13

Die Berge prangten in den ersten Herbstfarben. Art Bohanan und ich fuhren im institutseigenen Pick-up die gewundene Straße am Fluss in Cooke County hinauf, die Fenster waren heruntergekurbelt, und das Summen der Reifen mischte sich mit dem Knistern der Platanenblätter, die im Herbst immer als Erstes von den Bäumen trudelten. Ich erzählte Art alles, was ich über meinen Fall wusste, und das war nicht besonders viel. »Egal«, schloss ich, »der Sheriff scheint O’Conner für den Mörder zu halten, aber ich bin mir da nicht so sicher. O’Conner kommt mir nicht vor wie der Lester-Ballard-Typ.«

»Was für’n Typ?«

»Lester Ballard.«

»Wer ist denn Lester Ballard?«

»Art, du enttäuschst mich. Liest du nichts anderes als Polizeiberichte? Lester Ballard ist eine der wichtigsten Figuren der modernen Südstaatenliteratur.« Aus einer Jackentasche zog ich ein zerfleddertes Exemplar von Child of God, das ich eine Stunde vorher in der Wühlkiste des Campus-Buchladens gefunden hatte. Ich wedelte vielsagend damit durch die Luft. »Lester mag Frauen. Tote Frauen. Hält sie in Höhlen frisch.«

»Tun wir das nicht alle? Du denkst also, es gibt eine Verbindung zwischen diesem Buch und dem Mord? So was wie ein Nachahmer – wahres Verbrechen ahmt skurrilen Roman nach?«

»Nein, das denke ich eigentlich nicht. Aber ich denke, dass Jim O’Conner zu klug und zu belesen ist, um ein mordender Hinterwäldler zu sein. Ich verwette mein Gehalt darauf, dass er den Namen der Frau kennt; er war so was von außer sich, als er zwei und zwei zusammenzählte. Aber warum sagt er ihn uns dann nicht, wenn er nicht der Mörder ist?«

»Vielleicht ist er ja doch der Mörder. Nur weil er moderne Südstaatenliteratur zitiert, macht ihn das doch nicht automatisch zum Dudley Do-Right.«

»Ich weiß, aber er wirkt irgendwie nicht wie ein Mörder auf mich. Nenn es anthropologischen Instinkt.«

»Viele Anthropologen haben auch gedacht, Ted Bundy sei ein verdammt netter Kerl.«

»Okay, vergiss es. Urteile selbst. Hey, du hast gesagt, du hast von deinem Kumpel im Militärarchiv gehört. Was hat er denn über O’Conners Militärakte herausgefunden?«

»Army Ranger. Hat sich besondere Verdienste erworben. In Nordvietnam hat er eine Mission zur Rettung eines abgestürzten Piloten geleitet. Das hat ihm eine Beförderung, ein Purple Heart, einen Silver Star und die Nominierung für eine Ehrenmedaille eingetragen. Wenn er kandidieren würde, würden seine Gegner ihn als Feigling bezeichnen, aber für mich klingt er eher wie einer, den ich im Urwald gerne zu meiner Deckung mit dabei hätte.«

»Na, in einer Minute kannst du dir ein Bild machen, ob sein Äußeres mit deiner Einschätzung übereinstimmt.«

Vielleicht auch nicht. Ganz plötzlich kam mir das Treffen, zu dem wir unterwegs waren, problematisch vor. Die Straße endete hundert Meter vor uns vor einer dichten grünen Wand. Auf beiden Seiten des Schotterwegs schoben sich Klippen näher heran. Ich fuhr nur noch im Schneckentempo. »Und jetzt?«, fragte ich.

Art zuckte die Achseln. »Bist du dir sicher, dass das der richtige Weg ist?«

»Nun, ich war mir ziemlich sicher. Ich weiß, dass wir zwischen den beiden Schierlingstannen von der Flussstraße abgebogen sind. Ich weiß, dass wir an der großen Platane ungefähr vierhundert Meter hinter uns gehalten haben, damit Waylon mir die Mütze übers Gesicht ziehen konnte. Danach konnte ich nur noch die Innenseite seiner Kappe sehen – aber es kam mir nicht so vor, als hätten wir noch mal gehalten oder wären irgendwo abgebogen.«

»Na, dann fahren wir doch einfach weiter.«

»Aber wohin denn? Wie denn? Die Straße endet doch da vorne.«

»Fahr, bis du nicht mehr weiterkommst, dann sehen wir schon, wie’s weitergeht.«

Wir krochen voran. Die grüne Wand vor uns war eine verfilzte Masse aus Kudzuranken. Als wir näher kamen, fiel mir auf, dass die Straße nicht direkt am Kudzu endete; sie schien darunter abzutauchen. Links des Schotterwegs kam aus dem Rankenvorhang ein kleiner Wasserlauf herausgesprudelt. Ich schaute Art an, und er grinste. »Verdammte Ranken!«, brüllte er. »Volle Kraft voraus!«

