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Der Kudzutunnel zu Jim O’Conners Versteck war mir allmählich so vertraut wie die Einfahrt vor meinem Haus. Ich hatte Jim vor einer Stunde angerufen, um ihm von dem zweiten Knochendiebstahl zu berichten und eine neuerliche Einschätzung abzugeben, wie unsere Aussichten standen, Leenas Skelett je zurückzubekommen – nicht sehr gut. »Ich war mir ziemlich sicher, sie wäre irgendwo in Cooke County, in den Händen von jemandem, der ein Dienstabzeichen trägt«, sagte ich. »Jetzt habe ich keinen Schimmer mehr, wer sie hat, wo sie ist und ob wir sie je zurückbekommen.«
Er nahm die Nachricht ruhiger auf, als ich erwartet hatte; ja, er versuchte sogar, mich über den Verlust hinwegzutrösten. »Nun, ich hoffe, Sie bekommen die Knochen wieder, und ich hoffe, Sie schnappen den, der sie geklaut hat. Aber vergessen Sie nicht, diese Knochen sind nicht Leena. Sie sind nur das, was von dem übrig ist, was sie einmal war, vor langer Zeit.« Und das von einem Mann, den ich nicht nur einmal, sondern zweimal in die Knie gehen gesehen hatte, zuerst bei der Nachricht, dass sie gefunden worden war, und dann, als er erfuhr, dass sie schwanger gewesen war. Er besaß ein bemerkenswert unverwüstliches Naturell. »Hören Sie, wenn Sie Zeit haben, dann kommen Sie mich doch besuchen«, sagte er als Nächstes. »Ich würde Ihnen gern etwas zeigen. Als Anthropologe wird es Sie interessieren; und vielleicht muntert es Sie ja auch ein wenig auf.« Mehr wollte er am Telefon nicht preisgeben.
Auf der Fahrt dorthin überlegte ich fieberhaft, um was es wohl ging. Hatte er etwas gefunden, das Licht auf Leenas Tod oder die Identität ihres Mörders warf? Seine Formulierung – »als Anthropologe« – verwirrte mich jedoch. Was meinte er damit? Hatte er einen drei Jahrzehnte alten Hinweis oder Beweis ausgegraben? Einen bahnbrechenden Artikel über Höhlenbeerdigungen? Warum sollte es mich als Wissenschaftler mehr interessieren denn als Mensch, der über sämtliche Hügel von Cooke County geschleppt worden war – und auch in einige hinein?
Als ich vor dem berankten Bauernhaus vorfuhr, hatte ich den Eindruck, dass der Kudzu überall an den Rändern fast einen halben Meter mehr geschluckt hatte. O’Conner schien sich jedoch keine Sorgen zu machen. Er saß auf demselben Schaukelstuhl wie bei unserer ersten Begegnung. Er hob eine Hand zum Gruß, ohne seine weit ausholenden Schaukelbewegungen zu unterbrechen.
Ich stieg die ausgetretenen Stufen zur Veranda hinauf, und O’Conner gab der Armlehne des zweiten Schaukelstuhls neben sich einen Schubs, womit er diesen ebenfalls in Bewegung setzte. Ich passte den richtigen Moment ab und ließ mich darauf nieder. Mein Rhythmus passte sich rasch dem seinen an.
»Hey«, sagte ich. »Warum sind Sie nicht im Gefängnis? Der Sheriff hat schon vor Tagen gesagt, er würde Sie verhaften.«
Er kicherte. »Sie beobachten mein Haus in der Stadt. Von der Bleibe hier wissen sie noch nichts.«
Nach einer Minute langte er in seine Hemdtasche, holte ein Foto heraus und reichte es mir. Die Ecken waren abgestoßen, und die Farben waren im Laufe der Zeit verblasst, doch die hübsche blonde junge Frau, die in die Kamera lächelte, war unmöglich zu verwechseln. Es war Leena.
