrzeug fuhr in Schlangenlinien über das Feld und nahm den Deputy und den verdeckt ermittelnden Beamten mit aus dem Tal hinaus.
Morgan schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Behördenübergreifende Kooperation«, sagte er, »ist wirklich etwas ganz Wunderbares.« Ich wartete, ob er mich noch darüber ins Bild setzen würde, wieso Rankin so einen großen Einfluss auf Williams hatte, doch es kam nichts mehr. »Ich will Sie nicht noch länger von der Arbeit abhalten«, sagte er und schaute zum Hubschrauber.
Als Erstes kartographierten wir die Absturzstelle. Ich bat Sarah, eine grobe Skizze des Tatorts zu zeichnen, während Art und Miranda die Koordinaten der wichtigsten Geländepunkte absteckten. Die Entwicklung tragbarer GPS-Empfänger hatte das Skizzieren des Tatorts sehr vereinfacht – mit einem Knopfdruck war es jetzt möglich, Längen- und Breitengrad des Fundorts einer Leiche genau zu bestimmen und diesen sogar auf dem Display einzublenden –, aber ich war noch nicht bereit, ganz auf das altmodische Ausmessen und Zeichnen einer Karte zu verzichten. Batterien gingen zu Ende, Displays konnten kaputtgehen, Platinen fielen aus, selbst Satelliten gingen kaputt. Abgesehen davon hatten die meisten GPS-Empfänger eine Fehlertoleranz von ein bis drei Metern. Im schlimmsten Fall konnte das bedeuten, dass ich, wenn ich sechs Monate später an einen Tatort zurückkehrte und genau da stand oder grub, wo laut der Anzeige des Dingsbums die Leiche gelegen hatte, womöglich bis zu drei Meter in jede Richtung daneben lag. Wenn man ein fehlendes Zungenbein suchte, war ein Kreis von sechs Metern Durchmesser – achtundzwanzig Quadratmeter – eine riesige Fläche.
Ein naheliegender und unzweideutiger Orientierungspunkt für unsere Koordinaten war das Haus – insbesondere die südwestliche Ecke der Veranda, der nächste Punkt zum Wrack. Art machte eine Kompasspeilung zur Mitte des Cockpits und rief: »225 Grad.« Sarah zeichnete einen Pfeil und notierte die Peilung auf ihrer Karte, und als Art ein langes Bandmaß zwischen der Ecke und dem Hubschrauber entrollte, trug sie unter dem Kompasswert »226,7 Meter« ein. Als zweiten Geländepunkt wählten sie eine große Schierlingstanne, die allein neben dem kleinen Bach stand, der das Tal in ganzer Länge durchzog, bevor er im Kudzutunnel verschwand. Der Hubschrauber lag bei einem Kompasskurs von 128 Grad 22,6 Meter vom Fuß der Tanne entfernt. Solange das Haus nicht abgerissen und der Baum gefällt wurde, waren wir mittels dieser Kreuzpeilung in der Lage, die Stelle des Absturzes auf Jahre hinaus mit Präzision und Sicherheit zu bestimmen, mit GPS oder ohne.
Der Vorteil dieses Absturzes, falls man so etwas in diesem Zusammenhang überhaupt sagen konnte, war, dass die meisten Leichenteile im Hubschrauberwrack lagen. Ich hatte in meinen Jahren in Knoxville mehrere Abstürze in den Great Smoky Mountains bearbeitet. Diese Flugzeuge – zwei Propellerflugzeuge und ein Tankflugzeug des Militärs – waren mit hoher Geschwindigkeit horizontal geflogen, als sie abgestürzt waren – mit dem Ergebnis, dass Wrack- und Körperteile auf den Hängen über Hunderte von Quadratmetern verstreut waren. Orbins Hubschrauber jedoch war fast senkrecht abgestürzt, sodass sein Körper, auch wenn er – zuerst durch die Gewalt des Aufpralls, dann durch das Feuer – beträchtliche Verletzungen aufwies, zumindest nicht in alle Winde verstreut war.
