7

Eine Stunde, nachdem sich die walnussgetäfelte Tür des Strafgerichts von Knoxville hinter mir geschlossen hatte, öffnete sich vor mir die Edelstahltür des Kühlraums im rechtsmedizinischen Institut. Der Raum war mir so vertraut wie meine eigene Küche, und ich fühlte mich hier genauso zu Hause. Oder nein: Ich fühlte mich hier sogar mehr zu Hause, dämmerte mir, als ich mich daran erinnerte, wie viele Stunden ich in der vergangenen Nacht auf und ab gegangen war, um den schmerzlichen Verlust von Kathleen zu vergessen. Hier hatte ich wenigstens die Kontrolle; hier war der Tod immer nah bei der Hand, aber niemals nah bei mir zu Hause; hier starrten mich nur anonyme Fremde mit leblosen Augen an.

Ich zog die fahrbare Trage mit der Leiche meiner Höhlenfrau, wie ich sie inzwischen nannte, heraus und rollte sie den Flur hinunter zum Faulleichen-Séparée. Dort parkte ich die Trage parallel zur Wand, rollte ein Ende gegen die Seite eines großen Edelstahlspülbeckens und klinkte die großen Metallhaken der Trage an den Halterungen am Beckenrand fest.

In dem Augenblick kam Miranda – ganz bezaubernd anzusehen in einem frischen grünen Kittel – mit einem Tablett mit Instrumenten herein: Skalpelle, Sonden, Scheren, Pinzetten und, obwohl ich bezweifelte, dass wir sie brauchen würden, eine Stryker-Säge. Diese Autopsiesäge war wirklich ein geniales Elektrowerkzeug: Ihr fein gezähntes oszillierendes Sägeblatt konnte in einer Minute eine Schädeldecke öffnen, doch wenn man es versehentlich mit der Fingerspitze berührt, spürt man nichts Schlimmeres als ein Kitzeln, ohne dass die Haut das geringste bisschen verletzt wurde. Ich habe bestimmt bereits hundert Mal damit gearbeitet, und jedes Mal habe ich zuerst das schwingende Sägeblatt an den Handballen gedrückt und die Genialität des Geräts bewundert.

»Wie ich sehe, spielen Sie mal wieder mit Ihrem Lieblingsspielzeug«, sagte Miranda.

»Simple Freuden für simple Gemüter. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie ähnlich die Bewegungen dieses Sägeblatts denen einer elektrischen Zahnbürste sind?«

»Autsch«, sagte sie. »Auf die Art verlieren Sie schnell mal ein paar Zähne.«

»Ich weiß, dass man die zwei nicht unbedingt verwechseln sollte. Aber ich wüsste doch gern, was zuerst da war, die Zahnbürste oder die Säge?«

»Ich glaube, das Ei war zuerst da«, sagte sie. »Dann das Küken. Dann die Autopsiezahnbürste.«

»Okay, verstehe, machen wir weiter«, sagte ich. »Haben Sie die Röntgenaufnahmen?«

»Auf der anderen Seite des Flurs im Labor. Bin sofort wieder da.«

Ich zog den Reißverschluss des Leichensacks auf und staunte einmal mehr darüber, wie vollständig sich das Fleisch in die wächsernen Züge einer Mumie verwandelt hatte. In einigen Kulturen würde man einen Leichnam in diesem Zustand als »unzerstörbar« betrachten – als heiliges Relikt oder als Körper einer Heiligen, die womöglich fähig war, Wunder zu wirken. Man würde ihm einen Schrein bauen, zu dem die Kranken und Verkrüppelten zu Tausenden strömten in der Hoffnung, geheilt zu werden. Und all das nur wegen eines trickreichen Zusammenspiels von Fett, Feuchtigkeit und Temperatur. Doch wie konnte ich es als einfachen Trick abtun? Vielleicht war es doch mehr als das? Schließlich lag sie hier, vollkommen konserviert, und wartete darauf, entdeckt zu werden. Wartete darauf, identifiziert zu werden. Wartete geduldig darauf, ihre Geschichte zu erzählen und um Gerechtigkeit zu bitten. Falls es ein chemischer Trick war, dann war es ein sehr raffinierter Trick.

Normalerweise wäre der erste Schritt, die Kleidung von der Leiche zu entfernen, doch die Kleider waren zu morschen Fetzen zerfallen, die in die Adipocire verwoben waren. Wenn die Adipocire sich löste, würden auch die Stofffetzen sich lösen. Ich würde am Kopf anfangen und mich dann nach unten vorarbeiten.

