10
Während ich mir meinen Weg zurück zu dem Flur unter dem Stadion bahnte, beruhigte sich mein galoppierender Puls wieder, und ich war auch nicht mehr kurzatmig.
Die Flure des anthropologischen Instituts zeichneten die Form des Stadions darüber nach, und wo sich die Tribünen um die Endzonen bogen, krümmten sich auch die Flure. Wenn man durch einen der schlecht beleuchteten kurvenreichen Tunnel ging, bekam man leicht das Gefühl, man befände sich in einem wie durch ein Wunder erhaltenen minoischen Labyrinth oder in einer seltsamen, verfallenen Raumstation. Als ich die letzte Kurve zu meinem Büro nahm, sah ich Deputy Leon Williams, der an einer Stellwand ein Plakat mit einem Navajo-Schädel aus dem neunzehnten Jahrhundert betrachtete.
»Wir machen noch einen Anthropologen aus Ihnen«, sagte ich.
»So schlecht wäre das gar nicht, wenn ich mich an solche Knochen wie die hier halten könnte. Wenn sie sauber und trocken sind, habe ich keine Probleme damit.«
»Ja, aber die auszugraben, ist ganz schön viel mehr Arbeit als bei den anderen. Man muss immer Kompromisse machen, Deputy, in jeder Branche.«
Er wartete, dass ich die Tür öffnete, doch das tat ich nicht. »Brauchen Sie nicht noch etwas, Doc – Notizen oder Knochen oder sonst was?«
»Nein, ich bin noch nicht fertig mit der Mazeration des Skeletts – der Schädel und das Becken kochen noch im Mazerationskessel. Und an das, was ich bislang herausgefunden habe, kann ich mich gut erinnern.« Er wirkte begierig, mehr zu erfahren, doch ich war nicht zum Plaudern aufgelegt. »Es klang, als hätte Ihr Chef es eilig. Wir machen uns wohl besser auf den Weg, was?«
»Klar.« Er drehte sich auf dem Absatz um, und ich folgte ihm hinaus zu dem Jeep Cherokee, der zwischen zwei der diagonalen Stahlträger stand, die die Haupttribünen des Stadions stützten. Ein einspuriger Teerstreifen führte um das Stadion herum, fädelte sich stellenweise zwischen den Reihen massiver Träger hindurch und verästelte sich zu kurzen, dunklen, geteerten Ausläufern, die zu Katakomben führten, in denen, wie ich mir vorstellte, wohl die Hohepriester der Religion des Southeastern Conference Football beigesetzt waren.
Williams und ich sprachen eine Weile über die Tennessee Volunteers, doch ich wusste, dass er mir lieber andere Fragen gestellt hätte. Als wir schließlich auf die Interstate fuhren, konnte er nicht mehr an sich halten. »Ich wette, Sie hatten schon ’ne Menge interessanter Fälle, was, Doc?«
»Nun, für mich sind alle Fälle interessant.«
»Aber welcher war der interessanteste? Oder der ungewöhnlichste?«
»Schwer zu sagen.« Ich überlegte eine Minute. »Einer der ungewöhnlichsten Fälle war vermutlich die Frau in Connecticut, die von ihrem Ehemann – übrigens einem Expolizisten – umgebracht, zerstückelt und dann im Hof vor dem Haus verbrannt wurde.«
Er pfiff. »Klingt wie ein Fernsehkrimi – Wenn gute Polizisten böse werden.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er je ein guter Polizist war; womöglich war er schon böse und wurde nur noch böser. An dem Fall waren mehrere Dinge seltsam. Zum einen haben wir nie herausgefunden, womit er sie zerteilt hat. Zum anderen ging er an dem Tag, an dem er sie einäscherte, zur Feuerwehr und holte sich die Genehmigung, ein offenes Feuer zu machen.«
Er johlte, und dann sah er mich eine – in Anbetracht der Tatsache, dass er inzwischen hundertzwanzig Stundenkilometer fuhr – nervenaufreibend lange Weile an. »Eine Genehmigung? Wollen Sie mich verarschen, Doc?«
»Nein, keineswegs, Deputy. Er wollte wohl bei der Ermordung und Zerstückelung seiner Frau keine wirklich wichtigen Gesetze übertreten.«
Gnädig richtete Williams den Blick wieder auf die Straße und fragte in auffällig beiläufigem Tonfall: »Ist in unserem Fall irgendetwas Seltsames zu Tage getreten?«
Ich antwortete nicht gleich, denn ich suchte nach den richtigen Worten, um es ihm schonend beizubringen. »Wissen Sie, Deputy, Sheriff Kitchings sagte, es sei wahrscheinlich ein sehr sensibler Fall, und er schien sich Sorgen zu machen, das Telefon könnte angezapft sein. Falls jemand Ihr Telefon überwacht, dann könnte er doch auch Ihre Wagen verwanzt haben.« Williams sah gleichzeitig verdutzt und misstrauisch aus, obwohl ich mir nicht sicher war, ob das Misstrauen mir galt oder jemand anderem. »Ich glaube, wir warten besser, bis wir irgendwo sind, wo der Sheriff es sicher findet zu reden.«
»Gute Idee.« Er nickte lächelnd. Unter dem Lächeln jedoch sah ich seine Kiefermuskulatur arbeiten.