Der Hubschrauber war seitlich aufgeschlagen, was uns die Bergung erleichterte. Wenn er mit der Oberseite nach unten aufgeprallt wäre, hätten die Maschine und der Rotor das Cockpit eingedrückt und wir wären gezwungen gewesen, uns unseren Weg freizustemmen. So jedoch konnte ich mich durch die Öffnung der Windschutzscheibe ins Cockpit beugen, das größtenteils noch intakt war.
Als ich mich der leeren Windschutzscheibenöffnung näherte, atmete ich den Geruch nach verbranntem Fleisch ein und musste würgen. Wenn ich hier fertig war, würden meine Kleider, ja sogar meine Haare und meine Haut einen unverwechselbaren Geruch ausströmen: versengt und stinkend, aber auch mit einem bestürzenden, übelkeitserregend süßlichen Unterton. Das Beste war, einfach weiterzumachen. Ich beugte mich hinein und befand mich Auge in Auge mit dem gähnenden Schädel von Orbin Kitchings.
Der Schädel ruhte am Türrahmen und an der Kante des Sitzes. Die Sitzpolsterung war verschwunden, der versengte Rahmen und die Federung waren durch den Aufprall auf der linken Seite plattgedrückt. Orbins Augen bestanden nur noch aus rußgeschwärzter Asche in den Augenhöhlen, sie sahen jetzt mehr aus wie Kohlestückchen als wie Fenster zur Seele. So wie ich ihn erlebt hatte, war Orbins Seele allerdings schon im Leben ziemlich schwarz gewesen.
Das Weichgewebe am Schädel war größtenteils verbrannt, doch der Unterkiefer hing noch lose am Kiefergelenk, wodurch der Mund aussah wie der einer gähnenden, makaberen, schreienden Todesfee. Es erinnerte mich ein wenig an Leena – und dann erkannte ich, dass die Ähnlichkeit mehr als oberflächlich war. Genau wie sie hatte auch Orbin Kitchings keine oberen seitlichen Schneidezähne. Als ich mir Orbins Zähne genauer anschaute, blitzte vor meinem geistigen Auge plötzlich noch ein anderes Bild auf: Tom Kitchings, wie er sich durch den schmalen Teil der Höhle gequetscht hatte, die zusammengebissenen Zähne vor Anstrengung entblößt. »Da laust mich doch der Affe«, sagte ich leise. Die Erbmasse in Cooke County war ein bemerkenswert kleiner und flacher Protoplasmasee.
Orbin war in seinem Sicherheitsgurt angeschnallt gestorben. Das Nylongewebe des Gurts war von dem Inferno verzehrt worden, doch Orbin, beziehungsweise das, was von ihm übriggeblieben war, war am Ruder seines zerstörten Fluggeräts sitzen geblieben und sah jetzt aus wie ein Pilot der Verdammten. Mehrere meiner Studenten hatten im Laufe der Jahre die Wirkung von Feuer auf Fleisch und Knochen untersucht, und bei einem hatte ich zugesehen, wie er einen menschlichen Kopf auf einem Barbecue-Grill verbrannt hatte. Nach wenigen Minuten auf einem Bett aus heißen Kohlen war die Haut an der Stirn aufgeplatzt und hatte sich gelöst. Dem Grad der Kalzinierung und der Farbe von Orbins Schädel nach zu schließen – die Farbtöne reichten vom Ascheweiß des Stirnbeins zum Karamellbraun des Hinterhauptbeins am Hinterkopf –, hatte sich die Kopfhaut des Deputys nur nach und nach vom Schädel gelöst, in Zeitlupe skalpiert von einem sadistischen Feuergott.
Wahrscheinlich konnten wir den größten Teil der Leiche in einem Stück aus dem Wrack holen, und wenn uns das gelang, war die Bergung weitaus schneller und einfacher. Ich wollte jedoch nicht das Risiko eingehen, dass wir den Schädel dabei zerstörten, also holte ich mir aus meinem Werkzeugkasten ein Skalpell. Mit einer Hand neigte ich den Kopf leicht nach hinten, mit der anderen schob ich das Skalpell vor und zurück, um die verbrannten Überreste von Bändern und Rückenmark zu trennen. Dann hob ich den Schädel hoch, schob mich rücklings aus dem Wrack und drehte mich um, um meinen Mannschaftskameraden den Schädel zu zeigen.
