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»Okay, Boss, aufsitzen und ausrücken.« Kitchings schwang ein Bein über sein Gefährt, und Williams und ich taten es ihm nach. Ich drückte den Starterknopf des Geländemotorrads, und der Motor der Honda erwachte schnurrend zum Leben. Sie hatten mir die Wahl gelassen: bei Williams hintendrauf zu sitzen oder selbst zu fahren. Ich war an diesem Tag schon mal bei Williams mitgefahren, und das hatte mir nicht besonders viel Spaß gemacht, also bat ich um eine eigene Maschine.
Ich war noch nie eine Enduro gefahren, hatte aber Jugendliche mit ihnen über die Standspur von Schnellstraßen oder querfeldein brettern sehen und dachte mir, so schwer könne das nicht sein. Es war auch nicht schwer, jedenfalls nicht auf ebenem Grund. Gas gab man mit einem Hebel am rechten Handgriff, genau wie bei dem Honda-Jetski, den ich mal bei dem am Fort Nasty gelegenen Haus eines Kollegen gefahren hatte.
Das Geländemotorrad hatte darüber hinaus eine Handbremse für die Vorderräder und eine Fußbremse für die Hinterräder, genau wie das englische Dreigangfahrrad, mit dem ich in meiner Zeit als Doktorand zum Campus gestrampelt war. So weit, so gut. Die Schaltung bestand aus zwei seltsam platzierten Knöpfen am linken Handgriff – meine ersten Schaltversuche führten zu wahren Bocksprüngen –, aber nach einigen ohne weitere Zwischenfälle verlaufenden Sätzen auf dem Gerichtsparkplatz schien der Sheriff zuversichtlich zu sein, dass ich wohlbehalten von da zurückkehren würde, wohin wir fuhren.
Gegen den Weg, den wir jetzt aus der Stadt hinaus nahmen, war die Serpentinenstraße nach Jonesport der reinste Superhighway gewesen. Dieser Weg hier zweigte rund achthundert Meter südlich der Stadt als Schotterweg vom Highway ab. Das erste Mal überquerten wir den Fluss auf einer schiefen Holzbrücke. Die nächsten vier – oder fünf? – Mal gab es nur eine Furt, in der sich die Strömung gegen die Ballonreifen der Motorräder stemmte. Nicht lange, und der einspurige Weg wurde von zwei parallelen Furchen abgelöst, die sich bald zu einer einzigen schlammigen Erosionsrinne vereinigten. Wir schlingerten und holperten bergan, wobei wir nur qualvoll langsam vorankamen – und das war wahrscheinlich das Einzige, was mich davor bewahrte, mich wieder übergeben zu müssen. Auf der Straße war es ein Kinderspiel gewesen, die Enduro zu lenken. Hier oben war sie wie ein bockendes Tier. Die Balance zu halten und die Kontrolle nicht zu verlieren erforderte eine halb sitzende, halb hockende Position, von der mir meine Akademikeroberschenkel und -pobacken am nächsten Tag höllisch wehtun würden. Doch jedes Mal, wenn Kitchings oder Williams sich umschauten, um zu sehen, wie es mir erging, reckte ich schnell den Daumen in die Höhe und versuchte dann, wenn ich rasch wieder nach dem Lenker griff, nicht ganz und gar ungeschickt und von Panik erfüllt zu erscheinen.
Allmählich schob sich eine Kalksteinklippe aus der Bergflanke, und der Weg – wenn man ihn denn noch als solchen bezeichnen wollte – verlief dicht an ihrem unteren Rand, manchmal unterhalb von Felsvorsprüngen, die eingerahmt waren von hoch aufragendem Schierling und glänzenden Rhododendren. An einem solchen Überhang verlangsamten die zwei Polizeibeamten die Fahrt, wandten sich einer Spalte in der Felswand zu … und stürzten sich ins Innere der Erde. Ich schnappte nach Luft, biss die Zähne zusammen und stürzte hinterher. Okay, ich stürzte nicht gerade, ich kroch eher, aber immerhin, ich folgte ihnen. Und fand den Schalter für den Scheinwerfer glücklicherweise gerade in dem Augenblick, als der letzte Schimmer Tageslicht hinter mir schwand.
