24
»Bist du dir sicher, dass wir hier abbiegen müssen?«
Art drehte das Lenkrad und warf mir seinen vernichtendsten, eisigsten Polizistenblick zu. »Hat Waylon dir nicht gesagt, du sollst den Schildern zur Kirche folgen?«
»Ich sehe kein Schild«, sagte ich.
Art zeigte auf den Stamm eines großen Tulpenbaums, dann wies er mit dem Finger auf den Boden darunter. Dort lag zwischen dem Unkraut ein rostiges, von Kugeln durchsiebtes Schild, »Cave Springs Primitive Baptist Church«.
»Oh, wie konnte ich das übersehen? Ich würde mal sagen, wenn man dieses Schild braucht, um sie zu finden, dann wollen sie einen dort nicht.«
Art brummte. »Ich würde sagen, wenn man dort hinkommt, indem man einem Schild folgt, dann laden sie einen ein, in eine Kiste zu greifen und die Klapperschlangen zu verteilen.«
»Ich glaube nicht, dass die Primitive Baptists mit Schlangen hantieren«, sagte ich. »Ich glaube, das ist die Church of Holiness, die ›diesen Zeichen folgen‹ oder etwas in der Art.«
»Was soll das denn bedeuten, ›Zeichen folgen‹? Abgesehen davon, folgen wir hier gewissermaßen doch auch Zeichen, oder?«
»Das bezieht sich auf eine Bibelstelle – angeblich die Zeichen wahren Christentums: Kranke heilen, Zyanid schlucken und Schlangen aufheben. Macht ihr das in der Episkopalkirche nicht?«
Art schüttelte den Kopf. »Eher nicht. Wir bleiben in Kontakt mit dem Herrn, indem wir Wein trinken und Golfclubs managen.«
»Erzählst du mir noch mal, was der achtzigjährige Höhlenforscher über diesen Ort gesagt hat?«
»Hörst du mir diesmal auch zu?«
»Ich habe dir auch beim letzten Mal zugehört. Ich kann mich bloß nicht mehr erinnern.«
»Herr, schenke mir Geduld«, meinte er seufzend. »Okay, er meinte, es sei lange her, dass er hier oben war – ungefähr vierzig Jahre –, aber Höhlen veränderten sich so schnell nicht. Ich habe ihm erzählt, ein Ortsansässiger habe die Höhle Russell’s Cave genannt, und habe ihm deine Beschreibung gegeben. Er war sich sicher, dass es die ist, die er vor langer Zeit kartiert hat. Und er sagte, dein Kumpel Waylon habe recht: Es gibt einen zweiten Eingang direkt bei der Kirche, der sehr viel leichter zu erreichen ist als der, zu dem der Sheriff dich gebracht hat. Er sagte, du wärst quasi zum Hintereingang rein.«
»Und wo genau ist der Vordereingang?«
»Ich glaube, seine letzten Worte waren: ›Sie können es unmöglich verfehlen.‹«
»Das habe ich schon oft gehört, und irgendwann bin ich dahintergekommen, was es bedeutet: ›Du wirst dich hoffnungslos verirren, du Depp.‹«
Hinter einer Kurve stießen wir auf eine kleine Kirche, die in einer Senke am Fuß einer Steilwand stand. Auf der einen Seite befand sich ein kleines, verwittertes Farmhaus, in dem, wie ich vermutete, der Pfarrer lebte. Die Kirche war so plötzlich aufgetaucht, dass wir viel zu schnell auf den gekiesten Parkplatz bretterten und rutschend zum Halten kamen. Wir stiegen aus, um uns umzusehen.
Beinahe hätten wir ein weiteres Schild umgefahren. Dieses stand so nah am Straßenrand, dass es fast wie eine Herausforderung an die Heiden wirkte, es auf eigene Gefahr mutwillig zu zerstören – oder zu ignorieren. Es war aus glatten Flusskieseln gebaut, die so vermörtelt waren, dass sie an ein griechisches Giebeldreieck erinnerten, und in die Steine eingelassen war ein verwittertes Holzschild mit der Aufschrift »Cave Springs Primitive Baptist Church«.