Art stieß einen Pfiff aus, als er das Loch mitten in der Stirn sah. Es maß ungefähr zweieinhalb Zentimeter im Durchmesser; die Ränder waren eingekerbt, und Frakturlinien strahlten davon aus wie krumme Speichen an einem demolierten Rad. »Das ist eine große Einschusswunde«, sagte er. »Die Patrone muss aufgepilzt sein, als sie auf die Windschutzscheibe traf. Zudem ein verdammt guter Schuss«, fügte er hinzu. »Oder unglaubliches Glück. Ich wette, Orbin hat dem Schützen direkt in die Augen gesehen, als der abgedrückt hat. Von wegen dem Tod ins Angesicht schauen.«
»Wenn er Keanu Reeves in Matrix gewesen wäre«, sagte Miranda, »hätte er der Kugel ausweichen können.«
»Wenn er Christopher Reeve in Superman gewesen wäre, wäre sie glatt von ihm abgeprallt«, sagte ich.
»Wenn er Superman gewesen wäre, hätte er nicht im Hubschrauber fliegen müssen«, fügte Sarah hinzu.
»Das stimmt«, mischte sich Art ein. »Und er hätte den Typ mit seinem Teleskopblick entdeckt. Und mit seinem Hitzeblick hätte er ihn verbrannt.«
»Das langt jetzt«, sagte ich. »Von diesen komplexen forensischen Hypothesen wird mir ganz wirr im Kopf.«
Ich reichte Miranda den Schädel und beugte mich wieder ins Cockpit, um zu schauen, wie viel vom Körper noch intakt war. Arme und Unterschenkel waren verbrannt, was nicht überraschte, denn sie waren relativ dünn und zylindrisch und von allen Seiten von Sauerstoff umgeben. Damit waren sie stets das Erste, was in einem heißen Feuer verbrannte. Einige der entsprechenden Knochen lagen auf dem verbogenen Metall der Pilotentür, andere waren mit dem Plexiglas, das erst gesprungen, dann geschmolzen, danach abgekühlt und zu einer klumpigen schwarzen Masse ausgehärtet war, zu einem bizarren Konglomerat verschmolzen.
Die Rippen waren fast vollständig freigelegt, außer am Rücken, wo sie mit der Wirbelsäule verbunden waren. Dort hatten die Polsterung und das Leder des Sitzes das Fleisch in den ersten paar Minuten vor dem Feuer geschützt, genau wie unter den Pobacken und der Rückseite der Oberschenkel. Zwei Personen würden Mühe haben, den Torso durch die Öffnung der Windschutzscheibe zu zwängen. »Miranda, könnten Sie bitte einen Leichensack offen hier auf dem Boden auslegen«, rief ich. »Art, hast du Handschuhe an?«
»Ja«, sagte er und wackelte mit seinen purpurrot behandschuhten Fingern, »die Handschuhe habe ich an, aber die passende Handtasche konnte ich nirgends finden. Was kann ich für dich tun?«
»Komm, hilf mir, ihn hier rauszuziehen, ja?«
»Aber gerne.«
Sobald Miranda und Sarah den Leichensack offen zu meinen Füßen ausgebreitet hatten, langte ich auf der linken Seite ins Cockpit und schob die Hände unter die linke Hüfte und die linken Rippen der Leiche. Art lehnte sich auf der rechten Seite durch die Öffnung und schob die Hände hinter die rechte Schulter und die rechte Hüfte. »Bei drei«, sagte ich. »Eins, zwei, drei!« Wir stöhnten vor Anstrengung, doch die verkohlte Leiche hob sich von Sitz und Türrahmen und ließ sich wankend durch die Windschutzscheibenöffnung hieven.