»Das hat sie mir geschickt, als ich in Übersee war. Der letzte Brief, den ich je von ihr bekommen habe.« Ich studierte ihr Gesicht; sie sah fast so aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte, bis auf den Hauch Traurigkeit und Angst in ihren Zügen, den ich nicht erwartet hatte. Vielleicht war es da schon schwierig für sie. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, es mir zu borgen, damit ich mir eine Kopie davon machen kann? Ich passe gut darauf auf.«
»Natürlich nicht. Alles, was hilft. Gibt es Fortschritte bei den Ermittlungen?«
»Eigentlich nicht. Es sei denn, man betrachtet den Einbruch in mein Büro und den Einsturz der Höhle als Fortschritte. Es könnte sein, dass einige verärgerte Studenten einen Anschlag auf mein Leben als einen Schritt in die richtige Richtung betrachten, aber es wirft kein Licht auf den Mord.«
»Vielleicht nicht direkt. Aber irgendjemand ist sehr nervös. Fürchtet wohl, Sie könnten noch mehr finden oder herausbekommen.«
»Nun, ich wünschte, ich wäre so klug, wie dieser Jemand denkt.«
»Die Antwort wird bald hochkommen. Sie müssen es nur eine Weile köcheln lassen.« Er stand auf. »Apropos kochen lassen, wie wäre es mit einer Tasse Tee?«
»Sicher, wenn Sie einen mittrinken.«
O’Conner verschwand durch die Fliegengittertür, kam eine Minute später wieder und reichte mir einen von zwei Keramikbechern – sie waren handgetöpfert und mit dem Abdruck eines Farns verziert. »Hübsche Becher«, sagte ich und erinnerte mich daran, was Kathleen mir über Formen und Glasierungen beigebracht hatte. »Örtlicher Töpfer?«
Er lächelte. »Örtlicher könnte er gar nicht sein. Die habe ich selbst gemacht. Alles, was Sie in der Hand halten, kommt von diesem Stück Land – der Ton, der Farn, das Quellwasser, der Honig und sogar der Tee.«
»Sie sind eine Ein-Mann-Biosphäre.«
»Ich bin gerne unabhängig, wo es geht. Seinen Bedarf an Nahrung und alltäglichen Gerätschaften selbst zu decken ist wohl auf einer tiefen Ebene sehr befriedigend, wenigstens für mich. Hilft einem Mann irgendwie, ehrlich zu bleiben.«
Für einen bekannten Banditen war O’Conner ein wahrer Renaissancemensch: Philosoph, Töpfer, Bienenzüchter, Teebauer. Ich nahm einen Schluck der dampfenden Brühe und schob ihn verdutzt im Mund herum – so einen Tee hatte ich noch nie getrunken. Unter dem Honig hatte er einen bitteren, felsigen Beigeschmack. Er schmeckte irgendwie nach Bergen und Blättern und Wurzeln und Frühling. »Das ist interessant. Könnte sein, dass ich es mag, aber ich bin mir nicht sicher. Was ist es?«
Er beugte sich ein wenig vor und quittierte das Beinahe-Kompliment mit einem Lächeln. »Ginseng. Die meisten Leute hier in der Gegend nennen es ›Sang‹. Macht einen klüger, gesünder, geiler und potenter, wenn man fünf Jahrtausenden chinesischer und indianischer Erfahrung glauben kann. Die Studentinnen an der University of Tennessee sollten sich morgen vor Ihnen hüten, Doc.« Bilder von Sarah und Miranda blitzten vor meinem geistigen Auge auf, und ich spürte, wie ich rot wurde. »Verstehe«, sagte O’Conner, »es wirkt schon.«
Ich lachte trotz der Peinlichkeit. »Na, klüger fühle ich mich jedenfalls noch nicht.«
»Diese Wirkung tritt erst ab der dritten, vierten Tasse ein. Es ist Tee, Doc, kein Wundertrank.«
Wir schaukelten und tranken unseren Tee. Jenseits des Tals kroch eine dicke Nebelwand über den Berg. Als sie auf die Morgensonne traf, die ihre Strahlen schräg über den Kamm hinter uns schickte, wurde der Nebel an den Rändern weich und dünn und löste sich dann auf. »Doc, glauben Sie, wir Menschen sind mehr als ein vorüberziehender Nebelfetzen?«
Wollte er etwa über Sterblichkeit reden? »Das hängt ganz davon ab, wie man es betrachtet, Jim.« Ich zeigte über das Tal. »Bevor er sich verflüchtigte, ist dieser Nebelfetzen über die Schierlingstannen etwa auf halber Höhe des Bergs getrieben. Ich würde sagen, diese Bäume wachsen deswegen ein bisschen besser. Vielleicht auch ein paar Farne am Fuß dieser Bäume. So trocken, wie das Wetter in letzter Zeit war, könnte es sogar sein, dass dieser Morgennebel den Farn am Leben hält. Wenn das nächste Mal ein Töpfer ein paar Farnwedel braucht, um sie in einen Tonbecher zu drücken …«, ich hob meine Tasse, um meine Worte zu unterstreichen, »dann sind sie da und warten auf ihn.«
Ich trank noch einen Schluck und musste feststellen, dass der Geschmack mir immer besser mundete. »Mir haben schon Studenten viele Jahre nach ihrem Abschluss, als sie längst für Medical Examiner oder Polizeireviere oder Museen arbeiteten, gesagt, ich hätte großen Einfluss auf ihre berufliche Laufbahn gehabt. Ich denke, wir alle hinterlassen einen Abdruck auf der Welt und bei den Menschen, deren Wege wir kreuzen, wenn auch manchmal auf eine Art und Weise, die wir nicht ganz verstehen.« Ich fuhr mit dem Finger den Abdruck des Farns nach. »Ich weiß, dass meine Frau einen mächtigen Abdruck bei mir hinterlassen hat. Und manchmal immer noch hinterlässt.«