Der Boden war überraschend weich und eben – trockener Sand an einigen Stellen, verdichteter Schlamm an anderen. Die Scheinwerfer der Geländemotorräder verloren sich im Nichts, was mir verriet, dass wir in einer riesigen unterirdischen Kammer waren, in der die Dunkelheit zum Greifen dicht war. Nach einer gewissen Entfernung, die ich unmöglich näher bestimmen konnte, schlossen sich glitzernde Wände enger um uns und wir gelangten an ein unterirdisches Flussbett. Es war dreißig Zentimeter tief und vielleicht zwei Meter breit und folgte gerade wie ein Pfeil einer Falte in den Schichten des Grundgesteins. Als der Durchlass wieder breiter wurde, lenkten Kitchings und Williams ihre Motorräder aus dem Flussbett hinaus und schalteten die Scheinwerfer aus, und ich tat es ihnen nach. Wir hockten in absoluter Dunkelheit.
Niemand sprach ein Wort. Das Wasser floss leise gurgelnd vorbei. Meine Ohren gewöhnten sich an die Stille, wie meine Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hätten, wäre dort nur ein einziges Photon gewesen, auf das sich mein Blick hätte richten können. Allmählich hörte ich unter dem Gemurmel des Flusses noch ein weiteres Geräusch, einen Laut, der melodisch war, betörend und menschlich. Ich hörte unverkennbar das Lachen kleiner Kinder.
»Hören Sie …?«, wollte ich fragen, doch ich brachte es nicht einmal über mich, die Frage zu Ende zu stellen.
»Die Kinder. Ja.« Das war Kitchings. »Gruselig, was? Leute, die diese Höhle kennen, haben mir zwei verschiedene Geschichten darüber erzählt. Laut der einen ist es ein seltsames Echo des Flusses. Laut der anderen sind es die Geister indianischer Kinder.«
Er spürte wohl meine Verwirrung, denn er fuhr fort: »Diese Höhle liegt auf Land, das fünf verschiedenen Stämmen als heiliger Ort galt. Selbst wenn sie Krieg gegeneinander führten, konnten sie sich hier in Frieden versammeln. Ein mächtiger Zauber, sagen sie. Wenn ich draußen im hellen Tageslicht bin, glaube ich an die Wissenschaft. Hier im Dunkeln glaube ich an die Geister.«
Er schaltete eine Taschenlampe ein, und das Lachen erstarb augenblicklich. Aus einer Transportbox, die hinten am Motorrad befestigt war, holte er drei starke Laternen und eine Jacke, auf deren Rücken in dicken, fetten Buchstaben »DEA« zu lesen war. »Hier, Sie ziehen besser diese Jacke an, Doc – ein Erbstück von der Drogenfahndung –, sonst holen Sie sich hier unten noch eine Lungenentzündung.« Ich winkte ab, doch er hielt mir die Jacke weiter hin. »Ich würde nur ungern als der Sheriff in die Geschichte eingehen, der Dr. Brockton auf dem Gewissen hat«, sagte er. Erst als ich die Jacke anzog, bemerkte ich, dass ich bereits vor Kälte zitterte.
Wir stapften den Rand einer ansteigenden Mulde hinauf, duckten uns in einen seitlichen Tunnel und gelangten bald in eine andere Kammer. Bisher waren die Wände der Höhle von einem stumpfen Graubraun gewesen, doch hier glitzerten sie – ja, leuchteten förmlich – im Feuer von Millionen von Kristallen. Quarz, vermutete ich, obwohl es glänzte wie Diamanten. Ein riesiger Stalagmit, ebenfalls mit Kristallen überzogen, füllte eine Seite der Kammer.
Eine schmale Spalte trennte den Stalagmit von der Wand. Kitchings nickte in Richtung der Felsspalte und ließ das Licht über die Öffnung gleiten. Ich schob mich hinein. Es war knapp – ich fragte mich, wie der Sheriff seinen Bierbauch durchgezwängt hatte –, doch dann öffnete sich der Spalt in eine kleine glitzernde Grotte. Auf einer Felsplatte an der Seite lag eine Leiche – und zwar die ungewöhnlichste menschliche Leiche, die ich je zu sehen bekommen hatte. Ich starrte, blinzelte und starrte wieder.
Der Sheriff hatte recht gehabt. Ein Tag – oder ein Monat oder sogar ein Jahr – würde diesem Leichnam, der hier auf einer Felsplatte in dieser prächtigen Grotte lag, kaum etwas anhaben können.