»Wart mal ’ne Sekunde; ich muss umgreifen«, sagte Art, und damit trug ich plötzlich das ganze Gewicht der Leiche – das zwar im Vergleich zu früher beträchtlich reduziert war, aber immer noch eine schwere Last für einen Akademiker mittleren Alters, der seltsam schief und krumm halb im Hubschrauber hing und halb draußen.
»Beeil dich, ich kann ihn nicht lange halten«, keuchte ich.
»Okay, ich hab ihn; weiter geht’s«, sagte Art, und meine Last wurde merklich leichter.
Als wir den Torso durch die Öffnung hievten, blieb ein Oberschenkelknochen am mittleren Holm der Windschutzscheibenöffnung hängen, und ich verlor das Gleichgewicht. Ich stolperte rückwärts in Mirandas Arme. Die Leiche überschlug sich und landete plumpsend auf meinen Füßen. »Verdammt«, sagte ich.
»Gut, dass wir keine Rettungssanitäter sind«, sagte Art. »Wenn er nicht schon tot wäre, wäre er’s jetzt. Entweder das, oder er würde flugs seinen Anwalt anrufen.«
Ich zog die Ecken des Leichensacks um den Torso und zog den Reißverschluss zu. »Jeder packt eine Ecke«, sagte ich, »und dann schaffen wir ihn in den Wagen.« Auf uns vier verteilt, war das Gewicht überraschend leicht – nicht mehr als zehn Kilo für jeden.
Miranda und Sarah kamen zuerst mit ihrem Ende des Leichensacks an den Wagen. »Setzen wir ihn auf der Heckklappe ab, dann klettern wir rein und ziehen ihn rein«, sagte Miranda. Sie hievten sich sehr viel eleganter in den niedrigen Aufbau über der Ladefläche, als ich das gekonnt hätte. »Oh, noch einmal jung und behände zu sein«, sagte ich und schob meine Ecke auf sie zu.
»Oh, eine Festanstellung zu haben und von Assistentinnen verhätschelt zu werden«, schoss Miranda zurück. Im dunklen Innern des Aufbaus lachte Sarah hustend.
»So weit wird es nicht kommen«, sagte ich, »wenn Sie den Institutsleiter verärgern und er Sie rauswirft.«
»Das würde er nicht wagen. Ich bin seit zwei Jahren seine rechte Hand. Ohne mich wäre er verloren.«
»Stimmt«, sagte ich. »Aber ich baue schon Ihre Nachfolgerin auf.«
»Ausgeschlossen«, konterte Sarah, »die Bezahlung ist lausig, und die Arbeitszeit stinkt mir. Genau wie die Patienten.« Sie kamen wieder hervor und hüpften von der Ladefläche.
»Oh, das ist neu«, sagte ich. »Lassen Sie mich an meine Arbeit zurückkehren, damit ich mir eine gewitzte Erwiderung überlegen kann.« Ich ging zurück zum Cockpit, um die Knochen zu bergen, die sich vom Körper gelöst hatten. Das Erste, was ich herauszog, war ein Oberarmknochen. »Sieht aus, als hätte der Aufprall ihm den linken Arm abgerissen«, sagte ich zu Miranda. »Wissen Sie, was mir das verrät?«
Miranda besah sich den Knochen genauer, während Sara den entsprechenden Knochenumriss auf dem Knocheninventar ausmalte. »Nun, ein Ende ist ganz schwarz, und das andere ist grau«, sagte Miranda. »Ich nehme an, das ist ein Hinweis?«
»Ist das differenzielle Verbrennung?«, fragte Sarah und beugte sich vor.
»Richtig … sehr gut«, sagte ich. Miranda zog die Augenbrauen hoch, dann lächelte sie in widerwilliger Bewunderung. »Sehen Sie den Humeruskopf«, fuhr ich fort, »wo der Arm mit der Schulter verbunden ist? Er ist vollständig kalziniert; diese graue Farbe bedeutet, dass das organische Material zur Gänze verbrannt ist und nichts als Mineralien übrig sind. Sehen Sie, wie er von Hitzebrüchen durchzogen ist.« Sie betrachteten ihn intensiv. »Seien Sie sehr vorsichtig damit … er ist sehr zerbrechlich, wie Knochen, die eingeäschert wurden. Das Distalende am Ellenbogen ist karamellfarben, was bedeutet, dass es längst nicht so verbrannt ist. Weil …?«
»Weil noch Weichgewebe darum war, das es eine Weile geschützt hat«, sagte Miranda schnell. Sie reichte Sarah den Oberarmknochen, die ihn in einen braunen Asservatenbeutel tat, den sie etikettierte und mit einer Nummer versah.