Als wir die Interstate verlassen hatten und der Straße am Fluss folgten, fuhr er langsam und nahm die Kurven manierlich. Ich bedankte mich bei ihm, und diesmal war sein Lächeln echt.
»Und wie sind Sie bei den Gesetzeshütern gelandet, Deputy?« Diese Frage stellte ich Beamten gerne, denn die Bandbreite der Antworten – bezüglich der Motivation und des Berufswegs – war nahezu unendlich und normalerweise faszinierend: eine Familientradition seit drei Generationen, ein Bruder, der ermordet worden war, eine Überdosis Dragnet-Wiederholungen im Fernsehen oder der ernsthafte Wunsch, die Welt zu einem besseren, sichereren Ort zu machen.
Williams antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen von meinem Großvater erzählt habe?« Ich nickte. Der Mann, der zu Unrecht ins Gefängnis gekommen, dann erschossen worden war und anschließend verbrannte. »So etwas sollte keinem aus unserer Familie je wieder passieren. Und die einzige Möglichkeit, dafür zu sorgen, ist die, der Typ mit der Dienstmarke und den Schlüsseln zu sein.« Es war nicht die edelmütigste Begründung, die ich je gehört hatte, doch hier in Cooke County leuchtete sie mir in ihrer Logik sofort ein.
Wir hatten das kurvenreichste Stück der Straße erreicht, als Williams vom Gas ging und auf den rechten Seitenstreifen holperte. »Doc, es tut mir leid, aber ich muss mal halten, um zu pinkeln.«
»Wir sind nah an der Stadt … kann das nicht warten?«
»Nein, Sir, ich glaube nicht. Ich habe in der Cafeteria jede Menge Eistee getrunken, während Sie Ihre Vorlesung gehalten haben; zu viel, schätze ich. Es tut mir leid. Sie bleiben einfach hier sitzen, ich bin in einer Minute wieder da.«
Und damit war er verschwunden.
Er kam weder in einer noch in zwei noch in drei Minuten zurück. Um mir die Zeit zu vertreiben, holte ich einen kleinen Notizblock aus der Jackentasche und machte mich dran, ein paar Stichworte für ein Empfehlungsschreiben aufzulisten, um das mich eine ehemalige Studentin gebeten hatte. Endlich ging die Tür auf. »Ich wollte schon einen Suchtrupp aussenden«, sagte ich, den Blick noch auf meine Notizen gerichtet. »Sie müssen ja beim Mittagessen wirklich einige Maß getrunken haben, Deputy.« Doch es war nicht der Deputy, der sich vorbeugte und mich durch die offene Tür anschaute. Es war ein Bär von einem Mann, gekleidet in einen Tarnoverall mit Baumrindenmuster, wie sie Jäger gerne tragen, vollständig mit Tarnkappe.
»Dr. Brockton, das hier tut mir wirklich leid, aber wir haben eine kleine Planänderung. Ich heiße Waylon. Also, ich tue Ihnen nichts. Wie wäre es, wenn Sie rüberrutschen und sich hinters Steuer klemmen und uns dann wieder auf die Straße bringen? Sie fahren ein Stück Richtung Stadt, und wenn ich es Ihnen sage, biegen Sie ab.«
»Wo ist Deputy Williams?«
»Leon? Dem geht’s gut, da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Er ist im Augenblick nur hübsch … verschnürt, könnte man sagen.« Der gewaltige Kerl schenkte mir entweder ein Grinsen oder eine Grimasse.
