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Ich kam eine halbe Stunde zu früh zu Billy Ray Ledbetters Exhumierung, obwohl der Friedhof in Morgan County lag, gut sechzig Kilometer auf einer zweispurigen Straße nordwestlich von Knoxville, am Rand der Cumberland Mountains.

Die Menschen im Cooke County zapften die Appalachen an für Ginseng, schwarzgebrannten Alkohol und Marihuana. Die Menschen in den Cumberland Mountains – einschließlich der, die in der Kreisstadt Wartburg lebten – rissen die Berge selbst auf, bauten im Tagebau minderwertige Kohle ab und hinterließen verstümmelte Bergrücken und mit Schutt und Säure verdreckte Flüsse.

Auch Billy Ray hatte eine Mine betrieben – illegal –, bis das Bergamt sie entdeckt und geschlossen hatte. Danach hatte er Lebensmittelgutscheine und Sozialhilfeschecks geschürft und das meiste von dem, was er bekam, in schummrigen Rasthäusern aus Schlackenbetonsteinen ausgegeben. In einem solchen Rasthaus hatten er und sein Freund Eddie Meacham die Fäuste gegen ein halbes Dutzend hartgesottener Motorradfahrer gehoben. Pech für Meacham war, dass Billy Ray die Rempelei um achtzehn Tage überlebt hatte – bis zu dem Tag, an dem Billy Ray nach Knoxville trampte, um Eddie zu bitten, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Er schaffte es, Eddie zufolge, nicht mehr lebend bis dorthin, denn als er in Meachams Wohnung taumelte, kippte er prompt um, stürzte mit dem Kopf auf einen gläsernen Couchtisch und verschied. Das zumindest war die Geschichte, die Meacham erzählte, und das war die Geschichte, von der Burt DeVriess hoffte, dass die Exhumierung und erneute Untersuchung der Leiche sie erhärten würde.

Am Eingang zum Friedhof stand ein frisch polierter schwarzer Leichenwagen, dessen getönte Scheiben im Takt der Rockmusik bebten, die so laut war, dass sie Tote wecken konnte. Daneben parkte ein Caterpillar-Schaufelbagger in einem zweifarbigen Farbschema aus Gelb und Rost. Aus der Fahrerkabine des Baggers flehte Tammy Wynette mich an, zu meinem Mann zu halten. Ich überlegte, ob jemals jemand zu dem armen Kerl gehalten hatte, dessen ewige Ruhe wir gleich so unhöflich stören würden.

Indianer und New-Age-Anhänger finden es gleichermaßen falsch, eine Leiche auszugraben, nachdem sie zur Ruhe gebettet wurde – es stört den Geist des Verschiedenen, sagen sie –, und ich bin geneigt, ihnen zuzustimmen. Leider war die Alternative noch schlimmer: einen Mörder ungeschoren davonkommen zu lassen oder einen Unschuldigen lebenslänglich hinter Gitter zu schicken. Vor Letzterem versuchte ich Eddie Meacham zu bewahren, indem ich den Geist des verstorbenen Billy Ray störte.

Es war ein grauer und frostiger Morgen, als ein halbes Dutzend von uns sich um ein trauriges kleines Grab außerhalb von Wartburg versammelten. Der Friedhof hockte zusammen mit einer winzigen weißen Holzkirche auf einem schmalen Felsrücken. Die Menschen, die sich versammelt hatten, schwiegen grimmig. Zwei uniformierte Deputys des Sheriffs von Morgan County standen Wache, als bestünde die Gefahr, dass jemand sich mit einem Sperrholzsarg und der Leiche des armen Hunds, die neun Monate lang im Boden verrottet war, aus dem Staub machen würde. Neben dem Staatsanwalt von Knox County, Bob Roper, der immer noch hoffte, seinen Mordfall gegen Meacham zu retten, stand eine forensische Anthropologin aus Louisiana, die er hinzugezogen hatte, um meine Aussage über den unmöglichen Stichkanal womöglich zu widerlegen. Ich hingegen fand mich in der wenig beneidenswerten Position neben Burt DeVriess, meinem Nemesis gewordenen Auftraggeber – ein Arrangement, das, wie ich hoffte, von kurzer Dauer sein und sich niemals wiederholen würde.