»Genau.« Ich griff ins Cockpit und holte zwei weitere Knochen heraus, die am unteren Ende noch zusammenhingen. »Sieht aus, als würden das linke Schienbein und Wadenbein dasselbe Muster differenzieller Verbrennung aufweisen, also hat der Aufprall ihm wahrscheinlich auch den linken Unterschenkel abgerissen.« Ich reichte die Knochen nach draußen, damit sie sie inventarisierten, untersuchten und eintüteten. »Und der linke Oberschenkelknochen ist in der Mitte des Schafts auch kalziniert; das bedeutet, dass durch die Wucht des Aufpralls wahrscheinlich der Muskel gerissen ist.« Als ich den Oberschenkelknochen ausstreckte, beugte Art sich vor, um Nahaufnahmen des Brandmusters zu machen. Das Blitzlicht blendete mich. »Tu dir keinen Zwang an, Art«, sagte ich, »eigentlich brauche ich meine Retina auch nicht, um hier zu arbeiten.«
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich habe gehört, du kannst Knochen mit geschlossenen Augen identifizieren, also habe ich wohl gedacht, du schaust nicht hin. Diese differenzielle Verbrennung, von der ihr sprecht, ist die forensisch von Bedeutung?«
»In diesem Fall nicht. Wir wissen ja schon, wie er umgebracht wurde, weil ich es gesehen habe. Sowie zwei andere Zeugen – genauer gesagt drei, wenn man den Schützen mitzählt. Aber mal angenommen, wir hätten diese Knochen in einem ausgebrannten Haus gefunden, dann könnte die differenzielle Verbrennung ein wichtiger Hinweis sein – denn sie würde wahrscheinlich bedeuten, dass der Tote verletzt war oder die Leiche zerstückelt wurde, bevor sie verbrannte. In dem Fall wäre dann nicht von einem unbeabsichtigten Brand auszugehen, sondern wahrscheinlicher von Brandstiftung, um die Beweise für einen Mord zu vernichten.«
Nach den ersten Knochen und den ersten Minivorlesungen fielen wir schweigend in einen effizienten Rhythmus. Ohne hinzusehen, mich umzuwenden oder zu sprechen, reichte ich Miranda die Knochen, die sie laut benannte. Während Sarah damit beschäftigt war, die entsprechenden Knochen auf dem Knocheninventar auszumalen, übernahm Art das Eintüten und Etikettieren. Bald war der Boden bedeckt mit braunen Papiertüten, wie bei einem grausamen, kannibalischen Picknick.