Ich setzte mich auf. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, was hier vor sich geht?«
»Jemand muss mit Ihnen reden. Unter vier Augen. Es dauert wahrscheinlich keine halbe Stunde, dann bringen wir Sie zurück in die Stadt, und Sie können Ihren Geschäften mit dem Sheriff nachgehen.«
Ich musterte Waylon. Er war mindestens fünfzig Kilo schwerer als ich, und vermutlich steckte irgendwo in seinem Tarnanzug eine Pistole. Vielleicht auch ein Jagdmesser. »Und wenn ich mich weigere?«
Er seufzte. »Schauen Sie, Doc, es ist nicht nötig, dass wir Probleme miteinander kriegen. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich Ihnen kein Haar krümmen werde, aber wenn’s sein muss, werde ich Sie an Händen und Füßen fesseln. Abgesehen davon wollen Sie mit dem Kerl reden, zu dem ich Sie bringe. Ich wette, er kann Ihnen helfen rauszufinden, wen Sie da neulich aus der Höhle geschleift haben.«
Nachrichten verbreiteten sich schnell in einer Kleinstadt. Ich warf den Motor an und legte einen Gang ein. »Sie sagen mir, wohin ich fahren muss.«
Er grinste, wobei er ein arg dezimiertes, löchriges und kautabakfleckiges Gebiss entblößte. »Das lässt sich doch hören. Sobald Sie die nächste Brücke überquert haben, nehmen Sie die Erste rechts. Schotter.« Wir fuhren gut anderthalb Kilometer, während derer ich ein halbes Dutzend Fluchtpläne ersann und sämtlich wieder verwarf – und nicht nur, weil ich dem Kerl hoffnungslos unterlegen war. Ich verwarf sie, weil dieser schlichte Bergmensch klugerweise den einen Knopf gedrückt hatte – wenn man von eventuellen Drohungen gegenüber meiner Familie absah –, der ihm meine volle Kooperation garantierte: Er lockte mich mit der Aussicht auf eine forensische Enthüllung.
Wir holperten auf eine neue Betonbrücke – offensichtlich Ersatz für eine Vorgängerin, die bei einer der Fluten, die die Gebirgstäler häufig heimsuchten, fortgeschwemmt worden war – und auf der anderen Seite wieder hinunter. »Am besten gehen Sie ein bisschen vom Gas – man verpasst es leicht. Gleich da drüben … sehen Sie?«
Ich sah es, gerade so: Zwei riesige Schierlingstannen beugten sich von rechts über den Weg, als bildeten sie ein prächtiges Tor, und zwischen ihnen bog ein Schotterweg ab, der in den Tiefen des Waldes verschwand.
Der Schein trog: Die Straße war unauffällig, aber gut in Schuss, ohne Furchen oder Schlammlöcher, die die meisten Schotterstraßen im Gebirge zu einer Qual machten. Die Great Smoky Mountains galten als Zone gemäßigten Regenwalds mit bis zu zwei Metern Niederschlägen pro Jahr, und so war es selten, dass in einer Gebirgsstraße nicht wenigstens ein paar Suhlen oder ausgewaschene Stellen waren. Diese Straße hier war fest und trocken und überall da, wo Feuchtigkeit ein Problem darstellen konnte, mit Gräben und Abzugskanälen drainiert. Auch befand sich keiner der sonst üblichen Grasstreifen in der Mitte, ein Zeichen für viel Verkehr oder regelmäßiges Planieren.
»Das ist eine gute Straße. Wird sie vom County unterhalten?«, fragte ich bemüht beiläufig.
Er wandte mir seinen bärenartigen Kopf zu. Vielleicht hatte ich nicht ganz so beiläufig geklungen, wie ich es beabsichtigt hatte. »Nein«, sagte er. »Das hier ist so was wie ’ne private Zufahrt.« Nach einem Augenblick hörte ich ein tiefes, polterndes Grollen, das das ganze Fahrzeug erschütterte. Ich warf meinem Beifahrer einen Blick zu und sah, dass er kicherte. »Private Zufahrt«, murmelte er noch einmal und kicherte noch ein bisschen über seinen Witz. Dann schenkte er mir ein entzücktes, zahnlöchriges Lächeln. Gütiger Himmel, wo bin ich hier nur reingeraten?, dachte ich kopfschüttelnd. Dann musste ich angesichts der absurden Situation selbst kichern.
