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Staatsanwalt Robert Roper bedachte mich mit einem betrübten Nicken, als ich, zerstrubbelt und mit glasigem Blick, in den Zeugenstand trat. In einem halben Dutzend Mordfällen hatte ich für Bob als Zeuge ausgesagt, doch heute war ich für die andere Seite angetreten, und zwar mit dem Ziel, Bobs Anklage zu entkräften, dass Eddie Meacham Billy Ray Ledbetter umgebracht hatte.
Als forensischer Anthropologe bin ich der Wahrheit verpflichtet, nicht der Staatsanwaltschaft oder der Polizei. In der Praxis bedeutet, die Wahrheit zu sprechen, normalerweise, für das Mordopfer zu sprechen, und in dieser Funktion sagte ich oft als Zeuge der Staatsanwaltschaft aus. Diesmal lag die Sache anders. Diesmal war ich überzeugt, dass Billy Ray Ledbetter nicht von seinem Freund Eddie umgebracht worden war. Allerdings ging es mir so gegen den Strich, diese Wahrheit ausgerechnet für den Verteidiger, der mich in die Sache reingezogen hatte, auszusprechen, dass sie mir vor Verärgerung wahrscheinlich fest im Hals stecken bleiben würde und man mich an Ort und Stelle im Zeugenstand mit dem Heimlich-Manöver würde retten müssen.
Der Justizwachtmeister ratterte die Fragen herunter, die wahrscheinlich immer gestellt wurden, wenn jemand vereidigt wurde – er sprach so schnell, dass ich überlegte, ob er wohl einen Nebenjob als Auktionator hatte –, und ich stimmte allem zu. Dann stand Burt DeVriess auf, um mich zu befragen, und ich spürte, wie ich in Harnisch geriet.
Ich ermahnte mich, dass ich als Zeuge für DeVriess und seinen Mandanten hier war, aber es fiel mir nicht leicht, jahrelange Animosität zu unterdrücken. In fast allen Mordprozessen im Osten von Tennessee, in denen ich als Zeuge für die Staatsanwaltschaft ausgesagt hatte, hatte DeVriess – örtliche Polizisten hatten ihm den Spitznamen »der Fiese« verpasst – als Verteidiger fungiert. Je schuldiger man war und je abscheulicher das Vergehen, desto dringender brauchte man den Fiesen. Wenigstens schien es so. Serienvergewaltiger, Kinderschänder, Drogenbosse, eiskalte Killer: Der Abschaum der Menschheit – oder Unmenschheit – war Burt DeVriess’ einträgliches Geschäft. Ich hatte ihm schon ein Dutzend Mal im Zeugenstand gegenübergestanden, und sein Kreuzverhör hatte mich jedes Mal auf die Palme gebracht. Wobei diese Wut auch die natürliche Reaktion auf die Struktur unseres Rechtssystems war, das auf der Verhandlungsmaxime beruhte – und die mochte ich nicht besonders. Es konnte einen verrückt machen, wenn man eine akribische forensische Untersuchung durchführte und dann mit ansehen musste, wie diese von in den Zeugenstand berufenen Karrieristen – weithin bekannt als »Verteidiger-Huren« – hinterfragt und untergraben wurde: Ja, theoretisch, nehme ich an, ist es, wie Dr. Brockton behauptet, durchaus möglich, dass die Schädelfraktur durch den blutigen Baseballschläger verursacht worden sein könnte, den man neben der Leiche gefunden hat. Meiner Meinung als Sachverständigem zufolge ist die Fraktur jedoch sehr viel wahrscheinlicher die Folge des Einschlags eines großen, unförmigen Hagelkorns …
Obwohl ich solche weit hergeholten Vermutungen verabscheute, betrachtete ich sie als notwendiges Übel. Doch was ich DeVriess weder vergeben noch vergessen konnte, war die Art, wie er geschickt und äußerst hinterhältig meine berufliche und persönliche Integrität angriff. Seine Lieblingsmethode war, eine ungeheuerliche Unterstellung in Frageform vorzubringen, die natürlich sofort abgewiesen wurde … nachdem sie sich den Geschworenen unauslöschlich eingeprägt hatte. »MISTER Brockton, haben Sie Ihre Ergebnisse dahingehend manipuliert, dass sie zu der Theorie der Staatsanwaltschaft passen, so wie Sie es in demunddem Verfahren vor drei Jahren gemacht haben?« (»Einspruch!« »Stattgegeben.« »Zurückgezogen.«) Jedes Mal, wenn ich gegen DeVriess in den Ring ging, wusste ich, dass so ein Schlagabtausch kommen würde, und trotzdem wurde ich jedes Mal aufs Neue fuchsteufelswild, wenn es dann passierte. Was natürlich genau der gewünschte Effekt war.