Ich hatte schon oft Adipocire gesehen. Der Begriff stammte aus dem Lateinischen und bedeutete wörtlich übersetzt »Leichenwachs«; das war eine ziemlich treffende Bezeichnung: Es handelt sich um eine schmierige, talgähnliche Masse, die sich bildet, wenn fettreiches Fleisch sich in feuchter Umgebung zersetzt. Adipocire fand sich oft an Leichen, die in feuchten Kellern oder Kriechkeller unter Häusern verbuddelt wurden; ebenso bei Wasserleichen – Leichen, die in Tennessees vielen Seen und Flüssen gefunden werden –, wobei dort der größte Teil der Adipocire entlang der Wasserlinie der Leiche zu finden war. Doch die vielen Kellerleichen und Wasserleichen, die ich gesehen hatte, hatten wenig Ähnlichkeit mit der Gestalt, die hier vor mir auf der Felsplatte lag. Auf den ersten Blick wirkte die Leiche wie ganz in Adipocire eingehüllt, doch als ich sie genauer in Augenschein nahm, wurde mir klar, dass das, was ich da sah, kein oberflächlicher Überzug war, sondern etwas sehr viel Selteneres. Das Weichgewebe war komplett in Adipocire umgewandelt worden – fast, als hätte Madam Tussaud hier ganz für mich allein eine Wachsmumie platziert. Die Kleidung war, wie es schien, zerfallen, ihre Reste eingeschmolzen in die dunkle Schicht, die am Hals der Leiche anfing und bis hinunter zum modrigen Leder an den Sohlen ihrer Füße führte. Die Smithsonian Institution besaß eine ähnliche Leiche; es handelte sich um Wilhelm von Ellenbogen, der vor mehr als einem Jahrhundert ausgegraben worden war, als man einen Friedhof verlegt hatte. Das Mütter-Museum in Philadelphia – Heimat einiger der bizarrsten medizinischen und forensischen Kuriositäten auf der ganzen Welt – war im Besitz seines weiblichen Gegenstücks, das sie wegen der chemischen Verwandtschaft von Adipocire mit Seife »Soap Lady« getauft hatten. Doch diese beiden Exponate waren im Vergleich zu der schauerlich konservierten Leiche vor mir missgestaltet und abstoßend. Obwohl unser Fund wohlgemerkt kein Bild ewigen Friedens bot – die Augen starrten blind, und der Mund war zu einem ewigen Schrei weit aufgerissen –, hatte sie trotz des grotesken Gesichtsausdrucks etwas seltsam Schönes an sich.
Ich machte einen Schritt nach vorn, hielt dann inne und rief: »Waren Sie alle hier drin?«
»Nur so weit, um die Leiche sehen zu können. Wir wollten hier nichts verändern, bevor Sie nicht die Gelegenheit hatten, einen Blick darauf zu werfen.«
»Gut. Ich wünschte, Ihre Kollegen wären alle so vorsichtig.«
Ich nahm die Kleinbildkamera heraus, die ich aus Knoxville mitgebracht hatte. Zu Anfang meiner Karriere gab mir einer der klügsten Polizisten, mit denen ich je zu tun hatte, einen Rat, der sowohl Tatortfotografen wie auch skrupellosen Bankräubern weiterhelfen konnte: »Schieß dir den Hinweg frei, und schieß dir den Rückweg frei«, sagte er, und genauso machte ich es seither. Ich stand im Eingang zu der Kristallgrotte und fing mit Weitwinkelaufnahmen in Augenhöhe an, um die Szene als Ganzes zu erfassen. Dann hockte ich mich hin und machte aus einem tiefen Aufnahmewinkel Bilder vom Boden der Höhle – noch so ein Trick, den er mir beigebracht hatte. Die Blitzschatten würden aus den Fußabdrücken ein scharfes Relief zeichnen.
Der Blitz war zu hell und zu schnell, um mit bloßem Auge erkennen zu können, was ich erwischte, also ließ ich den Schein der Taschenlampe über den Boden wandern. Er war uneben, und daher war es schwer zu sagen, aber ich glaubte, Fußabdrücke ausmachen zu können, die sich auf die Leiche zubewegten. Ich machte aus verschiedenen Blickwinkeln Nahaufnahmen davon, dann wandte ich meine Aufmerksamkeit und das Objektiv der Leiche zu.