Die Anwälte hatten sich darum gestritten, welcher Rechtsmediziner die Leiche ein zweites Mal obduzieren sollte. Das konnte offensichtlich nicht Garland Hamilton, der Medical Examiner von Knox County, sein, da die Kompetenz seiner ursprünglichen Obduktion der Grund war, auf dem Meachams Schuld oder Unschuld jetzt ruhte. Der Fiese hatte angeführt, ein bekannter Gerichtsmediziner von außerhalb des Staates sollte hinzugerufen werden – Dr. Michael Baden zum Beispiel oder Dr. Kay Scarpetta –, denn Hamiltons Kollegen aus Tennessee würden womöglich zögern, ihm zu widersprechen. Der Staatsanwalt hielt dagegen, wenn man nicht darauf vertrauen könne, dass die anderen medizinischen Sachverständigen im Staat in einem schwierigen Fall die Wahrheit sagten, dann sollte man sie sowieso alle entlassen. Habe Mr. DeVriess das damit vorschlagen wollen? Nach einigen sarkastischen Wortwechseln dieser Art hatten beide Anwälte am Ende einverständlich festgestellt, Dr. Carter sei womöglich geeignet für die Aufgabe. Dr. Carter – Jess, wie ich sie nennen durfte, da wir in den letzten fünf Jahren bei einer Handvoll Fälle zusammengearbeitet hatten – war Absolventin der Harvard Medical School. Wie und warum sie in Chattanooga gelandet war, war mir ein ewiges Rätsel, doch sie war eine weithin geschätzte Expertin für die Unterscheidung zwischen Traumata ante mortem, perimortem und postmortem – dafür, ob Wunden vor, während oder nach dem Tod zugefügt worden waren. Wenn genügend Weichgewebe übrig war, das sie untersuchen konnte, würde sie wahrscheinlich sagen können, ob Ledbetter tatsächlich an einer bizarren Stichwunde verblutet war, einer Stichwunde, deren Kanal ich an einer Leiche nicht hatte reproduzieren können.

Während Tammy Wynette gerade den Schlusschor schmetterte, polterte der Schaufelbagger auf den Friedhof und folgte den Handzeichen eines Deputys zu Ledbetters Grab. Auf ein Nicken von Bob Roper hin begann die Maschine, die felsige rote Erde aufzugraben.

Der Boden war noch weich – es dauert gut ein Jahr, bis aufgewühlte Erde sich wieder festigte, und selbst dann ist sie nie mehr so hart wie vorher. Anthropologen waren sehr abhängig von dieser Eigenheit, denn dadurch konnten wir alte Begräbnisstätten finden und freilegen. Am Anfang meiner Karriere zum Beispiel hatte ich viele Sommer lang jahrhundertealte Gräber der Arikara-Indianer in South Dakota ausgegraben, immer einen knappen Schritt vor dem steigenden Wasser eines neuen Stausees des U.S. Army Corps of Engineers. Die runden Arikara-Gräber lagen unter einer dreißig Zentimeter dicken Lössschicht. Nachdem wir zwei zermürbende Sommer lang mit der Hand gegraben hatten, machte ich ein paar Experimente und fand heraus, dass ein Straßenhobel das perfekte Gerät war, um die Grabstellen schneller freizulegen: Der Straßenhobel trug die Deckschicht des Mutterbodens nach und nach in flachen Schichten und in langen gleichmäßigen Bahnen ab, und sobald die Ebene der Gräber erreicht war, tauchten ordentliche Kreise lockererer, aufgegrabener Erde auf. Mit dem schweren Gerät waren wir zehn Mal schneller – womit wir gleichzeitig unsere Geldgeber von der Smithsonian Institution erfreuten und Jahre später indianische Aktivisten entsetzten.

Auch die Spurensicherung baute auf diese Eigenschaft des Erdreichs. Statt ein ganzes Feld oder Waldstück umzugraben, in dem man eine vergrabene Leiche vermutete, stach der Kriminaltechniker mit einer T-förmigen Sonde – einem dünnen Eisenstab mit einem Griff am oberen Ende – in den Boden. Stieß die Sonde auf Widerstand, war die Erde wahrscheinlich unberührt, doch wenn sie leicht in den Boden eindrang, wusste der Kriminaltechniker, dass dort kürzlich jemand gegraben hatte. Eine technisch höher entwickelte Version der Erdsonde war das Bodenradar, zu dessen Verbesserung wir auf der Body Farm unseren Beitrag geleistet hatten: Ein erfahrener Polizist konnte, indem er einen Radarscanner über den Boden zog, die relative Dichte des Bodens bestimmen (indem er magnetische Kringel und Schnörkel las, die mir vollkommen willkürlich erschienen).