Die Kirche passte zu dem Schild: Flusskiesel in Gelbbraun- und Brauntönen lagen tief in einer Grundmasse aus grau gesprenkeltem Mörtel. Das Gebäude schien eher durch eine geologische Verwerfung als durch Menschenhand erschaffen worden zu sein. Die Doppeltür in der Vorderseite war aus stabilem Holz, das mit dem Alter silbrig verblichen war; die schwarzen Scharniere, das Schloss und die Klinke waren aus geschmiedetem Eisen – die Hammerschläge waren auf der Oberfläche noch gut zu erkennen. An die Türen waren zwei metallene Autokennzeichen genagelt worden. »Jesus kommt, bist du bereit?«, stand auf dem einen, auf dem anderen war »Himmel oder Hölle – wo wirst du die Ewigkeit verbringen?« zu lesen.
»Freundlicher Haufen«, bemerkte ich. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, doch sie war von innen irgendwie verriegelt.
»Sehet, ich stehe an der Tür und klopfe«, sagte Art mit ausdrucksloser Miene und posierte als Jesus. Er klopfte an das Holz. »Autsch! Sieht aus wie Eiche, fühlt sich an wie Eisenholz. Schauen wir mal, ob wir durchs Fenster etwas erkennen können.«
Die Fenster waren spärlich – wenige, kleine und hohe Öffnungen –, was vermutlich die Versuchung minderte, die Bäume zu bewundern, statt auf die Predigt zu achten. Glücklicherweise konnte man an dem Mauerwerk hochklettern. Art und ich hievten uns ein Stück hinauf und linsten durch die schmutzigen Scheiben. Viel zu sehen gab es in der Kirche nicht: ein Dutzend Bänke ohne Rückenlehne, ein paar vereinzelte zerfledderte Gesangsbücher, ein arg lädiertes Klavier und ein windschiefes hölzernes Chorpult. »Jetzt verstehe ich auch, warum es ›Primitive‹ heißt«, sagte ich. Wir kletterten wieder herunter und gingen um das kleine Kirchengebäude herum.
Ein breiter, gut ausgetretener Pfad führte längsseits der Kirche zum Fuß der Steilwand. Der Weg endete an einem natürlichen, etwa hüfttiefen Felsbecken, das mit klarem Wasser gefüllt war. In der Mitte stieg aus einer Spalte unaufhörlich Wasser auf und ließ die Oberfläche leicht zittern. Am hinteren Ende gurgelte das Wasser über den Rand des Bassins und verschwand in einer Öffnung im Fels. »Jetzt verstehe ich, warum es ›Cave Springs‹ heißt«, sagte Art. »Praktisch zum Taufen, was?«
»Sehr praktisch. Okay, dein Höhlenforscherfreund hat recht gehabt – kaum zu verfehlen.« Die ovale Öffnung in der Felswand war rund zwei Meter fünfzig hoch und ein Meter zwanzig breit. Ein rostiges Gitter versperrte den Zutritt, gehalten von in den Fels gehauenen Eisenscharnieren und gesichert mit einem massiven Vorhängeschloss. »Verdammt«, sagte ich. »Und jetzt?«
»Beten«, sagte Art und trat näher, um das Schloss genauer in Augenschein zu nehmen. Ich hörte Schlüssel klimpern, dann ein Schloss aufschnappen.
»Hey, wie hast du das denn gemacht?«
»Die Kraft, die Gott darreicht«, intonierte er und wandte den Blick gen Himmel, während er eine Art Hauptschlüssel wieder zu den anderen tat und den Schlüsselbund in seiner Tasche verschwinden ließ.
Wir gingen rasch zurück zum Auto, um Taschenlampen, Jacken, einen Koffer mit einem Beweismittelsicherungs-Set und meine Kamera zu holen, dann kehrten wir zum Höhleneingang zurück. Trotz des Rosts an dem Gitter ließen sich die Scharniere mühelos bewegen, ohne ein Geräusch von sich zu geben. Ich bemerkte eine ordentliche Portion Schmiere an den Scharnierstiften. »Wäre nett zu wissen, wer die Scharniere fettet und wer den richtigen Schlüssel hat«, sagte ich.