Mein Blick schweifte zum Hals, und etwas dicht darunter erregte meine Aufmerksamkeit – eine leichte Ausbuchtung am oberen Rand der Brust. In diesem Augenblick brachte Miranda die Röntgenaufnahmen herein. »Sehen Sie«, sagte ich, »ich glaube, sie trägt etwas um den Hals.« Sie beugte sich vor, und wir beide studierten das, was ein flacher, länglicher Anhänger zu sein schien, der unter einer Schicht von Adipocire verborgen war. Die Kette oder Schnur, an der er einst gehangen hatte, war längst zu einer grünlichweiß oxidierten Linie zerbröselt, die um den wächsernen Hals herumführte.

»Oh, das«, sagte sie. »Das habe ich schon auf den Röntgenbildern gesehen.« Ihre Stimme hatte einen seltsamen Unterton. Oberflächlich klang sie gleichgültig – fast gelangweilt –, doch darunter zitterte sie fast vor Aufregung. Ich wartete. Nach einer quälend langen Pause fügte sie hinzu: »Und das ist nicht alles, was ich auf den Röntgenbildern gesehen habe.« Sie schaltete an der Wand neben der Tür einen Röntgenbildbetrachter ein und schob die Aufnahmen in die Halterungen. Ihr Kopf versperrte mir die Sicht.

Sie drehte sich zu mir um, immer noch die Sicht versperrend, und lehnte sich dann, den Blick fest auf meine Augen gerichtet, zur Seite, um mir das Bild zu zeigen. »Heilige Maria, Mutter Gottes«, flüsterte ich.

»Nun, so sollten Sie es wohl besser nicht im Bericht formulieren, aber es hat durchaus einige Beachtung verdient.«

»Machen wir uns an die Arbeit.«

Wir wandten uns wieder der Fahrtrage und der wartenden Leiche zu. Die Haarmatte war auf dem Schädel nach hinten gerutscht, sodass der Haaransatz oben über den Kopf verlief. Obwohl das Haar mit Adipocire verfilzt und von Schimmel verfärbt war, war an einzelnen Stellen noch zu erkennen, wie fein und strohblond es ursprünglich gewesen war. Die Ohren waren größtenteils verschwunden – sie hatten keine stützenden Knochen und waren nach und nach zusammengefallen und mit dem wächsernen Gewebe am Schädel verschmolzen. Das Gesicht war wie eine Maske: Die Adipocire hatte sich leicht von den darunter liegenden Knochen gelöst, was schaurig aussah, als hätte sich ein Skelett für einen skurrilen Maskenball der Toten als Mumie verkleidet. Obwohl die Lippen zu einem ewigen Schrei geöffnet waren, lagen die Zähne fest aufeinander. Die Augenhöhlen waren mit klumpigen Wachsscheiben gefüllt, die blind zu mir und Miranda aufsahen und in das grelle Neonlicht zu starren schienen, das die samtige Schwärze der Höhle abgelöst hatte.

Die Trage hatte rundherum einen Rand aus Edelstahl sowie am Fußende einen Ablauf mit einem feinen Sieb. Da die Trage fest eingerastet war, hing der Ablauf direkt über dem Waschbecken – eine morbide, aber einfallsreiche Konstruktion, ersonnen von einem Menschen, der mehr Spritzer verwesten Gewebes von Wänden und Fußböden gewischt hatte als sonst jemand in der Welt: von mir. An einem Wandarm hing eine Handbrause, genauso eine wie in meiner Küche. Ich drehte das Wasser nur ganz leicht auf, um wenig Druck zu haben, stellte die Temperatur aber auf fast kochend. Die Beschaffenheit der Adipocire lag irgendwo zwischen Wachs und Seife. Heißes Wasser würde sie auflösen wie ein Stück Seife in einem Whirlpool.

Sanft ließ ich das Wasser über das Gesicht laufen. Zuerst tat sich nichts – die Adipocire war kalt und fast steinhart –, doch allmählich wurde sie weicher und verflüssigte sich, dann tropfte sie schmierig durch den Ablauf in das Waschbecken. In der Höhle war mir so gut wie kein Geruch aufgefallen, und auch vor wenigen Augenblicken, als ich den Leichensack geöffnet hatte, war noch nichts zu riechen gewesen, doch als das heiße Wasser die Adipocire auflöste, stieg Verwesungsgestank auf, überlagert von dem ätzenden Gestank nach Ammoniak.