Er wandte den Blick ab, und ich vermutete, dass er an Leena dachte. »Jim, als Anthropologe bin ich neugierig: Was wollten Sie mir zeigen? Ich nehme mal an, nicht nur Ihre Keramiken.«
»Nicht nur die Becher, aber sie sind nicht ganz unwichtig. Sind Sie je der Frage nachgegangen, welchen Preis wir Menschen dafür bezahlen, das magische Elixier zu finden, Doc? Den biochemischen Kraftstoffzusatz, könnte man sagen, der die Sache für uns regelt? Verblödende Dinge wie Alkohol und Pot? Oktanbooster wie Kokain, Methadon oder Ecstasy?«
Ich nickte. »Das ist interessant. Aber nicht nur Menschen – Tiere auch. Elefanten schlemmen gegärtes Obst, um betrunken zu werden. Genau wie Orang-Utans und Schimpansen. Würde mich nicht überraschen, wenn es in irgendeiner kalifornischen Kommune einen kiffenden Schimpansen gäbe. Ich habe jedoch noch keine Studie darüber gemacht.«
»Ich schon, in gewisser Weise«, sagte er. »Nicht unbedingt wissenschaftlich, sondern eher von der finanziellen Seite. Die Leute zahlen sehr viel Geld für etwas, wodurch sie sich gut fühlen, gut aussehen oder beim Sex länger hart bleiben. Hier oben in Cooke County gibt’s Leute, die haben nicht mal ’nen Topf zum Reinpissen, wie mein Vater immer gesagt hat. Aber einige von ihnen tauschen Lebensmittelmarken gegen Pot oder Methadon. Wer zur Verfügung stellt, was verlangt wird, kann ’nen Haufen Geld verdienen.«
Ich dachte an die Fragen, die die FBI- und DEA-Beamten mir über O’Conner gestellt hatten. »Manche Leute denken, Sie würden das Zeug liefern«, sagte ich. »Schier unmöglich, sich nicht darüber zu wundern, was wohl über einen so gut gepflegten und so sorgfältig getarnten Schotterweg transportiert wird.«
Seine Augen glitzerten gereizt, und ich fragte mich, ob ich einen Nerv getroffen hatte. »Sie haben recht; der Handel mit exotischen Substanzen hat in den Bergen hier Tradition. Vielleicht ist er sogar so etwas wie ein Geburtsrecht. Mein Vater hat zwanzig Jahre lang eine Whiskeydestillation betrieben. Als Kind gehörte es zu meinen Aufgaben, das Eichenholz zu hacken, das verbrannt wurde, um die Maische zu kochen.« Er schüttelte den Kopf. »Am Ende hat das verdammte Ding ihn umgebracht – es war jedenfalls der Grund, warum er umgebracht wurde, was wohl auf dasselbe hinausläuft.« Er schaute in seinen Becher und schwenkte den Tee herum. »Drüben in Vietnam habe ich ziemlich viel Dope geraucht; viele haben auch härtere Drogen genommen. Wenn wir nicht auf Patrouille waren – zum Teufel, manchmal sogar wenn wir auf Patrouille waren –, waren wir total high. Hat geholfen, es erträglich zu machen, obwohl ich schwöre, dass ich nicht weiß, wie einer von uns da lebend wieder rausgekommen ist.« Er atmete tief durch. »Als ich nach Hause kam, fing ich an, Marihuana anzubauen. Und zu verkaufen.«
Er schwieg, und ich merkte, dass er in meiner Achtung sank. »Aber das Witzige war, Doc, dass es gar nicht lange dauerte, da gefiel mir nicht mehr, was ich tat und wer ich dadurch wurde.« Meine Meinung über ihn stoppte ihren freien Fall und schwebte in der Luft. »Cooke County ist eine raue Gegend, Doc. Die Leute hier oben haben es schwer, selbst wenn sie ihr Leben auf die Reihe kriegen. Macht man sie abhängig, ist das so ziemlich die Garantie dafür, dass sie überhaupt nichts mehr auf die Reihe kriegen. Ich fand das nicht besonders gutnachbarlich.«
Ich lächelte. »Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Aber das sind nicht alle.«
»Nicht jeder kann es sich leisten. Manche Menschen haben weder die Kenntnisse noch die Gelegenheit, etwas anderes zu tun, als Pot anzubauen und Sozialhilfe zu kassieren. Ich kann für niemanden sein Leben führen; mit meinem eigenen klarkommen zu müssen reicht mir völlig. Ich mache mir nicht viele Gedanken darum, was legal ist und was nicht, aber ich möchte mein Geld nicht mit Marihuana verdienen.«
»Und was bleibt Ihnen dann? Ein Rebell ohne gute Sache? Ein vogelfreier Bauer ohne eine Feldfrucht, die er verkaufen kann?«
Einfach so erhellte ein sonniges Grinsen seine Miene. »Wie gesagt, ich denke, Sie werden es interessant finden.« Er nahm mich am Arm, führte mich ins Haus, durch ein spärlich möbliertes Wohnzimmer und eine überraschend moderne Küche dahinter, dann hinaus auf eine von Kudzu überwucherte hintere Veranda. Von dort unter dem Blätterdach sah ich etwas, was vor dem Haus vollkommen unsichtbar war: Die hintere Veranda war der Zugang zu einem weiteren Kudzutunnel. Quasi die Wohnzimmerversion der gut getarnten Zufahrt.