Ich fuhr weiter, und der Pick-up tauchte unter den überhängenden Ranken durch. Sie schleiften wie in einem fiesen Albtraum über die Windschutzscheibe, dann schabten sie übers Dach und griffen mit rutschenden, klatschenden Geräuschen nach Außenspiegeln, Scheibenwischern und Antenne. Der Motor begann zu kämpfen, nicht weil er sich der Ranken erwehren musste, sondern weil der Weg plötzlich steil anstieg. Über uns glaubte ich ein Netz aus Drähten oder Kabeln zu erkennen, das zwischen den hohen Klippen gespannt worden war, um dem Kudzu Halt zu geben.

Nach vierhundert Metern, die sich endlos zu dehnen schienen, endete der Kudzutunnel an einem weiteren Rankenvorhang, und die Straße kam in einem kleinen Hochtal heraus – einem hängenden Tal, wie man das nannte –, das sich vor uns öffnete wie Shangri-La. Es war das Tal, wo Jim O’Conner einen Habicht beobachtet hatte, der auf einem aufsteigenden Luftstrom schwebte. Das Tal, wo auch ich unversehens in einen Luftstrom geraten war, der mich jetzt mit aller Kraft gepackt hatte und mich mit sich trug. Als Art und ich vor dem verwitterten Haus zum Stehen kamen, sah ich eine Gestalt reglos auf einem der Schaukelstühle auf der Veranda sitzen. Es war O’Conner – ein in sich zusammengesunkener, um Jahre gealterter O’Conner. Ich nickte Art zu, und wir stiegen aus.

Ich spürte die Mündung der Waffe hinter meinem Ohr, bevor ich etwas hörte oder sah. Für einen großen Mann bewegte Waylon sich bemerkenswert flink und leise. »Ist okay, Waylon. Aber danke dir«, murmelte O’Conner. »Dr. Brockton, welch unerwartetes Vergnügen. Was führt Sie hierher zurück?«

Ich warnte Art mit einer Geste, denn ich vermutete, dass er irgendwo in einem Wadenholster eine Waffe hatte und nur darauf wartete, sie zum Einsatz zu bringen. »Mr. O’Conner, ich möchte um Verzeihung bitten, dass wir Sie belästigen. Ich weiß, dass die Menschen in den Bergen ihre Privatsphäre und ihren Besitz hoch halten, und ich trete beides gerade uneingeladen mit Füßen. Es ist nur so, dass dieser Mordfall einige Fragen aufgeworfen hat, die Sie mir vielleicht beantworten können. Die junge Frau, die getötet wurde, verdient es, dass jemand für sie spricht, und das kann ich nicht ohne ein bisschen Hilfe.«

Er saß schweigend da. Ich machte unverdrossen weiter. »Ich habe einen Kollegen mitgebracht, Art Bohanan. Art ist Polizeibeamter in Knoxville, aber er ist nicht als Polizist hier, sondern als mein Freund. Er könnte auch Ihr Freund sein, wenn Sie ihn lassen.«

O’Conner drehte sich leicht und inspizierte Art, der seinem Blick offen begegnete, weder mit Angst noch mit Herausforderung. Dann wandte O’Conner sich wieder mir zu. »Sinnlos. Sie ist tot. Für sie zu sprechen bringt sie auch nicht zurück.«

»Nein, das nicht. Aber sie verdient Gerechtigkeit«, sagte ich. »Jemand sollte für ihren Tod verantwortlich gemacht werden, selbst wenn derjenige womöglich selbst längst tot ist.«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich es über mich bringe, das alles wieder auszugraben. Vermisst oder ermordet, sie ist weg. Das war’s, und es geht Sie, bei allem gebührenden Respekt, nichts an.«

Was ich jetzt gleich tun würde, war mir zutiefst zuwider. »Das war’s doch noch nicht ganz«, sagte ich, »und es geht mich, bei allem gebührenden Respekt, durchaus etwas an. Es gibt da nämlich noch ein zweites Opfer zu berücksichtigen.«

Er wandte den Blick ab, um über das Tal zu schauen, dann sah er mich wieder an. »Was für ein zweites Opfer?«

Ich wappnete mich. »Mr. O’Conner, sie trug ein Kind. Sie war im fünften Monat schwanger, als sie umgebracht wurde.«

Ich hörte ihn scharf nach Luft schnappen; es klang, als zerreiße es jemandem das Herz. Ich konnte ihn nicht ansehen.