Wenn ich diesen Mann und seine Taktiken also so sehr verachtete, warum um alles in der Welt wollte ich in einem Mordprozess für seinen Mandanten aussagen? Weil er wieder einmal mit mir gespielt hatte wie mit einem Fisch an der Angel und mich diesmal auf seine Seite des Gerichtssaals gezogen hatte. Vor ein paar Wochen hatte er mich zum Mittagessen eingeladen – »um das Kriegsbeil zu begraben«, wie er sagte –, und tatsächlich war er während des Essens freundlich und versöhnlich, lobte meine Forschungsarbeit, lobte meine Studenten und entschuldigte sich für seine aggressive Verteidigungstaktik. Beim Dessert warf er dann den Köder aus. Er habe einen Fall, bei dem er meinen Rat brauchen könne, sagte er, denn im Zusammenhang damit sei er auf das seltsamste forensische Rätsel gestoßen, das ihm je untergekommen sei. Er stellte eine Reihe unschuldiger hypothetischer Fragen über die Skelettstruktur und Stichverletzungen – »Wenn ein Mensch erstochen wird, kann die Messerschneide doch Spuren an den Knochen hinterlassen, die sie berührt, oder? Können Metallpartikel von der Schneide daran zurückbleiben oder Rückstände von einem Wetzstein? Was ist mit demunddem?« Meine Antworten nahm er mit gespannter Aufmerksamkeit auf und fragte präzise nach. »Ja, aber wenn das Messer eine dünne, biegsame Schneide hatte? Wenn das Opfer eine Wirbelsäulenverkrümmung hatte?« Viel zu spät – erst als ich längst zuckend in seinem Fischkorb lag – dämmerte mir, dass er den Haken während des ganzen mit Schokolade versüßten Gesprächs beständig tiefer ins Wasser hatte gleiten lassen. Der Fiese, der schlaue Scheißkerl, hatte sowohl an meine wissenschaftliche Neugier appelliert als auch an meinen Sinn für Gerechtigkeit. Als er die Rechnung bezahlte, schloss er mit einer Litanei besorgniserregender Behauptungen über die Obduktion, die Billy Ray Ledbetter durch Dr. Garland Hamilton zuteil geworden war, den Medical Examiner von Knox County. Ich sei die einzige Hoffnung auf Rettung für den armen, unschuldigen Eddie Meacham, beharrte DeVriess.
Er brachte mich in eine schwierige Lage. Als Anthropologe steht es mir formaljuristisch nicht zu, die Todesursache festzustellen; in Tennessee darf dies nur ein Arzt mit einer Spezialisierung in forensischer Pathologie – und zwar ein Pathologe, der offiziell als Medical Examiner bestellt ist, eine Position, die medizinische Sachkenntnis mit Strafverfolgungskompetenz vereint. In der normalen Hackordnung der akademischen und forensischen Welt stand ein forensischer Anthropologe mit einem Dr. phil. eine Stufe unter einem Medical Examiner mit einem Dr. med. Andererseits gab es bestimmte Gebiete, auf denen meine Sachkenntnis die des Medical Examiners weit übertraf, und eines dieser Gebiete war Skelettstruktur und -geometrie. Ich hatte nicht nur Tausende von menschlichen Skeletten untersucht und Hunderte von Leichen – darunter unzählige zerfetzte und ermordete –, ich hatte auch ein Jahr lang an der medizinischen Fakultät Anatomie unterrichtet. Wenn also das Leben eines Mannes daran hing, ob eine Messerschneide einen Zickzackkurs durch Rücken, Wirbelsäule und Brustkorb eines anderen Menschen nehmen konnte, war ich zuversichtlich, dass meine umfassende Erforschung des Skeletts und mein anatomisches Wissen den Dr. med. von Dr. Hamilton mehr als wettmachten.