»Was ist denn das? Ihr Fluchttunnel?« Er antwortete nicht, sondern zog mich nur weiter mit sich, von der Veranda hinunter durch eine Art Laube oder Spalier, rund fünfzig Meter lang. Dann öffnete sich der Tunnel, und ich fand mich auf einem riesigen offenen Acker von der Größe mehrerer Footballfelder, der mit einem Gitter aus Telefonmasten durchzogen war. Die Masten stützten ein wirres Netz aus Kabeln, und die Kabel stützten einen riesigen Kudzubaldachin, der das Licht filterte und alles grün tönte. Es wirkte fast, als wären wir in einer Kuppel unter dem Meer, so grün und außerirdisch kam es mir vor. Zu unseren Füßen erstreckten sich über, wie es mir vorkam, das halbe Tal ordentliche Reihen von kniehohen Pflanzen mit flaumigen Blättern, die geformt waren wie spitze Tränen. Auf jedem Blätterbüschel saß eine Traube roter Beeren.
Ich pfiff leise. »Da bekommt der Begriff ›grüner Daumen‹ doch eine ganz neue Bedeutung«, sagte ich. »Was bauen Sie unter dem ganzen Kudzu an? Sieht mir nicht aus wie Cousin Verns Pot-Pflanzen.«
»Sang«, sagte er. »Zehn Morgen Ginseng. Straßenverkaufswert ungefähr drei Millionen Dollar, wenn ich es jetzt gleich ernte. Wenn ich noch ein Jahr warte, vier Millionen Dollar. Im Jahr danach fünf.«
Ich konnte ihm nicht recht folgen. »Straßenverkaufswert? Sie reden, als wäre es illegal. Ist es illegal?«
Er lachte. »Tut mir leid; alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab. Es ist vollkommen legal, Ginseng anzubauen, aber dieser Ginseng ist anders als aller anderer Sang auf der Welt.«
»Wie das?«
»Ur-Ginseng«, sagte er. »Nicht aller Ginseng ist gleich. Es gibt einen riesigen Markt für Sang, hauptsächlich in China. Die kultivieren ihn dort seit Jahrhunderten. Aber der wahre chinesische Kenner rümpft die Nase über das, was sie dort anbauen. Amerikanischer Ginseng – wilder amerikanischer Ginseng, wohlgemerkt, auch bekannt als schwarzer Ginseng –, das ist die Auslese. Frühe jesuitische Missionare haben ein Vermögen damit verdient, schwarzen Sang nach China zu verschiffen; genau wie die Astors aus New York. Selbst Daniel Boone hat ganze Bootsladungen davon verkauft.« Seine Hausaufgaben hatte er jedenfalls gemacht.