Art ergriff das Wort. »Mr. O’Conner, ich habe Ihre Militärakte überprüft. Sie sind im Juni 1972 nach Vietnam verschifft worden. War sie schwanger, als Sie abreisten?«

»Nein!« O’Conner schüttelte benommen den Kopf. »Wie sollte sie? Wir … Wir wollten warten. Also, sie wollte warten. Ich hab nicht mal … Oh, Himmel.«

Art gewährte ihm einen Augenblick. »Was war, als Sie nach Hause kamen?«

»Ich habe sie nicht wiedergesehen, als ich nach Hause kam. Da war sie schon verschwunden. Ich weiß nicht mal, wann sie weg ist – ich wusste nicht mal, dass sie die Erkennungsmarke hatte, die Dr. Brockton neulich erwähnt hat. Ich habe sie ihr geschickt, nachdem ich befördert worden war, aber sie hat nie zurückgeschrieben, um mir zu sagen, dass sie sie erhalten hat. Ihre Briefe haben einfach aufgehört. Es war, als hätte die Erde sich aufgetan und sie verschlungen.«

Und genauso war es auch gewesen.

»Wie alt war sie, als Sie nach Vietnam gingen?«

»Zweiundzwanzig.«

Das passte genau zu dem Skelett. Ich wollte sichergehen, dass ich das, was er vorher gesagt hatte, richtig verstanden hatte. »Mr. O’Conner, Sie sagten, Sie hätten keine sexuelle Beziehung zu ihr gehabt?«

»Ja. Sie wollte Jungfrau sein, wenn wir heirateten. Heutzutage klingt das wunderlich, aber ihr war es wirklich wichtig.«

»Wären Sie bereit, eine DNA-Probe zur Verfügung zu stellen, um zu beweisen, dass Sie nicht der Vater des Kindes waren?«

Er starrte mich mit kalten Augen an. »Wie wär’s damit?« Er klappte ein Taschenmesser auf und fuhr sich mit der Klinge über den linken Handballen. Ich sah, wie sich ein Schnitt öffnete und mit Blut füllte. Aus der Gesäßtasche nahm er ein Taschentuch, saugte das Blut damit auf und hielt es mir hin. »Schon okay, Doc«, sagte er. »Kein Aids, keine Hepatitis, keine Syphilis. Rein wie frisch gefallener Schnee.« Art zauberte irgendwo einen Druckverschlussbeutel her, verschloss das blutige Taschentuch darin und reichte mir den Beutel.

In dem langen Schweigen, das nun folgte, wurde mir klar, dass ich noch weit schlimmere Nachrichten überbracht hatte, als ich gedacht hatte: Die Frau, die er einst geliebt hatte, war nicht nur Opfer eines Mordes geworden, sie war auch noch schwanger gewesen. Von einem anderen Mann. Einem Mann, dem sie ihre kostbare Jungfräulichkeit geopfert hatte. »Das muss ein ziemlicher Schock für Sie sein. Es tut mir leid.« Er nickte finster. »Ich bin nicht gern so unverblümt, aber ich weiß nicht, wie ich sonst fragen soll. Sie muss eine sexuelle Beziehung mit jemandem gehabt haben, wenigstens einmal. Der Mann, der sie geschwängert hat, könnte ihr Mörder sein. Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?«

Er schaute hinauf in den Himmel, und sein Blick streifte hin und her, als suchte er etwas, was lange her und weit weg war und nicht gefunden werden wollte. Dann hielt er inne, riss die Augen einen Augenblick weit auf und kniff sie anschließend wieder so eng zusammen, dass sein Blick schwarz und drohend wurde wie eine sommerliche Gewitterwolke. »Weiß der Sheriff das alles?«

»Er weiß, dass sie ermordet wurde. Er weiß, dass sie Ihre Hundemarke trug. Er weiß nicht, dass sie schwanger war. Aber das werde ich ihm gleich sagen.«

Die Pause, die darauf folgte, war so lang, dass ich irgendwo in der Ferne das Krähen eines Hahns ausmachen konnte.