Als wir durch den Eingang des Tunnels traten, strich uns ein kühler Wind übers Gesicht. Sobald das grelle Tageslicht im Innern schwächer wurde, kniete Art sich hin und leuchtete mit der Taschenlampe tief über den Boden. »Kommt dir das bekannt vor?«
Ich hockte mich hin. Das Frösteln, das mich überkam, hatte wenig mit der Temperatur in der Höhle zu tun. »Siehst du die alle? Das sind dieselben Abdrücke von Arbeitsstiefeln wie auf den Dias.« Er bewegte den Lichtstrahl langsam vor und zurück, und ich packte seinen Arm. »Da … das ist die Spur des Sheriffs, oder zumindest eine sehr ähnliche.« Genau wie auf den Fotos, die ich in der Grotte gemacht hatte, lagen die frischen, schlurfenden Schritte über den abgenutzten Spuren. Wenigstens bei den Abdrücken unmittelbar vor uns. Doch als Art den Lichtstrahl weiter über den Boden der Höhle wandern ließ, stieß er einen leisen Pfiff aus.
»In dieser Höhle ist ja mehr los als auf der Toilette einer Sportsbar«, sagte er. »Es sieht so aus, als sei auch der mit dem ramponierten alten Paar Stiefel noch einmal hier gewesen, nachdem dein freundlicher Sheriff von nebenan hier drin war.« Tatsächlich waren die abgetragenen Abdrücke hier eindeutig zuoberst, drückten die schlurfenden Spuren fast ganz platt.
»Dann weiß derjenige jetzt also, dass jemand anders Bescheid weiß.«
»Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber das ist noch nicht alles.« Art ließ den Strahl der Taschenlampe ein wenig weiter rechts über die sich überlagernden Schuhabdrücke tanzen. »Hier war noch jemand anders.«
Ich musterte die Region, die er beleuchtete, konnte aber keine weiteren Abdrücke entdecken. Auch als ich nich weiter vorbeugte, war alles, was ich erkennen konnte, schwach verwischte Flecken im Matsch. Ich sah Art ragend an.
»Der hier war so klug, seine Spuren zu verwischen«, sagte er. »Hat vielleicht ein Brett oder etwas Ähnliches hinter sich hergeschleift. Viel Arbeit.«
Art klappte sein Beweismittelsicherungs-Set auf und holte die kleine Kopflampe heraus, schnallte sie sich an die Stirn und nahm dann einen großen Druckverschluss-Beutel zur Hand. Die Plastiktüte war zur Hälfte mit einem weißen Pulver gefüllt, das ich als Dentalgips erkannte, ein stärkerer, härterer Verwandter von Gips. »Was hältst du davon, wenn wir ein paar Abgüsse machen?«, fragte Art. »Nur so zum Spaß.«
»Du bist wirklich unübertrefflich«, sagte ich. »Ich mache auch ein paar Fotos.«
Aus einer Plastikspritzflasche drückte Art Wasser in den Beutel, zog den Reißverschluss zu und knetete die Mischung durch das Plastik. »Wir rühren hier eine ganz schöne Sauerei an, Bill«, sagte er, und diesmal scherzte er nicht.