»Ginseng wächst wunderbar hier in den Smoky Mountains«, fuhr er fort. »Liebt Nordhänge mit viel Schatten, einen Boden mit dem richtigen PH-Wert und eine spezielle Mineralienzusammensetzung. Einige der besten Stellen haben sogar Namen – ›der Zuckertopf‹ und ›die Goldmine‹ zum Beispiel. Erstklassige Stellen, selbst im Nationalpark, werden als Familienerbstücke betrachtet, als Familienvermögen. Die Lage dieser Stellen wird streng geheim gehalten, und ein paar von den Alten würden nicht zögern, jemanden zu erschießen, den sie dabei erwischen, wie er ›ihre‹ Stellen plündert. Vor ein paar Jahren wurden bei einer Razzia gegen Ginseng-Wilderer in der Nähe von Fontana Lake in dem Teil des Parks, der in North Carolina liegt, zwei Parkranger in einen Hinterhalt gelockt und getötet.«
»Ich erinnere mich daran, das hat in der Zeitung gestanden. Ich wusste gar nicht, dass Parkranger so ein gefährlicher Beruf ist.«
»Viele Familien in den Bergen sind immer noch nicht gut auf die Regierung zu sprechen, weil sie ihnen ihr Land weggenommen hat, um den Nationalpark einzurichten. Und den Sang graben sie auf jeden Fall weiter aus.« Er schüttelte den Kopf. »Die Sache ist nur, dass das Glück nicht lange währt. Eine wilde Ginsengwurzel braucht zehn oder fünfzehn Jahre, bis sie ausgewachsen ist; mit einem gegabelten Stock oder einem Schraubenzieher braucht man keine zwei Stunden, um Hunderte davon auszugraben. Ganze Hänge im Park sehen aus wie von Wildschweinen durchpflügt.«
»Aber wenn er angebaut werden kann«, sagte ich und wies über das Feld, das sich vor uns erstreckte, »warum bauen die Leute ihn nicht einfach an, statt ihn zu klauen?«
»Dafür gibt es gleich mehrere gute Gründe. Erstens ist Ginseng verdammt empfindlich. Ich versuche es schon gut zehn Jahre mit dem Anbau, mit Unterstützung einiger sehr guter Pflanzenkenner, und jetzt allmählich habe ich den Dreh raus. Zweitens ist es nicht wie bei Marihuana, bei dem man in einer einzigen Wachstumsperiode einen riesigen Profit rausschlagen kann. Ginseng muss man mindestens vier Jahre im Boden lassen, bevor man ihn ernten kann, und in der Zeit erzielt man daraus keinen einzigen Cent. Der Hauptgrund ist jedoch das Preisgefälle.«
O’Conner langte in eine tiefe Seitentasche seiner grauen Cargohose, holte eine Wurzel heraus und reichte sie mir. »Ginseng, nehme ich an?« Er nickte. Die Wurzel hatte vier Verzweigungen, die in Lage und Proportionen auffällig Armen und Beinen des Menschen entsprachen. Sie sah buchstäblich aus wie ein Strichmännchen.
»Man sieht leicht, warum sowohl Chinesen als auch Indianer ihn ›Menschenwurzel‹ genannt haben, was?«
»Ja, allerdings. Fehlt nur der Kopf.«
»Sehen Sie sich die Struktur an.« Ich betrachtete die Wurzel genauer; sie war glatt und fleischig, ähnlich einer Möhre oder Süßkartoffel. »Die stammt aus Wisconsin, wo der größte Teil des kultivierten Ginsengs für den Export nach China angebaut wird.«
»Wisconsin? Der ›Iss Käse oder stirb‹-Staat?«
Er lachte. »Diese Wurzel aus Wisconsin wiegt ungefähr hundert Gramm und ist rund fünf Dollar wert.« Er angelte in einer anderen Tasche und reichte mir eine zweite Wurzel. Diese war schlanker, dunkler und knubbeliger und vom Hals bis zu den Spitzen der vier Verästelungen liefen rundherum Ringe oder Einschnürungen. »Das ist wilder schwarzer Sang. Den hat Waylon ausgegraben; wo, wollen wir wahrscheinlich gar nicht so genau wissen.«
Ich wog ihn in der Hand. Er war etwa genauso schwer wie der andere, vielleicht ein paar Gramm leichter.
»Für den bekommen Sie zweihundert Dollar«, sagte er. Ich schaute von einer Wurzel zur anderen und versuchte dahinterzukommen, wieso die eine vierzig Mal mehr wert sein konnte als die andere. O’Conner nahm sie wieder an sich. »Wilder Ginseng ist potenter, zumindest wird er von den Leuten, die ihn kaufen, so empfunden.«
»Ah, die Hexerei des freien Markts«, sagte ich.