In weniger als einer Minute war der Klumpen, der einst die Nase war, verschwunden und die Nasenöffnungen im Schädel freigelegt. Kaum viel länger brauchten Jochbögen und Jochbeine, um unter den geschmolzenen Wangen aufzutauchen. Als Nächstes wurden Maxilla und Mandibula sichtbar, Ober- und Unterkiefer. Als das Gewebe, das die Mandibula mit dem Schädel verband, sich auflöste, hielt ich den Knochen mit der linken Hand fest, bis er ganz frei war, dann reichte ich ihn Miranda, die ihn hinter sich auf eine mit flüssigkeitaufsaugenden großen Watte-Pads ausgelegte Arbeitsfläche legte. Sobald ich die Adipocire von den Knochen abgewaschen hatte, würden wir eine erste Untersuchung des ganzen Skeletts vornehmen, um die ethnische Zugehörigkeit zu bestimmen sowie Körpergröße und Geschlecht einzuschätzen. Dann würde Miranda die Knochen in einem Bottich heißen Wassers (versetzt mit einem Schuss Adolph’s Fleischzartmacher und ein wenig Biz-Waschmittel, um den Prozess anzustoßen) kochen. Danach würden wir sie schließlich vorsichtig mit einer Zahnbürste abbürsten, um sämtliches Gewebe zu entfernen.

Nachdem ich die Gesichtsknochen freigelegt hatte, richtete ich den Wasserstrahl von oben seitlich auf den Schädel und löste so peu à peu die Haarmatte, als würde ich die Leiche der Frau auf absonderliche Weise mittels Wasser skalpieren. Als die Matte sich ganz gelöst hatte, spülte ich den Schädel weiter ab, um Kopfhautrückstände vollständig zu entfernen. Miranda hob das feuchte Haarknäuel hoch, drückte das meiste Wasser aus und legte es zum Trocknen auf die Watte-Pads.

Wie seltsam, dachte ich, als ich den Oberkiefer genauer betrachtete. Die Frau hatte keine oberen seitlichen Schneidezähne; die beiden Zähne links und rechts der beiden Vorderzähne fehlten. Ich entdeckte weder einen besonderen Zwischenraum zwischen den mittleren Schneidezähnen und den Eckzähnen, noch Anzeichen dafür, dass der Kieferknochen irgendwelche Lücken geschlossen hatte. Sie hatte sie also nicht verloren; sie hatte nie welche gehabt. Anomale Nichtanlage von Zähnen, wie man das nannte, war ziemlich selten, doch es kam vor. Ich sagte nichts, denn ich wollte sehen, ob es Miranda auffallen würde. Wenn ja, würde sie es erwähnen.

Nachdem der Unterkiefer entfernt war, wurde jetzt das obere Ende der Wirbelsäule sichtbar. Ich richtete den Wasserstrahl auf den ersten und zweiten Halswirbel, um sie ganz freizulegen. Der erste Halswirbel war kaum mehr als ein Knochenring – eine Art Distanzstück oder Unterlegscheibe; der zweite Halswirbel trug eigentlich die Last des menschlichen Kopfes, ein Gewicht von um die fünf Kilo. »Okay, entfernen wir den Schädel«, sagte ich. Miranda nickte und stellte sich ans Ende des Tisches.

Sie packte den Schädel mit beiden Händen und kippte ihn leicht nach hinten, um die Gelenke zwischen den Wirbeln zu öffnen. Ich nahm mir vom Instrumententablett auf der Arbeitsfläche ein Skalpell, schob es behutsam in den Zwischenraum und bewegte es vor und zurück, um die restlichen Knorpelteile zu trennen. Die Lücke wurde größer, dann löste sich der Schädel und Miranda hatte ihn in Händen. Sie hielt ihn über das Waschbecken, damit er abtropfen konnte, dann trug sie ihn zur Arbeitsfläche und legte ihn ab. Ich drehte das Wasser ab und trat zu ihr.

Wir studierten den Schädel eine Weile schweigend. »Sagen Sie mir, was Sie sehen«, forderte ich sie auf, wie ich es im Laufe der Jahre schon hundert Mal bei Studierenden getan hatte. Miranda griff nach dem Schädel und nahm die Herausforderung an.