»Ich weiß. Sollen wir zusammenpacken und das Ganze vergessen?«
»Nein, dazu ist es zu spät … den Dentalgips möchte ich auf keinen Fall vergeuden.« Die Mischung sah sehr nach Eierkuchenteig aus, obwohl ich nicht reinbeißen wollte, sobald das Zeug ausgehärtet war. »Abgesehen davon hast du jetzt meine Neugier geweckt. Möchtest du aussteigen?«
»Ich glaube nicht. Die junge Frau und ihr Baby wollen mir einfach nicht aus dem Sinn gehen.«
»Na dann.« Er ließ die klebrige Mischung in vier einzelne Abdrücke tropfen – zwei von jedem Stiefel – sowie in einen kurzen Abschnitt der verwischten Spuren. »Das erste Mal, dass ich versuche, eine Sägeblatt-Spur aufzunehmen«, sagte er. »Die brauchen dreißig Minuten zum Aushärten. Willst du inzwischen mal sehen, wohin die Spuren führen?«
»Ich habe da so meine Vermutung. Schauen wir, ob ich recht habe.«
Um die anderen Fußspuren nicht zu zerstören, hielten wir uns dicht an die Wand des Durchgangs. Weit zu gehen brauchten wir nicht. Kaum zweihundert Meter vom Eingang bogen die Abdrücke scharf links ab und führten durch eine Spalte in der Tunnelwand, die so schmal war, dass Art und ich uns mit den Füßen an der Wand abstützen und mit gespreizten Beinen hindurchgehen mussten, um die Spuren am Boden nicht zu zertrampeln. Als die Spalte sich öffnete, sah ich, dass wir genau da herausgekommen waren, wo ich vermutet hatte: am schmalen Ende der Kristallgrotte. Direkt vor uns war die Felsplatte, auf der Leenas mumifizierte Leiche gelegen hatte. »Scheißkerl«, sagte ich. »Jedes Mal, wenn ich denke, der Sheriff ist okay, muss ich feststellen, dass er neue Spielchen mit mir spielt. Hat mich einen verdammten Berg hinaufgeschleppt, wo er mich einfach an der Haustür hätte absetzen können.« Ich dachte an die vielen Stunden, die ich auf der Enduro über Stock und Stein geholpert war, und den tagelangen Muskelkater. »Offensichtlich sollte ich denken, sie wäre irgendwo ganz weit abgelegen.«
Arts Stirnlampe nickte zustimmend. »Sieht ganz so aus. Irgendeine Ahnung, wieso?«
»Vielleicht wollte er nicht, dass ich von dem Vordereingang erfahre.«
Er nickte wieder. »Darauf hätte ich auch getippt.« Er ließ das Licht über den Boden zwischen uns und der Felsplatte wandern. »Sieht es noch so aus wie beim letzten Mal, als du hier warst?« In der Grotte waren jetzt unzählige Fußabdrücke. Mitten in dem Durcheinander erkannte ich meine eigenen, die zusammen mit denen von Tom Kitchings und Deputy Williams von der gegenüberliegenden Seite kamen. Ich sah sie auch wieder wegführen. Doch unsere Abdrücke waren nicht mehr die obersten: Die Arbeitsstiefel überlagerten uns alle. Sie führten von da, wo Art und ich standen, in die Grotte hinein, näherten sich der jetzt leeren Felsplatte, drehten um und führten ein Stück auf die andere Seite der Höhle, bevor sie kehrtmachten, wieder auf uns zukamen und zurück zur Kirche führten.
»Weißt du, was das bedeutet?«
»Ja«, sagte ich mit einem flauen Gefühl im Magen. »Er war letzte Woche hier.«
»Ja. Er weiß also nicht nur, dass jemand Bescheid weiß, er weiß, dass mehrere andere Leute Bescheid wissen. An einem Ort wie diesem muss er nicht lange herumfragen, um dahinterzukommen, dass du einer davon bist.«
Plötzlich hörten wir einen gedämpften Aufschlag, gefolgt vom Gerümpel herabstürzender Felsbrocken. Eine Staubwolke schoss durch die Spalte, füllte die Grotte und ließ uns hustend nach Luft schnappen. Ich legte mir den Arm übers Gesicht und versuchte, durch den Ärmel meiner Jacke zu atmen; Art zog den Kopf wie eine Schildkröte in den Halsausschnitt seines Pullovers. Wir standen stocksteif da, und allmählich legten sich das Poltern und der Staub und hinterließen eine dichte, bedrohliche Stille. Totenstille.
Der Schutt reichte bis zu der Spalte in der Grottenwand.