»Dr. Brockton, ich will Ihnen gegenüber ehrlich sein«, hatte der Fiese sich mir anvertraut. »Die große Mehrheit meiner Mandanten ist wahrscheinlich der Verbrechen schuldig, die man ihnen vorwirft.« Meine Güte, was für eine Erkenntnis! »Eddie Meacham ist es nicht. Er hat Billy Ray Ledbetter nicht umgebracht. Er wurde aufs Kreuz gelegt von einem unfähigen, gestörten Medical Examiner und von einem Staatsanwalt, der den Medical Examiner nicht bloßstellen will, damit seine anderen Prozesse nicht darunter leiden. Und dafür sind sie bereit, einen unschuldigen Mann lebenslänglich zu Unrecht hinter Schloss und Riegel zu bringen. Das ist nicht richtig, und wenn ich im Laufe der Jahre irgendetwas über Sie gelernt habe, Dr. Brockton, dann Folgendes: Sie stehen für die Wahrheit. Ich bitte Sie, sehen Sie von Ihren persönlichen Gefühlen für mich ab und sagen Sie die Wahrheit über diesen Fall und diese Farce von einer Obduktion. Eddie Meacham braucht Ihre Hilfe.«
Gütiger Himmel, er war gut. Jahrelang hatte ich ihn verachtet – und verachtete ihn noch immer, als ich jetzt im Zeugenstand Platz nahm –, aber als ich vor einigen Wochen mit ihm in diesem Restaurant gesessen hatte, konnte ich nicht anders, als sein Geschick und seine Leidenschaft zu bewundern. Ich konnte auch seiner Bitte nicht widerstehen, nach meinem besten Ermessen zu handeln und das zu tun, was ich für richtig hielt. Ob ich geschmeichelt war? Wahrscheinlich. Doch war es nicht möglich, sich schmeicheln zu lassen und trotzdem das Richtige zu tun?
Und richtig war – zu dem Schluss war ich gekommen, nachdem ich Dr. Hamiltons Obduktionsbericht gelesen und meine eigene Sammlung von Skeletten und Leichen studiert hatte –, in den Zeugenstand zu treten und darzulegen, dass die Schlussfolgerungen des Medical Examiners völlig falsch waren. Also fand ich mich an diesem Morgen mit trübem Blick im Zeugenstand ein und schwang Knochen und Schaubilder, um die Skelettgeometrie zu erklären. Der Fiese führte mich reibungslos durch alle Fakten und endete mit dem Bericht meines vergeblichen Versuchs vom Vortag, den Stichkanal so zu reproduzieren, wie er im Obduktionsbericht beschrieben wurde. »Dr. Brockton, ist es Ihrem fachmännischen Urteil zufolge – basierend auf Ihrem umfassenden Wissen über Knochenverletzungen und auf Ihrer eigenen experimentellen Forschung – also auch nur im Entferntesten glaubhaft, dass die Schneide eines Jagdmessers diesen Zickzackkurs durch den Körper des Verschiedenen genommen hat?« Nein, sagte ich. »Vielen Dank, Doktor, für Ihre Objektivität und Ihren Mut«, schloss er und ließ dabei mit viel Gefühl seine Stimme ein wenig brechen. Als er zum Tisch der Verteidigung zurückging und seinem Mandanten ermutigend die Schulter drückte, erwartete ich halb, eine Träne über seine Wange laufen zu sehen.