»Nun«, begann sie in vorsichtigem, förmlichem Tonfall, »der Schädel ist zierlich und sehr glatt. Die Augenhöhlen sind scharfkantig, und der Augenbrauenbogen ist nicht sehr ausgeprägt« – hier unterbrach sie sich, um den Schädel zu drehen –, »ebenso wie der Hinterhauptshöcker am unteren Rand des Schädels. Meiner bescheidenen Meinung nach eindeutig der Schädel einer Frau.«

»Meiner Meinung nach auch.« Ich lächelte. »Und die Ethnie?«

»Die Mundpartie ist orthognath – also ganz vertikal ausgebildet, daher scheint sie mir nicht negroid zu sein. Keine nennenswerte Abnutzung der Kauflächen, also hatte sie keinen Kopfbiss, und die Schneidezähne sind eindeutig nicht schaufelförmig. Das schließt wahrscheinlich auch Indianer oder Asiaten aus, obwohl wir, um sicherzugehen, die Schädelmaße in ForDisc eingeben sollten.« ForDisc – die Abkürzung für »Forensic Discriminant Functions« – war ein an der University of Tennessee entwickeltes Computerprogramm, das aus Skelettdaten mit großer Genauigkeit und Exaktheit Alter, Ethnie, Geschlecht und Körpergröße einer nicht identifizierten Person errechnete. Miranda unternahm eine letzte Inspektion von Gesicht und Mund. »Ja, lehrbuchmäßig kaukasoid, würde ich sagen.«

»Würde ich auch sagen. Wie alt würden Sie sie schätzen?« Eine Fangfrage, doch Miranda zögerte keine Nanosekunde.

»Ungefähr zwanzig Jahre, zehn Monate, fünf Tage, siebzehn Minuten und zwei Sekunden«, ratterte sie herunter. Ich starrte sie verdutzt an, und sie lachte. »Erwischt. Sie wissen, dass ich das nicht sagen kann, bevor wir nicht die Schlüsselbeine und die Schambeinfuge gesehen haben.« Sie musterte die Zickzacknähte des Schädels. »Die Schädelnähte sind noch nicht verknöchert, also ist sie eher jung. Die Weisheitszähne sind noch nicht raus, aber das heißt nicht viel – sie könnte zu den hochentwickelten Menschen gehören, deren Körper weiß, dass Weisheitszähne Vergeudung kostbaren Kalziums sind.« Sie neigte den Schädel nach hinten, um die Knochennähte der Gaumenplatte zu untersuchen. »Die Oberkiefernähte beginnen schon zu verknöchern, also ist sie erwachsen, nicht subadult. Aber ob sie achtzehn oder achtundzwanzig ist, kann ich erst sagen, wenn wir die Schlüsselbeine und das Becken mazeriert haben.« Sie unterbrach sich und fügte dann hinzu: »Nicht dass Sie danach gefragt haben, aber ich kann Ihnen auch sagen, dass der Schädel keine augenfälligen Anzeichen für Verletzungen aufweist, weder durch stumpfe Gewalt noch durch scharfe. Sie hat drei nicht gefüllte Löcher, was entweder auf niedrigen sozioökonomischen Status oder eingeschränkten Zugang zu zahnärztlicher Versorgung hinweist. Wahrscheinlich beides, wenn sie in Cooke County aufgewachsen ist. Und sie hat keine oberen seitlichen Schneidezähne, wahrscheinlich eher eine genetische Anomalie als Zahnverlust – der Oberkiefer zeigt keinerlei Knochenresorption, was der Fall wäre, wenn ein leeres Zahnfach sich allmählich verfüllt hätte.« Gütiger Himmel, sie war wirklich gut! Miranda würde einmal eine ausgezeichnete forensische Anthropologin werden, falls sie nicht vorher von irgendeiner schicken medizinischen Hochschule abgeworben wurde.

»Großartiger Anfang«, sagte ich, »machen wir weiter.« Miranda legte den Schädel auf die Arbeitsfläche, und wir wandten uns wieder unserer kopflosen Leiche zu. Als ich mich daranmachte, den Rest der Wirbelsäule zu reinigen, beugten wir uns beide weit vor. Miranda sah es zuerst. »Da.« Sie zeigte mit ihrem behandschuhten Finger darauf. Vor dem dritten Halswirbel lag ein kleiner, gebogener Knochen, ungefähr so dick wie das Gabelbein einer Hühnerbrust. Sie packte ihn mit einer Fünfzehn-Zentimeter-Pinzette und hielt ihn ruhig, während ich ihn mit heißem Wasser abspülte.

»Nicht niesen«, sagte ich.