Ich hatte mich allmählich zu den Pedalen im Fußraum des Cockpits vorgearbeitet, beziehungsweise dahin, wo einst der Fußraum gewesen war. »Hey, Art«, rief ich und machte mich daran, einige kalzinierte Fußknochen zu bergen. »Ich weiß, dass man in einem Flugzeug mit den Pedalen die Seitenruder bedient, aber wozu dienen sie in einem Hubschrauber, der hat doch gar keine Seitenruder? Sie sind doch nicht zum Gasgeben, oder?«
»Nein.« Er zeigte an mir vorbei auf ein gebogenes Metallrohr, das in der Mitte des Kabinenbodens montiert war. »Das Gas ist in diesem Hebel hier, den man bei einem Hubschrauber Kollektiv nennt. Mit den Fußpedalen wird der Heckrotor gesteuert, der wie ein Seitenruder wirkt, und zwar auf beängstigend komplexe Weise. Um nach links zu gieren – zu drehen –, drückt der Pilot das linke Pedal, was den Rotor dazu bringt, den Heckausleger nach rechts zu schieben. Ich habe einmal versucht, so ein komisches Ding zu fliegen.«
»Und?«
»Wie es in dem Lied von Lyle Lovett so schön heißt, ›Once is enough‹ – einmal reicht völlig. Das war die komplizierteste Hand-Augen-Gehirn-Motor-Koordination, die ich je versucht habe. Wenn ich eins fast richtig gemacht habe, waren zwei oder drei andere Sachen dermaßen falsch, dass wir auf dem Kopf standen oder auf der Seite lagen. Der Fluglehrer hat tatsächlich den Boden geküsst, als wir lebendig wieder unten waren.«
Etwas erregte Arts Aufmerksamkeit, und er warf noch einen Blick in das Cockpit und zeigte auf einen rechteckigen Gegenstand. »Bill, ist es in Ordnung, wenn ich die Schachtel da raushole?« Ich nickte und trat zur Seite. Art beugte sich ins Cockpit, holte ein verkohltes Kästchen heraus, kaum größer als eine Zigarettenschachtel, und legte es auf den Boden. Dann beugte er sich wieder hinein, sah sich um und kam mit einem größeren Metallkasten wieder zum Vorschein. Er brachte beide Gegenstände zu Sarah und zeigte mit dem kleineren auf eine Plastiktüte. Sarah öffnete sie, und er tat das Kästchen hinein.
»Wie soll ich das etikettieren?«, fragte sie.
»Schreiben Sie ›Entfernungsmesser‹ drauf und setzen Sie dahinter ein Fragezeichen«, sagte er.
Einen Augenblick wirkte er nachdenklich, dann ging er zu meinem Wagen hinüber und fuhr mit den Händen an der Unterseite der hinteren Stoßstange entlang. »Heureka«, sagte er und machte etwas los. In der Hand hielt er ein kleines Metallkästchen, aus dem an einem Ende ein Draht baumelte.
Ich starrte darauf. Ich hatte keine Ahnung, was das war und wie es dort hinkam, und ich schaute oft unter meine Stoßstange, wenn ich den Ersatzschlüssel holte, den ich dort in einem magnetischen Kästchen verwarte. »Was ist das?«
»Ein Sender.«
»Was für ein Sender?«
»Ein HF-Sender. Jemand hat an deinem Wagen einen Hochfrequenzsender angebracht.« Ich kam immer noch nicht ganz mit. »Wie diese mit einem Sender ausgerüsteten Halsbänder, die die Biologen den Wölfen im Yellowstone Nationalpark anlegen.« Art zeigte auf das Hubschrauberwrack. »Siehst du die Metallzinken, die aus dem Dach des Cockpits ragen? Das sind Richtantennen, die das Signal dieses Senders auffangen. Die Kästen, die ich im Hubschraubercockpit gefunden habe, sind der Empfänger und die Steuerung. Sie nehmen das Signal des Senders auf und berechnen deine Entfernung und deine Richtung. Orbin hat dich verfolgt, Bill.«
»Warum sollte Orbin mich verfolgen?«
»Na, vielleicht haben der Sheriff und seine Jungs gedacht, du würdest sie zu O’Conner führen. Vielleicht war Orbin das auch sozusagen im Alleinflug, und er wollte mit dir abrechnen für den Tag, als wir ihm und seinem Bruder gegenüber im Vorteil waren. Nach dem, was du mir über seinen Besuch bei Cousin Verns Pot-Feld erzählt hast, war er ja eher nicht der Typ, der verzeiht und vergisst.«
»Die Vorstellung, dass Orbin mich verfolgt hat wie ein Tier, jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken«, sagte ich.
»Ja, mir auch«, sagte er. »Aber ich würde sagen, du hast eindeutig den dickeren Fisch an Land gezogen. Und jetzt wissen wir auch, warum Orbin kurz nach dir hier aufgetaucht ist.«
Steve Morgan sagte kein Wort. Doch der Kriminalbeamte verpasste keine Silbe des Gesprächs zwischen Art und mir.