»Lass mich raten«, sagte Art, »ich würde sagen, jemand wusste, dass wir hier sind.«
Man musste kein forensisches Genie sein, um zu erkennen, dass wir keine Chance hatten, uns durch das Geröll, das den Eingang zur Kirche blockierte, zu graben. »Es ist wohl doch ganz gut, dass ich den Weg zum Hintereingang kenne.« Ich machte noch einige Fotos der neuen Fußabdrücke auf dem Boden. »Nicht dass ich wirklich überzeugt davon bin, dass ich die je vor Gericht verwenden kann«, murmelte ich, »aber allmählich stinkt’s mir.« Wir gingen auf die gegenüberliegende Seite der Grotte.
»Ja, das wird langsam persönlich«, sagte Art. »Das waren einige der besten Gipsabdrücke, die ich je gemacht habe. Und der von dem Brett? Damit wollte ich mir die Einladung zu einer forensischen Tagung verdienen.«
»Wie gewonnen, so zerronnen«, sagte ich. »Die gute Nachricht ist also, dass ich weiß, wie wir hier rauskommen. Die schlechte ist, dass die Straße fünf oder sechs Kilometer über einen holprigen Fahrweg führt und dass wir weit weg von unserem Auto sind. Es kann uns gut und gerne …«
Ein heller Blitz durchzuckte die Dunkelheit, begleitet von einem scharfen Knall. Der Boden bebte, und Felsbrocken regneten auf uns herunter. Art packte meine Jacke und riss mich just in dem Augenblick nach hinten, als ein Stalaktit herunterdonnerte und genau da, wo ich gestanden hatte, auf dem Boden zerschellte. Ich fuhr zusammen. Dann fluchte ich. Und zwar gehörig.
»Bill, geht’s dir gut?«
Ich nickte erschüttert. »Und dir?«
»Ich bin noch bei der Inventur. Bis jetzt zähle ich eine Beule am Kopf und zwei blaue Flecken, aber keine Knochenbrüche.« Er unterbrach sich. »Hey, Bill? Hast du die sechs Kilometer Weg eine schlechte Nachricht genannt? Ich glaube, das war genaugenommen die gute Nachricht. Vorhin, als es noch gute Nachrichten gab.«
Wir suchten uns einen Weg durch die schroffen Felsblöcke, die uns umgaben, und arbeiteten uns zum Hintereingang der Höhle durch. Oder zumindest dahin, wo dieser einst gewesen war. Der Trümmerhaufen wurde stetig höher. Nach wenigen Metern reichte der Schotter bis zur Decke und riegelte uns den Weg vollständig ab.
Ich spürte Panik aufsteigen, bekam keine Luft mehr, egal wie tief ich auch atmete. Der Kopf schwirrte mir. Ich hörte Arts Stimme wie aus großer Ferne. »Bill? Bill! Hör zu, Bill, du musst dich beruhigen.« Er klang seltsam normal, nicht wie ein Mann, der nach Sauerstoff ringt. »Billy, du hyperventilierst. Du musst langsamer atmen, sonst wirst du bewusstlos.« Ich kämpfte gegen den Drang zu keuchen an, doch er war stärker als ich. »Versuch, durch den Ärmel deiner Jacke zu atmen – vielleicht hilft das.« Ich spürte, wie er meinen Arm packte und den Ärmel zu meinem Gesicht führte. Der Stoff verlangsamte den Luftstrom. Während ich Mühe hatte, gegen den Widerstand zu atmen, spürte ich, wie meine Atemzüge langsamer wurden und die Watte in meinem Kopf sich allmählich lichtete. Schließlich hatte ich meine Atmung wieder einigermaßen unter Kontrolle und ließ den Arm sinken.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich dachte, die Luft hier drin würde knapp.«
»Noch nicht. Wir haben noch sehr viel davon. Wahrscheinlich verhungern wir eher.«
»Verdammt, Art, das ist kein Witz. Wir sind in einem Tunnel, der von etlichen Tonnen Felsbrocken blockiert wird. Selbst wenn wir die wegräumen könnten, was ich bezweifle, wartet da draußen wahrscheinlich nur einer darauf, uns umzubringen.«
»Kann sein«, stimmte er mir zu. »Aber es hat auch keinen Sinn, sich darüber aufzuregen, schließlich müsste er eine ganze Weile auf uns warten, bis wir ihm vor die Flinte laufen. Überlegen wir lieber, was wir machen sollen.«
»Ich bin für jeden Vorschlag offen.«
»Okay, schauen wir, was für Hilfsmittel wir haben. Wir haben zwei Taschenlampen und eine Stirnlampe. Eine Kamera. Eine Waffe. Ein Beweismittelsicherungs-Set, das uns im Augenblick wahrscheinlich nicht viel nützt. Hast du irgendwas zu essen oder zu trinken dabei?«
»Ein Päckchen Kaugummi«, sagte ich. »Zuckerfrei, da ist also keine Energie drin. Aber durch die Höhle fließt Wasser.« Ich zeigte mit meiner Taschenlampe auf den unterirdischen Strom, von dem wir jetzt wussten, dass er der Quelle hinter der Kirche entsprang. Doch der Bachlauf war verschwunden, übrig war nur noch ein schlammiges Bett. Der erste Einsturz hatte ihm wohl den Weg versperrt.