»Bringen Sie mich nicht zum Lachen«, erwiderte sie. »Oh, warten Sie, ich vergaß … das Risiko ist gering. Ihre Witze habe ich alle schon mal gehört.«

Ich ließ den Wasserstrahl vor- und zurückgleiten, um die freigelegte Region zu vergrößern, und allmählich tauchte der unverkennbar U-förmige Bogen des Zungenbeins aus der Schmiere auf. Als er vollkommen freilag, trug Miranda ihn wie einen Hauptgewinn zur Arbeitsfläche. Sie hielt ihn mit der Pinzette fest und stützte die Ellenbogen auf die Arbeitsplatte, während ich eine beleuchtete Lupe in Position schwenkte. Miranda hockte hochkonzentriert da und studierte den Knochen aus allen Winkeln. Schließlich richtete sie sich wortlos auf, damit auch ich ihn mir anschauen konnte.

Ich griff nach der Pinzette. Das Zungenbein war ein kleiner gebogener Knochen, zwei bis drei Zentimeter hoch und in etwa genauso breit. Unter der Lupe sah er fünf Mal so groß aus. Einst, vor langer Zeit, hatte dieses Zungenbein die Zunge der toten Frau und die anderen Muskeln, die sie beim Sprechen benutzt hatte, gestützt. Jetzt hoffte ich, dass der Knochen uns sagen konnte, wie sie gestorben war.

Mit dem mittleren Bogen oder »Körper« verbunden sind zwei dünnere Bögen, die sogenannten »Hörner«. Normalerweise entspricht die Höhe des Bogens ungefähr seiner Spannweite oder der Entfernung zwischen den Spitzen der Hörner. In diesem Fall jedoch waren die Hörner sehr viel näher zusammen. Man sah leicht, warum: Wo die Hörner mit dem mittleren Körper verbunden waren, sah es so aus, als wäre der Knorpel vom Knochen abgerissen, und der Körper selbst war an der Mittellinie gerissen. Ich hatte im Laufe meines Lebens zahlreiche beschädigte Zungenbeine gesehen, aber keines, das so verstümmelt war wie das, welches ich jetzt in Händen hielt. Diese junge Frau war mit unglaublich destruktiver Gewalt erwürgt worden. Die Geschichte ihres Todes war in ihre Knochen eingeschrieben.

Ich richtete mich auf und sah Miranda an. Sie zog die Augenbrauen hoch, und ich schenkte ihr ein grimmiges Lächeln. »Nun, jetzt wissen wir, dass sie nicht aus freien Stücken in die Höhle gekrochen und dort gestorben ist«, sagte ich. Wir hatten gerade einen entscheidenden Meilenstein erreicht. Vorher hatte ich nur den Verdacht gehabt, es mit einem Mord zu tun zu haben; jetzt wusste ich es. Und der kleine zerbrechliche Knochen, den ich in der Hand hielt, bewies nicht nur, dass ein Mord begangen worden war, er erzählte uns sogar, wie. Erregung packte mich, die ich stets gerne als gesunde Befriedigung über eine erfolgreiche wissenschaftliche Nachforschung betrachtete. In Wahrheit jedoch war sie mehr wie eine Droge. Andere Menschen waren süchtig nach Kokain, Zigaretten oder der Euphorie des Langstreckenläufers; ich war süchtig nach forensischen Entdeckungen.

»Davon brauchen wir ganz viele Fotos«, sagte ich. »Fünfunddreißig Millimeter; nehmen Sie die Vorsatzlinse und gehen Sie so nah ran wie möglich. Nehmen Sie es auch mit rüber ins technische Labor und legen Sie es dort unter das Rasterelektronenmikroskop. Abgesehen von den sichtbaren Frakturen wird das REM wahrscheinlich viele mikroskopisch kleine Abrissfrakturen zeigen, da wo der Knorpel vom Knochen abgerissen wurde. Sollte das hier je vor Gericht kommen, brauchen wir gute Beweisfotos.« Miranda nickte. »Okay, sehen wir uns den Anhänger an, und schauen wir dann, was die Schlüsselbeine uns verraten.«

Wir kehrten zu den Überresten auf der Trage zurück, und ich schob einen langen, dünnen Spatel unter den rechteckigen Klumpen nahe dem oberen Ende des Brustbeins. Er löste sich mit einem Schmatzen wie erkalteter ausgelassener Speck aus der Pfanne. Ich betastete ihn vorsichtig; er war dünn und hart, mit klar abgegrenzten Kanten unter den unregelmäßigen Fettschichten. Miranda hielt einen kleinen Druckverschlussbeutel auf; nachdem ich das Objekt hineingetan hatte, etikettierte sie es mit Fallnummer, Datum und der Bezeichnung »Halskette/Anhänger«. Während sie schrieb, ließ ich einen Regen heißen Wassers über die Schlüsselbeine der toten Frau rieseln.