Doch das Kichern blieb mir einen Augenblick später im Hals stecken, als der große Mann sagte: »Halten Sie hier, Doc.« Ich erstarrte, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Die Welt schien zu schrumpfen, bis nichts übrig blieb als ein grüner Tunnel, ein grauer Schotterweg und ein Lenkrad, um das sich verkrampft zwei Hände klammerten, die meine eigenen sein konnten oder auch nicht. Von irgendwo griff eine andere Hand herüber und drehte den Zündschlüssel. Das Auto hielt, und das Einzige, was ich hörte, war das Knirschen der Reifen auf dem Schotter und das Rauschen des Bluts in meinem Kopf. Dann verstummten auch diese Geräusche, und der grüne Tunnel wurde schwarz.
Als ich aufwachte, fühlte ich mich seltsam eingezwängt. Die Luft war dumpf und heiß und stickig, der Sauerstoff verbraucht, doch meine Arme wurden von einer Brise gekühlt. Verschwommene Lichtpunkte durchdrangen die Dunkelheit. Als meine Augen sich daran gewöhnt hatten und instinktiv nach einer abgegrenzten Form suchten, wurden die Lichtpunkte schärfer und erwiesen sich als Myriaden winziger Flecken taghellen Himmels, betrachtet durch ein Gewebe. Allmählich konnte ich mich auch wieder konzentrieren und erkannte den feuchten, scharfen Geruch von Schweiß. Man hatte mir eine stinkende Baseballkappe im Tarnmuster stramm übers ganze Gesicht gezogen. Meine Arme zuckten hoch, um sie abzunehmen, doch ich konnte mich nicht rühren. Ich riss an meinen Fesseln und warf den Kopf hin und her.
»Ganz ruhig, Doc, so tun Sie sich nur weh«, polterte die tiefe Stimme zu meiner Linken. »Wir sind bald da, also sitzen Sie noch eine Minute still. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich tue Ihnen nichts, und dabei bleibt es, aber es gibt da einiges, was Sie besser nicht sehen, falls Sie später jemand danach fragt.«
Ich ließ mich wieder in den Sitz plumpsen und hatte alle Mühe, meinen hektischen Atem zu beruhigen.
Das Auto hielt, und die Mütze wurde mir vom Gesicht gezogen. Ich schloss die Augen vor dem Licht, und als ich sie wieder aufschlug, beugte Waylon sich mit einem Jagdmesser über mich. Sicher und geschickt machte er sich mit dem Messer an dem – wie alles hier – mit einem Tarnmuster bedruckten Paketband zu schaffen, mit dem meine Hände an die Oberschenkel gefesselt waren.
»Tut mir leid, dass ich das tun musste«, sagte er. »Ich wollte nicht mit Ihnen kämpfen müssen, um Sie herzuschaffen. Das wäre nicht gesund gewesen für Sie, und Big Jim wäre auch nicht besonders glücklich gewesen mit mir.«
Big Jim? Ich konnte mir kaum vorstellen, wie riesig ein Mann sein musste, damit ein Koloss wie Waylon ihn als »Big« bezeichnete.
Er stieg aus dem Cherokee und kam um den Wagen herum, um mir die Tür zu öffnen, als wäre er kein Entführer, sondern ein hinterwäldlerischer Chauffeur. Ich rührte mich erst mal nicht, doch dann gab ich auf, stieg aus und folgte ihm.
Wir hatten auf einer kleinen grasbewachsenen Lichtung geparkt, auf allen Seiten umgeben von Kudzu, einer Kletterpflanze, die dafür berüchtigt war, Bäume, Scheunen, liegengebliebene Fahrzeuge und – man hatte mir geschworen, es sei wahr – gelegentlich sogar eine Kuh zu verschlingen, die mal eben ein Nickerchen machte. Am einen Ende der Lichtung stand ein verwittertes Bauernhaus, dessen Giebel und Veranda bereits mit der Schlingpflanze bewachsen waren. Weitere zähe Ranken streckten sich bereits nach dem Dach und der Rückseite des Hauses aus und hielten den Masten einer kleinen Satellitenschüssel umklammert. Als ich Waylon die Stufen hinauf folgte, trat er auf die Ranken, die am Boden der Veranda wuchsen. »Verdammtes Zeug, wächst im Sommer gut einen halben Meter am Tag«, sagte Waylon. »Wenn man dem Haus auch nur für eine Woche den Rücken kehrt, ist es verschwunden. Man findet es nie wieder.«
Waylon schlug mit der Faust seitlich zweimal so fest an den Türrahmen, dass das ganze Haus erbebte. »Chef? Wir sind hier«, rief er durch die Fliegengittertür in einen dunklen Raum.