»Ich habe einen Snickers-Riegel und eine Flasche Wasser«, sagte Art. »Wenn ich den Trick mit dem Brot und den Fischen abziehen könnte, von dem ich in der Bibel gelesen habe, hätten wir scheffelweise Reste übrig. Oh, hier, das könnte helfen – die Karte der Höhle, die Methusalem, der Höhlenforscher, mir gefaxt hat.«
»Was soll die uns denn nützen? Die Höhle haben wir doch schon gefunden. Leider.«
»Das ist keine Karte zur Höhle, du Klugscheißer, sondern eine Karte von der Höhle. Vom Innern. Von dem Teil, in dem wir gefangen sind wie die Ratten. Oder wie Fledermäuse.«
»Aber wir sind zwischen zwei Einstürzen gefangen, und dazwischen ist nichts als fünfzig Meter Tunnel und die verdammte Grotte.« Art studierte schweigend die Karte. »Sieh den Tatsachen ins Auge, Art«, sagte ich. »Wir sind hier drin eingeschlossen. Kein Weg nach draußen.«
Art richtete die Stirnlampe direkt auf mein Gesicht und blendete mich. »Du willst einfach aufgeben?«, fragte er. »Ich … ich bin noch nicht bereit, das Handtuch zu werfen.« Damit drehte er sich um und suchte sich seinen Weg durch die Trümmer zurück zur Grotte.
»Warte, Art. Mach langsam.«
»Beeil dich lieber.« Er ging weiter und fuhr dabei mit dem Licht jeden Quadratmeter der Tunnelwände und -decke ab. Doch er verlangsamte seine Schritte ein wenig.
In der Grotte schloss ich gerade rechtzeitig zu ihm auf, um zu sehen, wie der Strahl seiner Taschenlampe nach oben wies und in einer runden Öffnung ungefähr von der Größe eines Wasserballs verschwand. »Aha!«, sagte er.