»Sie haben recht, Dr. Brockton. Sie verdient Gerechtigkeit. Und ihr Baby auch. Gehen Sie und erzählen Sie Sheriff Kitchings, was Sie mir gerade erzählt haben. Da würde ich gerne Mäuschen spielen.«

Art und ich fuhren schweigend das Tal hinunter und in den Kudzu-Tunnel hinein. Als wir wieder ins helle Tageslicht kamen, sagte ich: »Und?«

»Er ist nicht der Kerl, der sie umgebracht hat.«

Meine Neugier war stärker als meine Schadenfreude. »Wie kommst du darauf?«

»Die Hundemarke ist ein ziemlich gutes Alibi, zumindest vordergründig. Er kann sie ihr erst geschickt haben, als er in Vietnam war, denn zum Oberleutnant wurde er erst befördert, nachdem er den Piloten gerettet hatte. Abgesehen davon kommt er mir nicht vor wie ein Mörder. Nenn’s Polizisten-Instinkt.«

Ich grinste, bis ich wieder an O’Conners drohenden Blick dachte. »Aber er weiß, wer es war?«

»Ich glaube, er glaubt es zu wissen.«

»Der Sheriff?«

Art sann aufgewühlt eine Weile darüber nach. »Da gibt’s ein Problem mit der Chronologie. Wie alt ist Kitchings?«

»Vierzig, plus minus ein paar Jahre.«

»Aber die Beweise legen nahe, dass sie vor zweiunddreißig Jahren ermordet wurde. Glaubst du, der achtjährige Tommy Kitchings hat eine stramme Zweiundzwanzigjährige angebumst und sie dann erwürgt, als man es allmählich sah?«

Sehr unwahrscheinlich, das musste ich zugeben. »Und warum hat O’Conner uns dann auf den Sheriff aufmerksam gemacht?«

»Vielleicht glaubt er, dass der Sheriff etwas weiß. Vielleicht glaubt er auch, dass der Sheriff jemanden deckt.«

Das würde erklären, warum Kitchings so zögerlich war, was die Identität des Opfers anging. Doch irgendetwas an dem ganzen Szenario störte mich. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich den Finger darauf legen konnte. »Aber das ergibt keinen Sinn. Wenn der Sheriff mit drinhängt oder jemanden deckt, warum hat er mich dann überhaupt hinzugezogen?«

»Gute Frage. Vielleicht hat er nichts damit zu tun. Vielleicht doch, aber es war ihm anfangs nicht klar. Vielleicht hat es ihm erst gedämmert, als du anfingst, an irgendwelchen Fäden zu ziehen und seine Ärmel sich allmählich aufribbelten.«

»Hm. Hast du noch Zeit für einen informellen Besuch bei einem deiner Brüder vom Gesetzesvollzug?«

Für einen Sekundenbruchteil flackerte Sorge in seiner Miene auf, dann schenkte er mir ein gezwungenes Lächeln. »Na gut. Wer A sagt, muss auch B sagen.«

Die Sonne schien auf die Granitblöcke des Gerichtsgebäudes, als wir auf den Parkplatz fuhren, doch als wir ausstiegen, schob sich eine Wolke davor, und der Stein färbte sich dunkel und unheilvoll. Das Gleiche geschah mit den Geländelimousinen und dem schwarzgoldenen Hubschrauber, die hinter dem Gebäude parkten. »Oh, oh«, sagte ich, »kein gutes Zeichen.« Wir standen schon fast vor der Eingangstür, als ich Art am Arm packte. »Wart mal ’nen Moment.« Ich drehte mich um und ging auf eine durchgesessene Bank unter einer herbstlich verfärbten Eiche zu, auf der zwei gleichermaßen wacklige alte Männer saßen, die an Zedernstöcken herumschnitzten. Am Boden lagen duftende Späne, bedeckten Füße und Knöchel. Ich nickte respektvoll, als ich gemächlich näher trat. »Tag, die Herren«, sagte ich und hob die Stimme um einige Dezibel.

»Wir sind nicht taub, nur alt«, sagte einer.

»Was gibt’s?«, keuchte der andere durch einen eingesunkenen, zahnlosen Mund.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Ersten zu, der mir etwas vielversprechender erschien. »Sie machen den Eindruck, als würden Sie sich ziemlich gut auskennen in Cooke County. Schätze, Sie könnten mir vielleicht helfen, mich an einen Namen aus alten Zeiten zu erinnern?«

»Na, ich bin auch nicht senil, aber garantieren kann ich für nichts.«

»Ortsansässiges Mädchen, vielmehr eine junge Frau. Blond, groß. Wirklich groß. Hat in den sechziger, Anfang der siebziger Jahre hier in der Gegend gelebt. War damals so um die zwanzig.«

»Mister, ich habe nicht die geringste Idee.«

Sein Kumpel erwachte zum Leben. »Zum Teufel, natürlich nicht. Du lebst doch erst seit zwanzig Jahren hier. Du weißt ’nen Dreck über Cooke County.« Er schob die Kiefer nachdenklich umeinander. »Ein Blondkopf? Um die ein Meter achtzig? Annehmbares Aussehen?« Ich nickte voller Hoffnung, obwohl ich mich angesichts der wächsernen Todesmaske, die ich gesehen hatte, nicht für ihre Schönheit hätte verbürgen können. Sein stoppliger Kiefer schob sich von einer Seite auf die andere. »Bonds.«