»Danke, Waylon. Wie wäre es, wenn du die Augen offen hältst und dafür sorgst, dass wir nicht gestört werden?«
»Jawohl, Sir.« Mit einer Schnelligkeit und Geschicklichkeit, die seine Größe Lügen zu strafen schien, schob sich Waylon seitlich von der Veranda und verschwand in den Kudzuranken, die von den Bäumen – oder ehemaligen Bäumen – am Rand der Lichtung hingen.
Die Fliegengittertür öffnete sich knarrend, und ein Mann trat auf die silbergrauen Bretter der Veranda. »Dr. Brockton, ich bin Jim O’Conner. Vielen Dank, dass Sie hergekommen sind. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Waylon beauftragt habe, Sie auf diese Art zu kidnappen.«
Ich war sprachlos. Mein Gegenüber war samt seiner Cowboystiefel vielleicht ein Meter fünfundsechzig; wenn er die Stiefel zum Wiegen anließ, brachte er es wahrscheinlich auf um die siebzig Kilo. Wenn ich ihm auf einer Pferdefarm begegnet wäre, hätte ich ihn für einen Jockey gehalten. »Sie sind Big Jim?«
Er lächelte leicht verlegen. »Fürchte, ja. Es fing als Witz an, als ich noch ein Kind war«, sagte er. »Scheint kleben geblieben zu sein.«
Doch irgendwie passte der Name auch zu ihm. Der kleine Mann strahlte eindeutig Autorität und Macht aus, angefangen von seinen stechenden blauen Augen bis hin zu den dicken Adern an seinen Unterarmen und seinen geschmeidigen Beinen. Keine brutale, aggressive Macht, wie Schläger und Feiglinge sie ausübten; eher die ruhige, selbstsichere Stärke eines Mannes, der sich unter fast allen Umständen sicher war, wer er war und was er konnte.
»Ich habe übrigens viel über Ihre forensischen Fälle gelesen. Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Sir.« Er hielt mir eine sehnige Hand hin. Ich nahm sie, neigte aber den Kopf und warf ihm einen fragenden, zweifelnden Blick zu, mit dem ich auch diejenigen Studenten bedachte, die ich irgendeiner Form des Betrugs verdächtigte. Er begegnete meinem Blick offen, wie ein Mann, der nichts zu verbergen hatte und sich keiner Sache schämen musste, und verstärkte seinen Griff noch etwas. Dann nickte er leicht, lächelte schwach und ließ los.
»Bitte, setzen Sie sich, und dann erzähle ich Ihnen, warum ich Sie sprechen muss.« Er wies auf zwei Eichenholzschaukelstühle auf der Veranda und ließ sich auf dem weiter entfernten nieder. Ich setzte mich, zuerst ein wenig steif, doch dann schaukelte ich im Takt mit O’Conners langsamen Schwüngen mit.
»Cooke County ist ein witziger Ort, Doc. Hier leben die furchtlosesten, loyalsten Menschen, die Ihnen je begegnet sind – und die gemeinsten, streitlustigsten Hurensöhne auf Gottes schöner Erde. Als gebildeter Mann wissen Sie wahrscheinlich, dass Cooke County damals im Bürgerkrieg – dem ›Krieg der nördlichen Aggression‹, wie einige meiner Verwandten in South Carolina ihn immer noch hartnäckig nennen – treu zur Union hielt.« Ich nickte und überlegte, worauf er hinauswollte. »Die Bürger von Cooke County versuchten sogar, sich von Tennessee zu trennen. Wir sind immer ohne Sklaven zurechtgekommen und dachten, andere könnten das genauso gut. Wir wollten nicht einsehen, warum wir für irgendwelche reichen Baumwollkönige aus Memphis in den Tod gehen sollten. Irgendwann kam eine konföderierte Bürgerwehr angerückt, um uns eine Lehre zu erteilen. Die sind nie mehr hier rausgekommen.«
Er unterbrach sich, um einem Habicht zuzusehen, der über dem Talboden kreiste. Ich nutzte die Pause. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie recht verstehe.«
»Ich auch nicht. Bitte verzeihen Sie mir meine Geschwätzigkeit.« Ein seltsam höflicher Entführer. »Ich habe mich vor langer Zeit von dem Gesetz abgewandt, Dr. Brockton. Auf die Gründe will ich hier nicht weiter eingehen; ich will damit nur sagen, dass es meine Familie war, die sich zuerst gegen die Konföderierten gestellt hat. Das ist das Eine. Und dann ist es verdammt hart, hier oben in den Bergen ein gesetzestreues Leben zu führen.« Ich glaubte, in seiner Stimme und seinen Augen so etwas wie Traurigkeit zu entdecken. »Doch es gibt gewisse Grenzen, die ich nie überschritten habe. Eine davon ist Mord. Als Soldat in Vietnam habe ich getötet. Aber als ich nach Hause gekommen bin, habe ich mir geschworen, nie wieder einen Menschen zu töten. Das war nicht immer leicht hier oben, aber ich habe diesen Schwur über dreißig Jahre lang gehalten.« Er schaukelte schweigend.