»Wusstest du, dass das da ist?«
»Nicht, bevor ich mir die Karte angesehen habe. Da hinten, als du damit beschäftigt warst, dich mit unserem Tod abzufinden.«
»Tut mir leid. Führt die Öffnung nach draußen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was steht denn auf der Karte?«
»Da steht ›unerforscht‹. Der Typ, der die Karte gemacht hat, war ziemlich stämmig. ›Unerforscht‹ steht wohl auf den meisten seiner Karten irgendwo.«
»Vielleicht führt die Öffnung zu einem weiteren Zugang – aber vielleicht windet sie sich auch nur eine Weile durch den Berg und läuft sich dann tot.«
»Vielleicht. Muss ich schon wieder bärbeißig mit dir werden, oder bist du optimistisch und scharf auf Erkundungsgänge?«
»Gehen wir.«
Das war, wie sich herausstellte, leichter gesagt als getan, denn die Öffnung befand sich rund drei Meter über unseren Köpfen. Selbst wenn ich mich auf Arts Schultern stellte, war zweifelhaft, ob ich daran kam. Ich wollte schon vorschlagen, wir sollten Felsbrocken aus dem Tunnel herrollen – da waren auf jeden Fall genügend Brocken, um einen großen Haufen aufzuschichten –, als Art auf die Felsplatte stieg und die Wand darüber musterte, indem er das Licht der Taschenlampe aus verschiedenen Winkeln darauf richtete. »Reichst du mir bitte mal den Koffer rauf, Bill?«
Ich starrte ihn verblüfft an. »Hast du da oben irgendwelche Beweise gefunden?«
»Nein, du Superhirn. Ich brauche nur was, wo ich mich draufstellen kann.«
Ich reichte ihn hinauf, und Art stellte den rechteckigen Koffer – einen besseren Werkzeugkasten – senkrecht auf die Platte. Dann langte er ein wenig seitlich nach oben und griff mit der linken Hand nach einem kleinen Felsknauf. Mit der rechten Hand fuhr er nach oben und schob zwei Finger in einen schmalen, senkrechten Spalt in der Wand. Stöhnend hievte er sich auf die Kiste, wobei die Zehen seiner Wanderstiefel auf Vorsprüngen Halt fanden, die ich nicht mal gesehen hatte. Sobald er beide Füße auf dem Beweismittelsicherungs-Set hatte, zog er die Finger aus dem Riss, griff dreißig Zentimeter höher und schob die ganze rechte Hand in den Spalt. Zuerst suchte der eine Fuß einen Ansatzpunkt an der Wand und dann der andere. Art musste sich ziemlich verrenken. Plötzlich rutschte seine linke Hand ab, und er schlug gegen die Wand und baumelte an der rechten Hand, die immer noch fest in dem Spalt steckte. Er schrie auf vor Schmerz, und seine Füße kratzten verzweifelt über den Fels. Instinktiv kletterte ich auf die Felsplatte, packte seine Stiefel und drückte ihn mit aller Kraft hoch. Quälend langsam schoben sich seine Stiefel an meiner Brust und dann an meinen Schultern vorbei, und schließlich stand ich mit ausgestreckten Armen da, am ganzen Körper zitternd vor Anstrengung. Gerade als ich keuchend eine Warnung ausstoßen wollte, weil meine Kräfte nachließen, spürte ich meine Last leichter werden, und dann war er weg, und ich sah seine Beine noch durch die Öffnung im Dach der Grotte verschwinden.
Ich wartete, dass er wieder auftauchte, und als er das nach wenigen Augenblicken nicht tat, spürte ich, wie die Panik wieder in mir aufstieg. Schließlich schob er doch noch den Kopf durch die Öffnung. »Verdammt, das war hart. Danke dir für deine Hilfe. Eine Minute lang dachte ich, meine Hand bliebe da oben allein zurück.«
Ich keuchte noch, teils von der Anstrengung, teils vor Angst. »Kein Problem. Sieht es irgendwie ermutigend aus da oben?«
»Komm rauf und schau’s dir an.«
Ich besah mir die Felswand. »Zum Teufel, Art, ich kann da nicht raufklettern. Unglaublich, dass du das geschafft hast.«
»Meine Frau hat mir letztes Jahr zu Weihnachten einen Gutschein für einen Kletterkurs geschenkt. Ich glaube, sie hat gehofft, ich würde mich so richtig dafür begeistern und dann mal irgendwo abstürzen.«