»Wie bitte?«

»Bonds. So hieß das Mädchen. Den Vornamen hab ich vergessen. Sie sah toll aus, daran erinnere ich mich noch gut. Liebenswürdig und temperamentvoll – von der Sorte, die ein bisschen Zähmung vertragen kann –, aber es war klar, dass der Ritt es wert sein würde, das eine oder andere Mal abgeworfen zu werden, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Wissen Sie noch, was aus ihr geworden ist?«

»Auf und davon. Sie ist weggelaufen, hab ich gehört. Keine Ahnung, warum. Wünschte, sie wär nicht weg – hat ein großes Loch in der Gegend hier hinterlassen, als sie verschwand.« Die Erinnerung löste weiteres Kiefermahlen aus.

Ich bedankte mich bei ihm und ging zurück zu Art, der auf den Stufen wartete. Eine asthmatische Stimme rief hinter mir her: »Der Sheriff wird sich an ihren Vornamen erinnern. Müsste er wenigstens. Sie war mit ihm verwandt.«

Tom Kitchings reinigte gerade ein Gewehr, als ich seine Bürotür öffnete und ins Zimmer stürmte. Er schaute auf, zuerst verdutzt über mein Eindringen, dann verdutzt über meine Miene. »Ganz ruhig, Doc, einen Mann, der eine Waffe in der Hand hat, sollte man nicht so erschrecken. Was ist los? Bringen Sie mir das Skelett?«

»Nein, ich bin hier, weil ich wissen will, warum Sie mich anlügen.«

Er legte das Gewehr auf den Tisch und richtete den Blick langsam auf mich. »Moment mal, Professor. Das sind sehr starke Worte. Können Sie das auch untermauern?« Sein Blick ging über meine Schulter zu Art, der mir in das Büro gefolgt war. »Wer ist das?«

»Art Bohanan, Kriminalbeamter aus Knoxville.«

»Was zum Teufel macht der in meinem County?«

»Einen kleinen Ausflug. Ich bin nur mitgekommen«, sagte Art ganz ruhig.

»Na, dann machen Sie Ihren Ausflug gefälligst woanders. Ich hab gehört, nicht weit von hier ist ein großer Nationalpark, da gibt’s ’n paar tolle Landschaften.«

»Vielleicht können wir auf dem Heimweg dort vorbeifahren«, sagte Art freundlich.

»Da machen Sie sich am besten gleich auf den Weg.«

Ich schlug mit der Hand auf den Schreibtisch, und das mit einer Wucht, die alle überraschte, einschließlich meiner selbst. »Verdammt, wie heißt sie, Sheriff? Sie wissen verdammt genau, wer sie ist.«

Er wurde puterrot und sah mich finster an. »Ich bin noch nicht fertig mit der Durchsicht der alten Akten.«

»Dazu müssen Sie Ihre Akten nicht zu Rate ziehen. Sehen Sie in Ihrer Familienbibel nach. Nachname Bond. Dieses Skelett baumelt an Ihrem Familienstammbaum. Was ist passiert, Sheriff, hat sie der Familie Schande gemacht, sodass man sich ihrer entledigen musste?«

Kitchings sprang auf. »Wagen Sie es nicht, hier reinzukommen und mich und meine Familie zu beleidigen. Verschwinden Sie aus meinem Büro, verschwinden Sie aus meinem County, und halten Sie sich aus meinen Angelegenheiten raus.«

»Den Teufel werde ich. Dies ist ein Mordfall, und ich lasse nicht zu, dass Sie ihn unter den Teppich kehren, nur weil Ihnen nicht gefällt, welche Wendung die Sache plötzlich genommen hat.«

Der Sheriff nahm das Gewehr vom Schreibtisch und schwenkte es herum. Instinktiv packte ich den Lauf und wollte es ihm aus den Händen ringen. Plötzlich erstarrte der Sheriff mitten in der Bewegung. Ich schaute auf und sah Art neben ihm stehen. Mit einer Hand hatte er Kitchings’ Haare gepackt, mit der anderen hielt er ihm eine Pistole an die Schläfe. »Okay, wir atmen jetzt alle tief durch, bis wir uns wieder beruhigt haben«, sagte Art. »Lassen Sie das Gewehr los, Sheriff.« Der tat wie ihm geheißen. »Bill, stell es drüben neben die Tür.« Ich gehorchte. »Okay, wir fahren jetzt zurück nach Knoxville«, fuhr Art fort. »Sollten wir im Rückspiegel sehen, dass uns jemand folgt, bin ich schneller am Funkgerät als eine Ente, die hinter einem Junikäfer her ist, und nehme Kontakt zu FBI, Kriminalpolizei und einigen verdeckt ermittelnden Polizeibeamten auf, gegen die Ihre schlimmsten Halunken aussehen wie Muttersöhnchen.«