Sie ließen sich fast ohne Mühe freilegen. Ihre äußeren Enden, wo sie auf die Oberarme und Schulterblätter stießen und mit diesen die Schultern bildeten, verschmolzen nahtlos mit den Knochenschäften. Zur Mitte hin jedoch – wo sie am oberen Ende des Brustkorbs mit dem Brustbein verbunden waren – waren sie mit den Schäften durch eine schmale Zone Gewebe verbunden, das noch nicht ganz verknöchert war.

»Dann ist ihr Skelett noch nicht voll ausgewachsen«, sagte Miranda. »Sie ist kein Kind mehr, aber sie ist auch noch keine richtige Frau.«

»Genau wie Sie«, sagte ich. Sie stieß mir einen Ellenbogen fest in die Rippen. »Autsch! Skelettmäßig, mehr wollte ich damit nicht sagen. Unter fünfundzwanzig. Das sind Sie doch, oder?« Ich wusste, dass sie noch keine fünfundzwanzig war, wenn auch nur noch wenige Monate. Ich hatte nicht viele andere Studenten, die mich so herauszufordern oder zu hänseln wagten, und niemand verpasste mir gelegentlich einen Rippenstoß. Miranda jedoch fand nichts dabei, sich mit mir in die Haare zu geraten, und mir gefielen das Vertrauen und die Ungezwungenheit, die darin lagen. Sie war längst immun gegen die Lesben- und Hurenwitze über ihren Nachnamen – Lovelady – und hatte zahllose Polizisten abgewiesen, die sie gebeten hatten, ihnen Handschellen anzulegen und ihnen die so genannten Miranda-Hinweise vorzulesen und sie über ihre Rechte aufzuklären. Sie war klug, stark, robust und witzig, und sie nahm sich nicht allzu ernst. Doch sie war jung genug, um meine Tochter zu sein; noch dazu war sie meine Studentin.

Ich erhöhte den Wasserdruck etwas. Als die Adipocire und das interkostale Knorpelgewebe wegtropften, tauchte wie ein uraltes Schiffswrack, das vom sandigen Meeresgrund geborgen wird, der Brustkorb auf. Rippe für Rippe nahm ich das Wrack auseinander, löste jeden einzelnen Knochen vom Brustbein und von dem Wirbel, mit dem er im Rücken verbunden war. Ich reichte die Knochen Miranda, die sie unterhalb des Schädels in ihrer korrekten anatomischen Position auf den Tisch legte. In dem Maße, wie der in Adipocire gekleidete Körper von der Fahrtrage verschwand, nahm auf der nahen Arbeitsfläche allmählich ein Skelett Gestalt an.

Als ich die ersten sieben Rippenpaare von oben gelöst hatte, reichte ich Miranda das Brustbein. Sie schnappte nach Luft, und ich schaute auf. »Was ist?«

»Sehen Sie sich das an.« Sie zeigte auf ein hübsches rundes Loch mitten am unteren Ende des Knochens. »Wurde sie auch noch erschossen?«

Ich studierte das Loch. »Nun, es sieht ganz so aus, oder?« Sie sah mich scharf an, denn sie spürte, dass das irgendein Trick war.

Sie besah sich das Brustbein genauer, zuerst von vorne, dann von hinten. Ich konnte förmlich sehen, wie sie ihre Datenbanken danach durchforstete, ob das, was sie vor sich hatte, mit etwas, was sie in meinem Handbuch der Knochenkunde – meiner Bibel der Osteologie – gesehen oder gelesen hatte, übereinstimmte. Es war darin zu finden – eine Zeichnung auf Seite 117 oben –, aber ich gab ihr keine weiteren Hinweise. »Nun, es hat in etwa die richtige Größe für ein kleinkalibriges Projektil, vielleicht zweiundzwanzig«, murmelte sie, klang jedoch zweifelnd. Sie starrte vorwurfsvoll auf den Knochen, als ob er sich irgendetwas zu Schulden hätte kommen lassen. »Aber es gibt einiges, was nicht dazu passt.«

»Was zum Beispiel?«

»Zum einen scheint es ein zu großer Zufall zu sein, dass ein Schuss genau in die Mitte trifft.« Ich hielt den Mund. »Zum anderen ist das Loch vorne und hinten angeschrägt, und Schusswunden öffnen sich weit in die Richtung, in die die Kugel geflogen ist.«

»Richtig«, sagte ich. »Wenn die Kugel den Knochen durchstößt, breiten sich die Kopfwellen trichterförmig aus und sorgen beim Austreten für ein größeres Loch. Sehen Sie sich die trichterförmigen Löcher an, die ein Luftgewehr in Fensterscheiben macht, außen winzig, aber innen riesig.«

»So spricht der Junge, der ein Luftgewehr besaß«, sagte sie.