Ich trat langsam und auf Umwegen näher und machte jedes Mal ein Foto, wenn ich mich mehr als zwei Schritte von der Stelle bewegt hatte. Ich hatte mit einem neuen 36er-Film angefangen – wie immer Dias, denn ein Rundmagazin ließ sich leicht in einen Seminarraum oder einen Gerichtssaal mitnehmen, und die Auflösung eines Dia-Films war immer noch weitaus besser als jede digitale Aufnahme. Ein gutes Dia konnte man auf eine Kinoleinwand projizieren, und es sah immer noch scharf aus; versuchen Sie das mal mit einem digitalen Bild, und es verwandelt sich in eine verhangene impressionistische Interpretation eines in Nebel gehüllten Tatorts. Abgesehen davon hatte ich das eine Mal, als ich eine Digitalkamera benutzt hatte, jedes Mal, wenn ich ein Foto machte, das vorherige damit überschrieben, sodass ich den Tatort mit einem einzigen Foto verließ, der Nahaufnahme einer Stichwunde. Allerdings hatte ich gelesen, dass vor ungefähr einem Jahr der letzte Kodak-Rundmagazin-Diaprojektor vom Fließband gerollt war, also konnte ich davon ausgehen, dass meine nichtdigitalen Tage gezählt waren. »Zum Teufel mit dem Fortschritt«, murmelte ich.
»War was, Doc?«
»Tut mir leid, ich rede hier drin mit mir selbst. Sie können reinkommen.«
Sie zwängten sich durch die Felsspalte in die Grotte. Williams, mager wie ein streunender Hund, glitt mühelos hindurch. Kitchings musste einiges an Zeit und Mühe aufwenden. Zuerst drehte er sich seitlich und hob die Arme. Als er den schmalsten Teil des Durchlasses erreichte – »Fat Man’s Squeeze« würde die Passage heißen, wenn das hier eine geführte Höhlentour wäre –, langte er nach unten, schob die Hände unter den Bauch und drückte diesen nach oben wie eine gewaltige Brust in einem zyklopischen Wonderbra. Ich wusste, dass es nicht angeraten war, konnte aber nicht widerstehen: Ich hob die Kamera und drückte ab.
Er schrie auf, als das Blitzlicht ihn blendete. »Gottverdammt! Was zum Teufel …«
Ich grinste. »Ich muss doch alles am Tatort dokumentieren.«
»Dokumentieren Sie doch meinen Arsch! Sehen Sie, Doc, forensische Legende hin oder her, sollten Sie dieses Foto einer Menschenseele zeigen, garantiere ich Ihnen, dass sämtliche Geschworenen in Cooke County Ihren Tod als zu rechtfertigende Tötung betrachten werden.«
Da meldete sich Williams. »Könnte sein, Sheriff, aber um sich rauszuwinden, müssten Sie das Bild allen zwölfen zeigen.« Er kicherte bei der Vorstellung.
»Mist. Das verkompliziert die Sache doch mächtig, was? Ich schätze, ich konfisziere wohl besser nur den Film.«
»Ich würde mir da keine schlaflosen Nächte machen, Sheriff«, sagte ich. »Ich glaube, ich hatte sowieso den Objektivdeckel aufgesetzt.«
Als die beiden neben mir standen, fragte ich: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ein Foto von Ihren Füßen mache?«
Einen Augenblick schauten sie mich verdutzt an, bevor ihnen ein Licht aufging. Kitchings griff nach Williams’ Schulter und hielt mir dann zuerst eine Stiefelsohle zum Fotografieren hin, danach die andere. Als Nächstes stützte Williams sich auf Kitchings, und ich fotografierte auch seine Sohlen. Schließlich reichte ich Kitchings die Kamera und bat ihn, eine Aufnahme von meinen Sohlen zu machen. Es war unwahrscheinlich, dass es vor Gericht zur Sprache kam, aber ich wollte nicht, dass irgendein Verteidiger behauptete, das, was die Staatsanwaltschaft als die Fußabdrücke eines skrupellosen Mörders präsentierte, seien eigentlich die Abdrücke eines tollpatschigen Anthropologen.