Er nickte. »Man braucht kein Wirtschaftsstudium, um sich auszurechnen, dass es einen verdammt guten Profit für null Investition gibt, diese Wurzel in der Wildnis auszugraben. Natürlich zählen die Ginseng-Wilderer nicht die Umweltschäden, die gelegentlichen Geldstrafen und den einen oder anderen Mord.«
Ich zeigte auf die kultivierte Wurzel. »Aber Sie haben einen Weg gefunden, mit denen zu fünf Dollar das Stück reich zu werden?«
O’Conner bückte sich und zog eine seiner eigenen Pflanzen heraus. Er wischte die Erde ab, eine seltsame Mischung aus dunklem Lehm, weißen Styroporkügelchen und schleimiger Schmiere. »Hydrophiles Gel«, sagte er und wischte zuerst die Wurzel ab und dann die Hände an seinen Hosenbeinen. »Schleimig wie Rotz, aber es reduziert meine Bewässerungskosten um dreißig Prozent.« Er reichte mir die Wurzel. Sie war knubbelig und voller Einkerbungen.
Ich blinzelte verdutzt. »Wie … Sie verpflanzen wilde Setzlinge?« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht«, sagte ich. »Sie bauen das hier an?« Er nickte. »Aber das sieht aus wie wilder Ginseng.«
»Bingo. Ich kultiviere hier keinen Ginseng für zwanzig Dollar das Pfund, Doc; ich baue wilden Sang für tausend Dollar das Pfund an. Wenn es wie wilder Sang aussieht und wie wilder Sang wirkt, dann verkaufe ich es auch als wilden Sang.«
Wenn die ganzen zehn Morgen so echt aussahen, dann war sein Plan an Verwegenheit und Scharfsinn nicht zu übertreffen. »Wie kommt es, dass Sie solche Wurzeln anbauen können und die Käseköpfe oben in Wisconsin nicht?«
»Ich würde es Ihnen ja erzählen, Doc, aber danach müsste ich Sie umbringen.« Als er meinen Blick sah, schnaubte er und klopfte mir beruhigend auf die Schulter. »Wie gesagt, ich hatte Hilfe von einigen großartigen Botanikern. Wir haben einen Weg gefunden, den Pflanzen während der Wachstumsperiode in regelmäßigen Abständen einen chemischen und thermischen Schock zu versetzen – nicht so stark, um ihnen wirklich zu schaden, aber gerade genug, dass sie diese Einschnürungen ausbilden. Das ist, als würde man neues Holz bleichen und mit grobem Schrot beschießen, damit es wie verwittertes, wurmstichiges Holz aussieht. Dadurch braucht die Pflanze ein Jahr länger, um zu einer reifen, an die menschliche Gestalt erinnernden Wurzel heranzuwachsen, aber dieses zusätzliche Jahr zahlt sich zehnfach aus, wenn wir ernten.«
»Haben Sie das Zeug schon an Käufern getestet?«
Er grinste. »Da war ich einen Teil letzter Woche. Nicht nur bei Käufern, sondern auch bei Chemikern. Die Chemiker sagen, es entspricht in seiner Zusammensetzung exakt wildem schwarzem Ginseng. Die Exporteure sagen, sie nehmen alles ab, was ich liefern kann.«
Plötzlich ergab die ganze Geheimniskrämerei Sinn. »Dann dienen die Kudzutarnung und die versteckte Straße … Sie halten die Operation geheim, damit niemand erfährt, dass Sie das Zeug hier anbauen?«
Er nickte. »Zudem sorgt der Kudzu für den Schatten, den der Ginseng braucht. Ich schätze, meine Deckung fliegt in ein paar Jahren auf, aber bis dahin habe ich etliche Millionen Dollar verdient. Aber selbst wenn ich irgendwann mit dem Preis runtergehen muss, bin ich den Käseköpfen immer noch weit voraus. Ich meine, sehen Sie sich an, was die produzieren.« Er wies verächtlich auf die glatte Wurzel in meiner Hand. »Das ist wie eine Supermarkt-Tomate – die richtige Größe und Farbe, aber ein trauriger Ersatz für das am Stock gereifte Original. Schwarzer Ginseng aus Cooke County – ich habe mir den Namen schon als Warenzeichen eintragen lassen – wird die Vidalia-Zwiebel des Ginseng. Die Leute werden immer mehr dafür bezahlen, weil es der beste Ginseng ist, den es gibt. Wenn Marketing und Vertrieb so laufen wie geplant, schaffen wir in zwei Jahren hundert Arbeitsplätze. Vielleicht tragen wir auch dazu bei, die Wilderei in den Smokies zu reduzieren, und das wäre etwas, worauf man stolz sein könnte.«
»Sie widersetzen sich ja allen Erwartungen, Jim«, sagte ich. »Der Hinterwäldler wird niemals mehr derselbe sein.«
Doch O’Conner hörte mir nicht mehr zu. Er war plötzlich einen Schritt zur Seite getreten und hatte den Kopf Richtung Haus geneigt. Jetzt legte er beide Hände hinter die Ohren, um mehr von dem aufzufangen, was er zu hören glaubte. »Verdammt«, sagte er bei sich und lief in den Kudzutunnel.