Kitchings schnaufte mit zusammengebissenen Zähnen. »Hören Sie mir gut zu, Doktor. Ich besorge mir einen Haftbefehl für Jim O’Conner, und dann schleife ich ihn unter Mordanklage hierher. Und Williams schicke ich, um die Überreste als Beweismittel abzuholen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Falls er sie anfordert, übergebe ich sie dem Staatsanwalt, aber ich übergebe sie auf keinen Fall Ihnen.«

»Sie tun, was der Mann sagt«, ertönte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah eine schlankere Version von Tom Kitchings, die die Uniform eines Deputys trug und ein Messingschild, auf dem »Orbin Kitchings, Chief Deputy« stand. Der Mann blickte am Lauf von Sheriff Kitchings’ Gewehr entlang, der direkt auf mich gerichtet war. »Legen Sie Ihre Waffe auf den Boden«, sagte er zu Art. »Und damit meine ich, jetzt sofort.« Art hielt seine Pistole weiter auf den Kopf des Sheriffs gerichtet. »Leg sie ab, Stadtjunge, sonst puste ich dem bei Gott hier und jetzt die Birne weg.«

In dem Raum war es so still, man hätte einen Zahnstocher fallen hören können. Schließlich brach Art das Schweigen. »Das können Sie nicht, Deputy.«

»Und wie ich das kann.«

»Sie können zwar abdrücken, aber Sie können ihn nicht erschießen«, sagte Art ganz ruhig. »Denn die Kammer ist leer. Der Sheriff war gerade dabei, das Gewehr zu putzen. Könnte sein, dass noch ein paar Schuss im Magazin sind, aber bis Sie einen davon einrepetiert haben, habe ich zweimal auf Sie und einmal auf den Sheriff geschossen.« Ich sah, dass der Sheriff seinem Bruder leicht zunickte, und hoffte inbrünstig, dass er damit Arts Theorie von der leeren Kammer bestätigte. »Legen Sie das Gewehr weg, Deputy, und kommen Sie mit ausgestreckten Händen hier rüber zu mir.«

»Mach schon, Orbin. Tu, was er sagt«, seufzte Kitchings.

Orbin gehorchte.

Kitchings war jetzt ein anderer Mann – sehr viel unsicherer und sehr viel müder –, als noch vor einem Augenblick. »Ich weiß nicht, was hier los ist, Doc. Sie haben recht, sie war meine Cousine. Ihr Name war Leena Bonds – eigentlich Evelina. Nachdem ihre Leute gestorben waren, hat sie ein paar Jahre bei meiner Familie gelebt, und dann hat sie die Stadt verlassen. Wenigstens dachten wir das immer, bis jetzt. Leena war mit Jim O’Conner zusammen. Zum Teufel, ich glaube, sie war sogar mit ihm verlobt. Für mich – und für die meisten anderen – macht ihn das zum Hauptverdächtigen.«

»Nicht wenn er in Vietnam war, als sie erwürgt wurde«, sagte ich.

»Wissen Sie denn, wann sie erwürgt wurde?«

»Nicht genau. Aber die Hundemarke legt nahe, dass er da schon einige Zeit in Vietnam war.«

»Dann hat er es getan, als er auf Heimaturlaub war. Irgendwelche Beweise, dass es nicht passiert ist?«

»Nicht dass ich wüsste. Aber ein DNA-Test wird vermutlich zeigen, dass er nicht der Vater des Kindes war, das sie trug.«

Die Enthüllung schlug ein wie eine Bombe. Ich hatte nicht vorgehabt, Leenas Schwangerschaft auf diese Weise zur Sprache zu bringen, aber ich hatte auch nicht vorgehabt, mich in einem mexikanischen Unentschieden mit zwei Polizeibeamten wiederzufinden.

Tom Kitchings stolperte rückwärts gegen einen Aktenschrank, er sah aus, als hätte er einen herben Schlag abbekommen. »Sie war schwanger?«

»Ja. Im fünften Monat, soweit ich das anhand des fötalen Skeletts sagen kann.«

Der Sheriff war wie vom Blitz getroffen. Sein Bruder kam schneller wieder zu sich. »Zum Teufel, da haben wir doch das Motiv, meine Herren. GI Jim kommt nach Hause, findet raus, dass seine Süße ›been taking her love to town‹ … und dass sie sich dabei ein Kind machen ließ … und flippt aus. Könnte schwer werden, einen vorsätzlichen Mord nachzuweisen, aber für eine Anklage wegen Totschlags sollte es reichen.«

»Ich glaube nicht, dass er es war«, sagte ich.