Am Tisch der Staatsanwaltschaft starrte Bob Roper verdrießlich auf seine Kopie des Obduktionsberichts, bevor er aufstand, um mich ins Kreuzverhör zu nehmen. Keiner von uns freute sich darauf. Er begann, indem er Schritt für Schritt mit mir die wissenschaftliche Methode durchging: Beobachtung, Hypothese, kontrolliertes Experiment, Schlussfolgerung. Ich hatte keinen Schimmer, worauf er hinauswollte, und wurde ungeduldig, denn wir behandelten das Thema in geisttötenden Einzelheiten. Dann erkannte ich die Falle, die er mir stellen wollte. »Sie haben in Ihrer Forschungseinrichtung Dutzende wissenschaftlicher Experimente über Verwesungsprozesse an Leichen durchgeführt, nicht wahr, Doktor?« Ich bejahte das und hörte dabei schon, wie die Klauen der Falle knirschend aufgingen. »Dr. Brockton, betrachten Sie reproduzierbare Ergebnisse als wichtigen Teil der wissenschaftlichen Methode?«
»Ja«, sagte ich vorsichtig, »im Allgemeinen tue ich das.«
»Und doch haben Sie das Experiment, über das Sie heute ausgesagt haben, das, mit dem Sie die Obduktion des Medical Examiners anfechten, nur einmal durchgeführt, ist das korrekt?« Schnapp!
»Das stimmt, aber …«
»Doktor, korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber wenn einer Ihrer Studenten eine Doktorarbeit einreichen würde – sagen wir, eine Dissertation über die Auswirkungen der Temperatur auf die Verwesungsgeschwindigkeit von Leichen –, und wenn diese Dissertation auf einer einzigen Thermometermessung an einer einzigen Leiche beruhen würde, dann würden Sie das doch, wie ich vermute, eine schäbige Forschungsarbeit nennen, oder?« Das musste ich einräumen. Mein Gesicht glühte. Roper wirbelte auf dem Absatz herum und ging zu seinem Platz zurück. »Keine weiteren Fragen an den Zeugen.«
DeVriess stand nicht mal auf. »Dr. Brockton, kennen Sie das Manhattan-Projekt?« Natürlich: Ein Großteil der streng geheimen Entwicklungsarbeit für die Atombombe im Zweiten Weltkrieg hatte nur gut dreißig Kilometer entfernt von hier in Oak Ridge stattgefunden. »Der Trinity-Test in New Mexico – die einzige experimentelle Zündung einer Atombombe vor Hiroschima –, würden Sie das schäbige Forschungsarbeit nennen, Doktor? Oder würden Sie das einen ziemlich überzeugenden Beweis nennen?«
Ich hätte den raffinierten Scheißkerl küssen können. »Ich schätze, ich würde das als ziemlich überzeugenden Beweis bezeichnen.«
Roper erhob Einspruch, doch der Richter lächelte nur und schüttelte den Kopf. Der Fiese beantragte die umgehende Abweisung der Klage in sämtlichen Punkten; der Richter gab auch ihm einen Korb, stimmte jedoch seinem Antrag auf Exhumierung der Leiche von Billy Ray Ledbetter zu, sodass ich den Fall an der Leiche selbst untersuchen konnte – beziehungsweise an dem, was davon noch übrig war.
Als die Aufregung sich legte und die Sitzung endete, ging ich zu Roper hinüber, der missgelaunt an seinem Tisch saß. »Bob, ich hoffe, Sie sind mir nicht böse. Sie wissen, wie miserabel ich mich fühle?«
Er schaute mit müden Augen auf. »Ja, ich mich auch. Es ist mir viel lieber, wenn Sie hier auf meiner Seite sitzen.«
»Mir auch.« Ich hielt ihm die Hand hin, und wir schüttelten uns wie gute Südstaaten-Gentlemen die Hand. Als ich den Griff lösen wollte, packte er fester zu.
»Bill? Es … es tut mir wirklich leid, Bill.«
Ich schenkte ihm ein, wie ich hoffte, beruhigendes Lächeln. »Schon gut. Sie machen Ihren Job, so gut Sie können.«
Er drückte meine Hand noch einmal. »Ich … ich meine wegen Kathleen. Ich hätte schon viel früher etwas sagen sollen, aber ich wusste einfach nicht, was. Es tut mir sehr, sehr leid.«
Ich wollte etwas erwidern, brachte jedoch kein Wort heraus. Stattdessen wandte ich den Blick ab, machte meine Hand frei und floh.