Als er durch die Hintertür im Haus verschwand, hörte ich es selbst. »Verdammt.« Ich fing ebenfalls an zu rennen.
Als ich auf der vorderen Veranda stand, war aus dem fernen Geräusch das charakteristische, rhythmisch drohende Knattern eines Hubschrauberrotors geworden. Wenn ich nicht völlig danebenlag, dann wurde der Hubschrauber von Chief Deputy Orbin Kitchings geflogen.
O’Conner starrte, die Augen mit einer Hand abschirmend, auf die Öffnung seines hängenden Tals. So wie das Dröhnen an den Felswänden widerhallte, kam der Hubschrauber im Tiefflug rasch auf uns zu. Plötzlich kam er in Sicht, stieg aus der Schlucht am unteren Ende des Tals auf, fast als erhöbe er sich aus der Erde selbst. Schwarz mit goldenen Zierleisten war es unverkennbar der Jet-Ranger des Sheriffs, und er flog direkt auf uns zu.
O’Conner fluchte noch einmal. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um etwas Beruhigendes und wahrscheinlich völlig Unangebrachtes zu sagen, als ein Knall die Luft zerriss. »Mein Gott, da schießt jemand!« O’Conner blickte an der Felswand hoch, die an einer Seite am Haus vorbeilief. Als ein weiterer Schuss losging, sah ich, dass vom Heckausleger des Hubschraubers Funken stoben. »Oben auf der Felswand«, sagte er. »Das ist ein Hochleistungsgewehr. Das sind keine Warnschüsse – jemand versucht, ihn runterzuholen.«
Als hätte der Pilot ihn gehört, blieb der Hubschrauber mitten in der Luft stehen, drehte scharf nach links und kam in wildem Zickzack auf uns zugeflogen. Ich erinnerte mich daran, dass Orbin Pilot bei der Armee gewesen war, und hoffte, dass er noch so viel aus seiner Gefechtsausbildung drauf hatte, dass er den Scharfschützen ausmanövrieren konnte.
In meinem Kopf drehten sich etliche Rädchen wie wild, und ich dachte zurück an meine Exkursion zum Pot-Feld mit Waylon und an den Zorn, der ihn überkommen hatte, als Orbin Vernons Hund erschossen hatte. »Wir müssen Waylon finden«, sagte ich drängend. »Wo ist Waylon?« Zum Glück fuhr plötzlich wie von Zauberhand Waylons Pick-up vor der Veranda vor. O’Conner winkte hektisch und zeigte auf den Kamm, da blitzte auch schon ein weiteres Mündungsfeuer auf. Ohne ein Wort bretterte Waylon zur Waldgrenze, sprang aus seinem Wagen und lief den Berghang hinauf.
Während weitere Kugeln den Hubschrauber trafen, flog dieser im Zickzackflug auf den Punkt zu, von wo die Schüsse kamen, als wollte Orbin seinem Angreifer Auge in Auge entgegentreten. Funken flogen, als eine Kugel vom Hauptrotor abprallte. Plötzlich wurde die Windschutzscheibe von einem Spinnennetz feiner Risse überzogen, und die Kunststoffkuppel barst. Der Hubschrauber schien überrascht hochzuhüpfen, dann schoss er nach vorn, rollte nach links und stürzte zu Boden.
Als er aufschlug, brach er mit erstaunlich geringem Widerstand in sich zusammen. Die Reste der Plexiglashaube fielen in Stücke, der Heckausleger knüllte sich zusammen wie eine Pappröhre. Dem Aufprall folgte eine fast allumfassende Stille – ein paar wenige ächzende Nachbeben, sonst nichts. Aus irgendeinem Grund erwartete ich Lärm und Sirenen, und so wirkte die Stille unheimlich und falsch. Als O’Conner und ich zu dem Wrack liefen, sahen wir plötzlich mächtige Flammen ausbrechen. Innerhalb weniger Sekunden umfing das Feuer das Cockpit und machte es für uns vollkommen unmöglich, uns ihm zu nähern – und für Orbin unmöglich, darin zu überleben.