Der Sheriff drückte sich vom Aktenschrank weg, bis er aufrecht stand, und beugte sich dann, beide Hände flach auf den Schreibtisch gestützt, zu mir vor. »Nehmen Sie’s nicht persönlich, Doc, aber ich geb ’nen Scheiß drauf, was Sie denken. Sie mögen ja vielleicht ein guter Knochendetektiv sein, aber hier sind Sie ein Außenstehender. Sie haben keinen blassen Schimmer von Cooke County oder Jim O’Conner und wessen er womöglich fähig ist oder nicht. Ich besorge mir einen Haftbefehl für ihn. Und ich besorge mir auch eine richterliche Anordnung zur Vorlage dieser Knochen. Und werde es sehr persönlich nehmen, wenn ich Sie noch einmal dabei erwische, wie Sie sich in diesen Fall einmischen.«

Ich fand, das war ein guter Zeitpunkt, den Abgang zu machen. Ich sah Art an, der meiner Meinung zu sein schien, denn er wies mit dem Kopf in Richtung Tür. »Sheriff«, sagte ich, während ich mich rückwärts aus dem Büro bewegte, »ich werde Ausschau halten nach dieser Anordnung. Orbin, hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Einen schönen Tag noch.«

»Denken Sie daran«, sagte Art, »wir haben ein Auge auf dem Rückspiegel und eine Hand am Funkgerät.«

Als wir aus dem Gerichtsgebäude liefen, sagte Art: »Hol den Pick-up, fahr hinten rum und sammel mich da auf.« Ich wollte ihn fragen, warum, aber er schnitt mir das Wort ab. »Tu’s einfach. Ich erklär’s dir später.«

Die Reifen quietschten, als ich rückwärts aus der Parklücke setzte. Sie quietschten wieder, als ich den Gang einlegte und anfuhr, und noch einmal, als ich den Wagen mit Schwung um die Ecke zum Parkplatz hinter dem Gebäude lenkte. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass die zwei Veteranen aufgehört hatten zu schnitzen und mit weit offenen, fast zahnlosen Mündern hinter mir herstarrten.

Ich fuhr auf den Platz und sah Art an der Tür des Hubschraubers. Als ich neben ihm zum Stehen kam, steckte er eine kleine Flasche in die Tasche, dann sprang er in den Wagen. »Was hast du gemacht?«

»Oh, nichts«, sagte er. »Hab uns nur ein bisschen Zeit herausgeschunden.« Er holte die Flasche wieder aus der Tasche, um sie mir zu zeigen: Sekundenkleber.

»Du hast die Türschlösser mit Sekundenkleber verklebt?« Er grinste stolz. »Die Autos? Den Hubschrauber?« Er nickte glücklich. »Die werden stocksauer sein.«

»Etwa noch saurer als da drin, als sie uns erschießen wollten?« Wo er recht hatte …

Trotz Arts Kriegslist vergeudete ich keine Zeit, aus der Stadt zu kommen. Auf der kurvenreichen Straße am Fluss entlang schaute ich so oft ich konnte, ohne über die Böschung zu schießen oder reisekrank zu werden, in den Rückspiegel. »Du holst besser das Funkgerät raus«, sagte ich zu Art, »nur für den Fall.«

»Was für ein Funkgerät?«

»Das Funkgerät, mit dem du Hilfe herbeirufen wolltest.« Ich sah ihn an, aber er schüttelte den Kopf und hielt die leeren Hände hoch. »Und was hast du dann den Mund so voll genommen von wegen FBI und Kriminalpolizei anzufunken, wenn sie uns folgen würden?«

»Das, mein Freund, nennt man einen Bluff. Einen erfolgreichen Bluff, um genau zu sein.« Ich war nicht auch nur annähernd so entzückt über seine Gewieftheit wie er selbst. »Hey, was hätte ich denn sagen sollen?«, verteidigte er sich. »›Oh, bitte, kommt nicht hinter uns her, denn dann sind wir geliefert‹? Ich bin froh, dass du in dem Augenblick nicht das Gespräch geführt hast.« Und wieder: Wo er recht hatte …

Wir fuhren eine Weile in nervösem Schweigen, bis wir auf die I-40 kamen und die Leitpfosten mit hundertsechzig Stundenkilometern vorbeiflogen. Zum ersten Mal im Leben wünschte ich mir, von einem Verkehrspolizisten auf den Seitenstreifen gewunken zu werden. »Art, ich bin hier auf unbekanntem Gebiet«, sagte ich. »Ich hatte noch nie einen Fall, wo ich die Bösen nicht von den Guten unterscheiden konnte.«