»Hey, man hört so das ein oder andere«, sagte ich. »Und jetzt halten Sie mich nicht länger hin. Was fällt Ihnen an diesem Loch noch auf, das eventuell von einer Kugel stammt oder auch nicht?«

»Okay, es sieht zwar an beiden Seiten aus wie abgeschrägt, ist es in Wirklichkeit jedoch nicht – die Oberfläche ist glatt und unbeschädigt. Die Abschrägung durch eine Kugel ist rauer, und normalerweise entstehen Bruchlinien, die sich vom Loch aus ausbreiten.«

»Ausgezeichnet«, sagte ich. »Also ist das …?«

Sie runzelte die Stirn. »Ein Foramen?«

»Genau. Eine natürliche Öffnung im Knochen. Selten im weiblichen Brustbein, übrigens – bei zehn Prozent der Männer findet sich so etwas, aber nur bei vier Prozent der Frauen. Deswegen haben Sie noch nie eines gesehen.« Sie grinste, aufgeregt über diesen Wissensbrocken aus erster Hand. Auch danach war ich ein wenig süchtig. »Okay, machen wir weiter. Sind Sie bereit für das, was als Nächstes kommt?« Ihr Grinsen verschwand, und sie atmete tief durch. »Das könnte beunruhigend werden«, fügte ich hinzu. Sie nickte. »Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, dann machen Sie einfach eine Pause und gehen raus. Sie müssen sich nicht schämen.« Sie nickte noch einmal, mit großen Augen. Ich griff wieder nach der Handbrause, doch erst, nachdem ich den Druck auf die Hälfte verringert hatte.

Als die Adipocire im Zentrum der weiblichen Leiche schmolz, verspürte ich ein Gefühl der Erstaunens, das ich nur wenige Male im Leben empfunden hatte. Ein Bündel winziger Knochen tauchte auf, eingebettet in einen blasseren Klumpen Adipocire – einen Klumpen, der einst Fruchtwasser und fötales Gewebe gewesen war. Unsere junge Frau war schwanger gewesen – war in gewissem Sinne immer noch schwanger –, mit einem Baby, dessen Geburt viele Jahre überfällig war. Es war eine grausame, traurige Geburt, die hier mit meiner Hilfe geschah.

»Wir brauchen ein 2-Millimeter-Sieb über dem Ablauf, bitte, Miranda.« Sie flitzte an einen Schrank und holte eine Scheibe aus Drahtgewebe heraus, die sie in den runden Ansatz des Abflusses einlegte. Hoffentlich war sie fein genug, um alles aufzufangen.

Die winzigen Wirbel waren wie Staubperlen auf einem Faden; der Körper jedes einzelnen Wirbels nicht größer als eine Linse. Auf beiden Seiten des Wirbelkörpers schwebten die zwei Hälften des Vertebralbogens, die in den ersten Lebensjahren zuerst miteinander und dann im Kindergarten- oder Vorschulalter mit dem Wirbelkörper verschmolzen wären. Am unteren Ende der Wirbelsäule ruhten die winzigen Anfänge der Beckenknochen, in Form und Größe an Limabohnen erinnernd. Neben der Wirbelsäule zusammengefaltet waren die Beine: Der Oberschenkelknochen hatte in etwa die Größe des Mittelknochens meines Zeigefingers; das Schienbein war eher wie der Knochen vom kleinen Finger. Die Fußknochen waren so klein, dass sie mit einem Sieb aussortiert werden mussten. Im rechten Winkel zur Mittellinie der Wirbelsäule und Beine bogen sich die Rippen – dünne, gebogene Späne, die von einer Wachtel oder einer Forelle hätten stammen können. Die Schädelknochen, die den untersten Punkt des fötalen Skeletts bildeten, waren ebenfalls vogelgroß; der Hinterkopf, die Schädelbasis, war nicht größer als ein Vierteldollar.