O’Conner schirmte sich mit der Hand das Gesicht ab und linste in die Flammen. »Gütiger Himmel. Was für eine verdammte Sauerei. Was zum Teufel ist hier los, Doc?«
»Ich wünschte, ich wüsste es. Immer wenn ich denke, schlimmer kann’s hier oben nicht mehr kommen, kommt’s noch ärger. Im Laufe der Jahre habe ich ja ziemlich viel Schlechtes über Cooke County zu hören gekriegt. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass das alles weit untertrieben war.«
O’Conner holte ein Satellitentelefon heraus – der nächste Mobilfunksender lag hinter mehreren Bergketten – und wählte die Nummer der Dienststelle des Sheriffs. Er erklärte dem Beamten am Telefon, dass der Hubschrauber des Sheriffs gerade abgestürzt und ausgebrannt war und dass der Pilot tot war. Er gab ihm eine Wegbeschreibung, einschließlich einer Beschreibung des Kudzutunnels, die der Beamte ihn zu wiederholen bat. Auf Nachfrage hin nannte er ihm seinen Namen. Aber er sagte nicht, dass der Hubschrauber abgeschossen worden war, und er blieb auch nicht in der Leitung, wie der Beamte ihn bat, was ich zufällig mithören konnte. »Wenn sie herkommen, dann erzählen Sie ihnen von den Schüssen. Ich glaube, es wäre nicht klug, wenn ich noch hier wäre, wenn Tom Kitchings seinen Bruder tot in meinem Vorgarten findet.« Er wandte sich um und ging zum Haus.
Ich wollte ihm schon folgen, da kam Waylon aus dem Wald über die Lichtung auf mich zugestolpert. »Ist mir entwischt«, keuchte er. »Eine Stiefelspur führt an der Rückseite des Grats ins Tal – da unten ist ein alter Holzweg. Als ich oben ankam, habe ich unten im Tal eine Enduro wegfahren hören. Tut mir leid.« Er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und versuchte, zu Atem zu kommen. »Hab aber das hier gefunden.« Er angelte ein verknotetes Halstuch aus einer Tasche und öffnete den Knoten. Zum Vorschein kamen fünf Patronenhülsen aus Messing, ungefähr fünf Zentimeter lang, geformt wie Miniaturartilleriegeschosse. »Winchester-Munition Kaliber .30-30«, sagte er. »Einhundertfünfzig Grain und eine Mündungsgeschwindigkeit von rund siebenhundertdreißig Metern pro Sekunde. Die Munition wird von der Hälfte der Jäger im Land benutzt.«
»Waylon, haben Sie die angefasst?«
»Nein, Sir. Hab sie mit meinem Taschentuch hier aufgehoben.«
»Es könnten noch Fingerabdrücke drauf sein. Halten Sie sie fest, bis der Sheriff und seine Leute hier sind. Dann sorgen Sie dafür, dass jemand Ihnen dafür eine Quittung gibt.«
Zum ersten Mal, seit ich Waylon kannte, wirkte er plötzlich nervös. »Doc, es wäre, glaube ich besser, wenn Sie die dem Sheriff geben und nicht ich«, sagte er. Ich runzelte verdutzt die Stirn. »Er wird auf Vergeltung aus sein, und es könnte für meine Gesundheit sehr abträglich sein, wenn ich ihm die geben würde. Kann ich sie nicht Ihnen geben, und Sie geben sie ihm?«
»Sicher.« Ich nahm das Bündel und knotete es wieder zusammen. Dann holte ich ein kleines Notizbuch aus der hinteren Hosentasche und kritzelte zwei behelfsmäßige Quittungen. Eine unterzeichnete ich und gab sie Waylon; die andere steckte ich für später weg, um sie mir von demjenigen unterschreiben zu lassen, dem ich die Hülsen übergeben würde. »Bewahren Sie das an einem sicheren Ort auf«, sagte ich. Er nickte.
Ich sah mich suchend nach O’Conner um, doch der war nirgendwo zu sehen.
»Klang so, als würde Jim sich ein Weilchen rar machen«, sagte ich.
»Gute Idee. Mich mögen die Kitchings auch nicht besonders, aber Jim sind sie noch sehr viel unfreundlicher gesonnen.«
»Glauben Sie, sie finden ihn?«
»Nein, nicht wenn er nicht gefunden werden will. Zum Teufel, er war Army Ranger, und er ist in den Bergen hier aufgewachsen. Er könnte sich, wenn er wollte, für den Rest seines Lebens hier irgendwo verstecken und sich von dem Land ernähren.«
Wahrscheinlich hatte er recht. »Hey, Waylon?«
»Ja, Doc?«
»Ich bin froh, dass Sie nicht da oben waren und geschossen haben.«
Eine ganze Reihe Gefühle spiegelten sich in rascher Abfolge in seiner Miene. »Ich auch, Doc. Aber andererseits bin ich’s auch wieder nicht. Wissen Sie, was ich meine?«
Ich wusste nur zu gut, was er meinte.