Das Einzige, was ich außer meiner Kamera noch aus Knoxville mitgebracht hatte, waren ein paar Latexhandschuhe, ein kleines Maßband und ein Taschenmesser. Ich klappte das Taschenmesser auf und legte es auf die Felsplatte, zog die Handschuhe an und nahm es wieder zur Hand. Mit der Spitze ritzte ich dort, wo sich die Wange befunden hatte, vorsichtig an der Adipocire. Wie erwartet war darunter nichts als Knochen. »Ich kann die Ethnie unmöglich mit Hilfe der Haut bestimmen«, sagte ich, »denn es ist keine Haut mehr vorhanden.«
Williams sprach. »Muss weiß sein. Wir haben hier oben keine Schwarzen. Jedenfalls nicht nach Sonnenuntergang.« Er kicherte. »Nicht, wenn dem schwarzen Mann sein Leben lieb ist.«
Ich richtete den Blick auf den Deputy. »Andererseits, wenn ein Schwarzer hier oben nach Sonnenuntergang eine Autopanne hat oder sich verfährt, dann könnte so was hier doch genau der Fleck sein, an dem er dann landet, was?«
»Leon, Sie dumpfbackiger, hinterwäldlerischer Rassist«, fuhr Kitchings auf.
Williams blinzelte und wandte den Blick ab, während seine Kiefermuskulatur schwer arbeitete.
»Sie haben wahrscheinlich recht, ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Weißer oder eine Weiße ist«, fuhr ich fort. »Das Haar sieht glatt und blond aus, und die Mundpartie ist lehrbuchmäßig kaukasoid – sehen Sie, wie senkrecht die Zähne stehen?« Ich berührte mit der Messerspitze die Stelle zwischen Nase und Oberlippe, dann berührte ich mit der flachen Seite der Schneide über die Lippen hinweg das schmierige Kinn. »Wenn diese Person negroid wäre, würden die Zähne und Kieferknochen stark nach vorn stehen, und diese gerade Schneide könnte das Kinn nicht berühren.«
Ich holte das Maßband heraus. Mit Hilfe von Williams, der behutsam das eine Ende hielt, maß ich die Leiche. »Ungefähr ein Meter dreiundsiebzig«, las ich ab. »Wenn man das Schrumpfen der Knorpel post mortem berücksichtigt, könnte er oder sie zu Lebzeiten noch fünf bis sieben Zentimeter größer gewesen sein. Von der Statur her würde ich auf einen Mann tippen, aber die Gesichtszüge, der kleine Schädel und das breite Becken lassen mich eher an eine Frau denken. Irgendwelche Vermutungen? Wird in Cooke County irgendeine Frau – eine große Frau – vermisst?«
Sie überlegten eine Weile. »Nicht dass ich wüsste«, brach Kitchings das Schweigen. »Was schätzen Sie denn, Doc, wie lange sie schon hier drin ist?«
»Wegen der Höhle und der Adipocire ist das schwer zu sagen. Höhlen sind kühl, und es sieht nicht so aus, als wären hier je Fliegen oder Maden eingedrungen. Es könnte also sehr lange sein – ich schätze eher Jahre als Monate, vielleicht sogar viele Jahre.«
»Nun, das heißt, dass wir die Akten vieler Jahre überprüfen müssen«, sagte Kitchings. »Könnte eine Weile dauern. Die Aktenlage ist auch nicht besonders gut. Seit ich hier Sheriff bin, sind sie in Schuss, aber die alten sind ein einziges Durcheinander.«
»Nun, schauen Sie, was Sie finden können«, sagte ich. »Könnte auch sein, dass irgendwelche Leute sich auf Anhieb erinnern. Haben auf der Bank vor dem Gericht nicht ein paar alte Veteranen gesessen und irgendwas geschnitzt? Sie würden staunen, was solche Burschen Ihnen alles erzählen können.«
»Nun, ich bin mir nicht sicher, ob ich viel auf die Erinnerungen dieser Kerle geben soll, aber ich frage sie mal. Was können Sie mir noch über sie sagen?«
»Im Augenblick nicht viel. Ich muss die Leiche ins rechtsmedizinische Institut der Universitätsklinik bringen lassen und die Überreste untersuchen«, sagte ich. »Das Gewebe entfernen und die Knochen eingehend unter die Lupe nehmen. Dann kann ich Ihnen sagen, wie alt und wie groß sie war und welcher Ethnie sie angehörte. Wir machen Röntgenaufnahmen, suchen nach verheilten Verletzungen, die irgendwo in irgendwelchen Krankenakten auftauchen könnten, und versuchen, an Zahnarztunterlagen zu kommen. Wenn wir Glück haben, finden wir heraus, wer sie war, und vielleicht sogar, warum sie gestorben ist.«
»Das wäre ein Glück«, sagte er. Doch seinen Worten fehlte die aufrichtige Überzeugung, die man von einem Sheriff erwarten würde, der es mit einem nicht identifizierten Mordopfer zu tun hat.