»Kaum zu glauben, dass wir alle so klein und zerbrechlich anfangen«, sagte ich. »Sieht aus, als wäre sie etwa in der Mitte der Schwangerschaft gewesen.«

»Wie können Sie das sagen? Wer hat das erforscht? Wer kann so etwas ertragen?«

»Zwei Pathologen in Budapest in den siebziger Jahren. Sie haben hundertfünfzig fötale Skelette untersucht und vermessen, in jedem Entwicklungsstadium. Ich weiß nicht, warum sie damit anfingen, aber ich schätze, sie ertrugen es auf dieselbe Art, wie wir das hier jetzt ertragen: Knochen für Knochen, zum Nutzen von irgendetwas Wichtigerem.« Wir verfielen in Schweigen, und ich dachte an die anderen fötalen Skelette, die ich untersucht hatte.

Erst drei Mal hatte ich ein Skelett im Uterus gesehen. Zwei in Gräbern der Arikara-Indianer in South Dakota. Ihre Dörfer waren, wie ich wusste, von den Pocken entvölkert worden, die weiße Pelzhändler absichtlich verbreitet hatten – ein früher Fall biologischer Kriegsführung. Im dritten Fall wurden neben einem ländlichen Streifen Fernstraße in Kentucky im Unterholz die Überreste einer schwangeren Frau gefunden. Sie war, soweit die Polizei und ich das rekonstruieren konnten, per Anhalter unterwegs gewesen und in das falsche Auto gestiegen. In allen drei Fällen jedoch waren sowohl Mutter als auch Fötus bereits skelettiert gewesen, als wir sie fanden. Hier dagegen waren die Überreste des Babys verborgen in einem unversehrten Körper – bis ich mich daranmachte, sie freizulegen. Ein wenig schämte ich mich für meine Zudringlichkeit, und dann wurde ich mit einem stechenden Schmerz daran erinnert, was für ein riskantes Unternehmen das Leben sein konnte: ein Rennen, in dem manche Menschen es nicht mal aus der Startmaschine schafften.

Ich schaute zu Miranda auf. Tränen liefen ihr über die Wangen und sickerten in ihre Maske. Ich berührte sie am Arm. »Vielleicht sollten Sie eine Pause machen«, schlug ich vor. Sie zuckte zurück und schüttelte den Kopf, und ich sah Zorn unter ihren Tränen aufblitzen. Zorn auf denjenigen, der diese beiden Leben ausgelöscht hatte. »Gut dann, danke, ich kann die Hilfe brauchen. Legen wir die Knochen neben den Körper der Mutter in anatomischer Anordnung, Kopf nach unten.« Sie nickte und machte sich mit grimmiger Miene daran, das winzige Skelett zusammenzulegen, dessen Knochenstückchen ich ihr reichte.

Sechs Stunden, nachdem wir angefangen hatten, waren wir fertig. Die wächserne Mumie, die wir hergebracht hatten, war jetzt ein Skelett. Immer noch ein wenig fettig und stinkend, aber nur noch das schwindende Echo einer starken jungen Frau. Und neben ihr das schwindende Flüstern eines Babys, das nie Luft geholt hatte.

Was wir über sie wussten, war – wie die Exemplare auf dem Arbeitstisch – knochendürr: Wir wussten, dass es eine junge weiße Frau von ungewöhnlicher Körpergröße war. Wir wussten, dass sie schwanger gewesen war und dass sie in der Mitte der Schwangerschaft, als womöglich erste Anzeichen davon sichtbar wurden, ermordet worden war – erwürgt, ohne andere Zeichen von Verletzungen, zumindest keine sichtbaren. Wir kannten immer noch nicht ihren Namen, doch die Untersuchung hatte uns Dinge verraten, die uns auf der Suche nach ihrem Namen helfen würden. Die Echos und das Flüstern dieser Knochen halfen uns vielleicht zu verstehen, warum sie ermordet worden war … und wenn wir achtsam genug hinhörten, dann deuteten sie womöglich sogar an, wessen Hände sich um ihre Kehle gelegt und so gnadenlos zugedrückt hatten.

Ich schaute Miranda an. Ihr Gesicht war abgespannt; ihre Augen, die getanzt und geschimmert hatten, als sie mir triumphierend die Röntgenaufnahmen brachte, waren jetzt erschöpft und freudlos.

»Ich weiß«, sagte ich. »Das ist hart.«

Sie nickte.

»Und, Miranda?« Ich wartete, bis sie mir in die Augen schaute. »Wir behalten das hier vorerst besser für uns.«