»Na, wenn da oben keine Leiter ist, die du mir runterreichen kannst – oder wenn du nicht die Plätze tauschen und mich hochhieven willst –, musst du ohne mich weitergehen.«
»Und dieses siegreiche Team trennen? Auf keinen Fall. Wie ist dein Hüftumfang?«
»Sechsundachtzig Zentimeter. Na ja, inzwischen wohl eher um die neunzig. Was soll das …«
Mir dämmerte, worauf er hinauswollte. »Wie wär’s mit deinem, du dünne Latte?«
»Geht dich nichts an. Aber wirf mir deinen Gürtel hoch, und dann schauen wir mal, ob wir zusammen dick genug sind.« Ich zog meinen Ledergürtel aus, schloss ihn wieder zu einer Schlaufe und warf ihn hinauf. Art fing ihn auf und verschwand. Als er wieder auftauchte, hatte er das gelochte Ende meines Gürtels an der Schnalle seines Gürtels befestigt und ließ das eine Ende der miteinander verbundenen Gürtel zu mir herunter. Zusammen waren sie gut einen Meter achtzig lang. »Hoffen wir, dass die Schnalle hält«, sagte er. »Die Niete sieht ziemlich kräftig aus, aber das tust du schließlich auch.«
Art saß am Rand der kreisrunden Öffnung, die Füße an die gegenüberliegende Seite gestemmt. Er wickelte sich eine Lederschlaufe um ein Handgelenk und packte den Gürtel mit beiden Händen. »Versuch, mit den Füßen Halt zu finden«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich dich ohne Unterstützung hochziehen kann.« Ich nickte und kletterte auf das Beweismittelsicherungs-Set. Auf den Zehenspitzen bekam ich gerade so viel von dem Gürtel zu fassen, dass ich ihn mir – genau wie Art – einmal ums Handgelenk schlingen konnte. Er nickte. »Bereit?«
»Bereit. Nein, warte. Sollten wir nicht den Koffer mitnehmen?«
Er überlegte. »Wir haben im Augenblick größere Probleme, als Beweismittel zu sichern. Abgesehen davon glaube ich nicht, dass das geht – du wirst beide Hände brauchen, um hochzukommen.«
»Ja, aber vielleicht müssen wir uns noch mal draufstellen. Du hast wirklich Glück, dass du mit einem Dr. phil. zusammen eingesperrt bist.« Ich stieg von dem Koffer herunter, bückte mich und löste die Schuhriemen meiner Wanderstiefel. Zusammengeknotet ergaben die beiden Schnürsenkel eine Schnur von gut drei Metern. Das eine Ende knotete ich am Griff des Koffers fest, das andere verschnürte ich an meinem Knöchel. Dann stieg ich wieder auf den Koffer, steckte die Taschenlampe in meine Tasche und griff wieder nach dem Gürtel. »Hauruck«, sagte ich, und Art zog.
Nach einigem Gestöhne und Geklettere spürte ich, wie Art zuerst ein Handgelenk packte und dann das andere. Er hievte mich durch die Öffnung und zog mich an Land wie einen Riesenfisch, der keuchend um sich schlägt. Ich löste die Schlaufe an meiner inzwischen lilafarbenen Hand, angelte meine Taschenlampe heraus und legte sie so neben mich, dass sie nach oben leuchtete. Während ich das Beweismittelsicherungs-Set heraufzog, nahm ich meine neue Umgebung in Augenschein. Wir waren in einer enttäuschend kleinen Kammer, schmal und mit niedriger Decke. Ich schaute Art an. »Hältst du das wirklich für einen Fortschritt?«
Er machte ein Pokerface, doch ich glaubte die Spur eines Lächelns um seine Mundwinkel zucken zu sehen. »Schauen wir uns doch mal um.«
Ich brauchte nicht lange, um zu entdecken, warum er lächelte. »Okay, ich sehe Fußabdrücke um die Biegung der Wand. Aber führen die irgendwo hin oder nur in eine Sackgasse?«
»Was meinst du? Sieh dir die Fußspuren an, Sherlock.«
Das tat ich. »Okay, ich sehe Schritte in beide Richtungen. Aber die obersten führen von hier weg.«
»Was bedeutet …?«
»Sie müssen irgendwohin führen.«
»Bingo. Außer, natürlich, wir finden da vorne irgendwo in einer Sackgasse Indiana Jones eingezwängte verschrumpelte Leiche – auf den Spuren Tom Sawyers, sozusagen.«
»Oder Lester Ballard liegt auf der Lauer und wartet darauf, sich uns zu Willen zu machen.«
»Lester? Ich dachte, Lester hätte nur ein Faible für Frauenleichen.«
»Heutzutage«, sagte ich, »weiß man nie. Forensiker geben seltsame Bettgenossen ab.«