»Was genau wollen Sie mir erzählen, Mr. O’Conner?«
»Sie haben neulich eine Leiche aus Russell’s Cove geborgen. Ich vermute, man wird mir diesen Mord in die Schuhe schieben wollen. Es gibt in diesem Land ein paar üble Geschichten und böse Fehden, deren Ursprung weit zurückliegt, und ich schätze, dies ist eine gute Gelegenheit, ein paar alte Rechnungen zu begleichen. Was auch immer andere Ihnen erzählen, Dr. Brockton, ich war es nicht. Alles, worum ich Sie bitte, ist, unvoreingenommen zu bleiben. Zweifeln Sie an allem, was Sie nicht selbst überprüft haben.«
»Einschließlich Ihrer Behauptung, unschuldig zu sein?«
Er dachte darüber nach und nickte. »Meinethalben.«
»Ich bin Wissenschaftler«, sagte ich. »So arbeite ich.«
Er langte in seine Hemdtasche und reichte mir einen Zettel. »Hier sind zwei Telefonnummern. Bitte rufen Sie mich an, wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Auf Anhieb weiß ich nicht, wer der Kerl war, aber mir scheint, das sollte nicht allzu schwer herauszufinden sein.«
Ich überlegte einen Augenblick, ob das, was ich sagen wollte, den Ermittlungen schaden konnte. Dann wählte ich einen neutralen Tonfall und so neutrale Worte wie möglich. »Dann haben Sie also gehört, es sei ein Mann gewesen?«
O’Conner saß einen Augenblick reglos da, dann wandte er sich mir zu. »Ah. Das war nur eine Vermutung. Womöglich eine Frau? Nun, das ergibt natürlich ein ganz anderes Bild. Vielleicht treibt der alte Lester Ballard sich ja putzmunter in Cooke County herum.«
»Lester Ballard?«
Er winkte ab. »Egal … ich hätte das nicht sagen sollen. Das war dumm und vollkommen unangebracht. Aber mal ganz im Ernst, mir fallen mehrere Männer in dieser Gegend ein, die umgebracht gehörten, und ein paar weitere, die morden würden, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber ich weiß hier im Umkreis in letzter Zeit von keiner Frau, die vermisst würde.«
»Und wie steht es mit der eher nicht so letzten Zeit? Groß? Blond?«
Er zog einen Augenblick die Stirn kraus, und dann verschwand die verwirrte Miene, und die Erkenntnis schien ihn zu treffen wie ein Donnerschlag. Sein Blick – vorher klar und selbstsicher – war plötzlich verzweifelt. Er wandte den Blick ab. »Oh Gott, nicht sie.« Tränen traten ihm in die Augen und rollten über seine Wangen. Er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen, ließ in nichts erkennen, dass er sie überhaupt bemerkt hatte.
Ich wartete, wie es schien eine Ewigkeit. »Mr. O’Conner?«
Er hörte mich nicht, also sagte ich seinen Namen noch einmal, diesmal lauter. Als er antwortete, klang er um Jahre gealtert und unendlich weit weg. »Ja?«
»Ist Jim Ihr erster Vorname?«
»Nein, der mittlere.«
»Mr. O’Conner – Leutnant Thomas J. O’Conner –, wollen Sie mir erzählen, was Ihre Erkennungsmarke am Hals einer toten Frau macht?«
Als er sich schließlich umwandte, um mich noch einmal anzusehen, waren seine Augen so kalt und leblos wie die wächsernen Kugeln, die ich vom Gesicht der toten Frau abgewaschen und den Abfluss der Leichenhalle hinuntergespült hatte.