Während ich noch ein paar letzte Fotos machte, holten Kitchings und Williams den Leichensack und die Trage, die der Deputy auf dem Gepäckträger seiner Enduro festgeschnallt hatte. Ich öffnete den Sack, zwängte ihn seitlich unter die Leiche und schob sie vorsichtig vom Felsen in den Leichensack. Dann zog ich den Reißverschluss zu, und wir hievten den Sack von der Felsplatte auf die Trage. Wir zerrten sie zu unseren Motorrädern zurück, wo die Beamten sie wieder am hinteren Gepäckträger von Williams’ Motorrad festzurrten. Der Gepäckträger war dazu bestimmt, Kühltaschen voller Bier und erlegtes Wild zu transportieren, doch er würde auch eine Leiche tragen. Das zusätzliche Gewicht jedoch zog das Motorrad schwer nach hinten, sodass der Scheinwerfer nach oben zeigte. Auf dem Rückweg zum Eingang der Höhle hörte ich Williams mehr als einmal fluchen, wenn er unversehens auf Felsblöcke stieß. Als wir blinzelnd ins Nachmittagslicht kamen, sah er sich einer anderen Herausforderung gegenüber. Auf der Fahrt den Berg hinauf war die leere Trage längs festgezurrt gewesen, wodurch sie ein gutes Stück hinten über das Motorrad hinausgeragt hatte; jetzt war sie wegen des Gewichts der Leiche quer festgeschnallt und mit ihren ein Meter achtzig an vielen Stellen breiter als der Weg. Sooft es enger wurde, war Williams gezwungen, eine Reihe kniffliger Fädelmanöver auszuführen, die er mit einer Salve von Flüchen begleitete.
Als wir endlich vom Berg herunter waren und hinter dem Gericht parkten, schob sich die Sonne schon hinter einen First, und meine Oberschenkel und mein Hintern brannten, nachdem sie stundenlang als Stoßdämpfer hatten herhalten müssen. Die alten Männer auf der Bank vor dem Gericht waren längst nach Hause gegangen. Mir fiel auf, dass es in den Bergen früh Nacht wurde, und ich überlegte, ob das etwas mit der Dunkelheit zu tun hatte, die in vielen Seelen, die diese schattigen Hügel und Täler bewohnen, zu hausen schien.
Williams fuhr mich im Tempo eines Trauerzugs aus Cooke County hinaus. Ob es die Leiche hinten im Cherokee war oder meine Übelkeit auf der Herfahrt, wusste ich nicht – jedenfalls war ich ihm dankbar. Auf der kurvenreichen Straße entlang des Flusses zurück zur I-40 hielt ich Ausschau nach uns entgegenkommenden Scheinwerfern, doch wir hatten die Straße für uns. Ich lauschte auch auf die quietschenden Reifen und den aufheulenden Motor eines Fahrers, der diese Straße unbedingt ohne Licht fahren wollte, doch wir waren das einzige Auto weit und breit. Mit jedem Kilometer schienen die isolierte Stadt und die abgelegene Höhle weiter zu verschwinden, nicht nur in der Ferne, sondern auch in einer anderen Zeit und einer anderen Dimension. Das erinnerte mich an Brigadoon, das verzauberte Dorf, von dem es hieß, dass es nur alle hundert Jahre für einen einzigen Tag lang im schottischen Hochland in der realen Welt erschien. Doch obwohl ich mir das Gegenteil wünschte, wusste ich, dass die Orte, die ich gerade besucht hatte, nicht für hundert Jahre verschwinden würden. Sie würden mich bald erneut heimsuchen, und daran – so viel war sicher – würde ganz und gar nichts Zauberhaftes sein.