Er nickte. »Ich weiß noch, wie mir das zum ersten Mal passiert ist. Ich war noch ziemlich neu bei der Mordkommission, als im Osten von Knoxville ein Drogendealer erschossen wurde. Von einem rivalisierenden Dealer erschossen, wie der Drogenfahnder mir erzählte. Doch dann tauchten Kleinigkeiten auf, die mir seltsam vorkamen. Kein anderer Dealer besetzte das Gebiet. Das fehlende Kokain – angeblich irgendein heißes neues Zeug – gelangte nie auf die Straßen von Knoxville. Stattdessen wurde es bald in Memphis gesichtet. Es stellte sich heraus, dass einer der Beamten von der Drogenfahndung den Dealer aus dem Hinterhalt überfallen und das Kokain an einen Dealer in Memphis verkauft hatte, den er kannte. Beängstigend, wenn man herausfindet, dass man nicht mal den Leuten im eigenen Team trauen kann.«

Das war allerdings beängstigend. »Und was soll ich jetzt machen?«

»Kommt drauf an. Was ist dir denn wichtig?«

»Ich will rausfinden, wer die junge Frau ermordet hat. Ich möchte ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen, soweit das möglich ist.«

Er nickte. »Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet. Dann tu, was du immer tust: Sprich für das Opfer, erzähl die Wahrheit und benutz deinen Verstand. Oh ja … und pass ab jetzt gut auf dich auf.«

»Das ist alles? Einen besseren Ratschlag hast du nicht für mich, du Superbulle?«

»Hey, einen besseren Rat habe ich auch für mich selbst nie. Scheint aber zu funktionieren. Bis jetzt.«

»Sehr tröstlich. Kein Wunder, dass ich dich dabeihaben wollte.«

»Verdammt richtig. Aber warte mal, da ist noch was. Ich bin nicht nur Tröster und Lebensretter, ich bin auch ein Eins-A-Beweisesammler.« Art langte in seine Hemdtasche, zog ein zusammengefaltetes Taschentuch heraus und reichte es mir.

»Das Taschentuch soll ein Eins-A-Beweis sein?«

»Nein, Sherlock. Sieh rein.«

Ich faltete es auseinander. In den Falten steckte ein menschliches Haar. »Von wem?«

»Frisch vom Kopf des Sheriffs Thomas Kitchings. Weißt du noch, wie ich dir da drin die Haut gerettet habe? Ich hatte seine Locken gut in der Hand, während ich ihm die Knarre an die Schläfe hielt. Dachte, wenn ich sie schon in der Hand hab, kann ich auch ein paar als Souvenir mit nach Hause nehmen. Arbeitet dein ehemaliger Student immer noch im kriminaltechnischen Labor des Pentagon?«

»Bob Gonzales? Ja, warum?«

»Könnte interessant sein, zu sehen, ob es irgendwelche Verbindungen zu deiner Höhlenfrau oder dem Baby gibt.«

»Ich muss noch mal fragen, warum? Der Sheriff hat doch zugegeben, dass sie seine Cousine ist. Und du hast mich bereits davon überzeugt, dass er zu jung war, um der Vater des Kindes zu sein.«

»Bill, wir sind hier im Cooke County. Sag nie nie. Man weiß nie, was sich noch ergeben könnte.«

»Wenn du meinst. Du bist der Eins-A-Kriminalist. Danke übrigens, dass du mir da drin die Haut gerettet hast.«

»Jederzeit. Außer wahrscheinlich in den nächsten ein, zwei Tagen. Ich arbeite noch an der Kindesentführung.«

»Irgendwelches Glück?«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Wir sind seit drei Wochen dran und haben noch nicht die geringste Spur, und das, obwohl wir den Scheißkerl fast rund um die Uhr beschatten. Wenn wir ihn nicht völlig falsch eingeschätzt haben, dann ist das Kind seit der Nacht, in der er es gekidnappt hat, tot. Wir haben schon die Leichenspürhunde losgeschickt, nach einer Leiche zu suchen.«

Mir fiel nichts Ermutigendes dazu ein.

Der Himmel hatte sich im Laufe des Tages bewölkt, doch als wir die große Brücke über den French Broad River überquerten, schoss die Sonne plötzlich einen ganzen Strahlenkranz hinter einem Berg Kumuluswolken hervor. Gegen eine violettschwarze Gewitterfront im Westen glühten die nahen Wolken und die waldbestandenen Flussufer mit solcher Lumineszenz, dass mir das Herz in der Brust ganz eng wurde. »Gottes Licht«, hatte meine Mutter so etwas immer genannt.

Ich wusste nicht recht, ob ich noch an Gott glaubte. Doch an Folgendes glaubte ich: Trotz ihrer dunklen Flecken konnte die Welt ein schöner Ort sein.