Der Bagger klapperte und ruckte, als er das Grab aufschaufelte, und der Erdhaufen neben dem Grab wuchs stetig. Schließlich verriet ein lautes Rumpeln und Kratzen uns, dass der Baggerführer die oberste Schicht des Betongewölbes erreicht hatte, das den Sarg selbst umschloss. Nach einigen weiteren Kratzern – die an meinen Nerven zerrten wie hundert lange Fingernägel, die über hundert Tafeln kratzten – hob er die Schaufel und kletterte von seiner Maschine herunter. Vom hinteren Teil seines schweren Geräts holte er zwei Stahlketten, klinkte vier Metallhaken in die Ringbolzen am Deckel des Gewölbes und zog die Kette über die Baggerschaufel. Sobald er wieder auf dem Führersitz saß, zog er die Kette an und hob den Betondeckel hoch, von dessen Rändern roter Lehm bröselte, während er langsam aus dem Grab schwebte. Der Baggerführer schwenkte den Deckel zu einer Seite und legte ihn auf dem feuchten Gras ab, wo er einen verirrten Strauß verblichener Plastikblumen zerdrückte.

»Doc, wie kommt es, dass Gräber überhaupt mit diesen riesigen Betondingern ausgekleidet sind?«, fragte DeVriess. »Kommt mir doch ziemlich sinnlos vor. Ich meine, die Leichen verwesen doch trotzdem, oder?«

»Klar«, sagte ich. »Aber die Menschen, also die Lebenden, auf die Beerdigungen, Särge und Friedhöfe eine tröstliche Wirkung entfalten sollen, denken nicht gern daran, also versuchen sie, es mit Einbalsamierungsflüssigkeit, korrosionsbeständigen Särgen und betonverstärkten Gräbern hinauszuzögern.« DeVriess verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf über so viel Narretei. Das gefiel mir nicht – diese selbstgefällig zur Schau gestellte Überlegenheit gefiel mir ganz und gar nicht –, also fuhr ich fort: »Sie finden das dumm?« Er nickte unverbindlich zur Seite. »Um Ihres Mandanten willen sollten Sie beten, dass dieses Gewölbe schön dicht war und der nicht sehr stabile Holzsarg trocken stand und der Bestattungsunternehmer nicht mit Einbalsamierungsflüssigkeit geknausert hat, was viele tun. Denn es könnte sein, dass dies das Einzige ist, was ihm den Hals und Ihnen den Fall rettet.« Meine Stimme war lauter geworden, während ich das sagte, und ich bemerkte, dass sich einige Köpfe nach uns umdrehten. Ich hielt den Mund und ging auf die andere Seite des Grabs.

Das Gewölbe hatte den größten Teil des Grundwassers abgehalten, aber nicht alles. Die Gummidichtung, die um den oberen Rand des Gewölbes lief, war wohl leicht verrutscht, denn eine kleine Schlaufe davon baumelte schlammverschmiert ins Gewölbe und verriet, wo die Versiegelung nicht dicht gewesen war. Ein glitschiger, mehrere Zentimeter tiefer Graben umgab den Sarg, der sich durch das Nachbeben der Baggerstöße noch leicht hin und her bewegte. Unsicher auf dem betonierten Rand hockend, zwängte der Totengräber gewebte Gurte unter die Enden des Sargs und schob sie gut dreißig Zentimeter darunter, wie Zahnseide, die um einen riesigen Zahn gezogen wird. Nachdem er die Gurte an der Baggerschaufel befestigt hatte, hob er den Sarg aus dem Grab, genau wie vorher den Deckel des Gewölbes. Aus einer Ecke des Sargs tropfte eine übelriechende graue Brühe. Es sickerte noch, als der Sarg schon auf dem Boden stand, und ich war froh, dass ich nicht angeboten hatte, den Sarg in meinem Wagen zurück ins Leichenschauhaus zu fahren. Der Totengräber, der Leichenwagenfahrer und zwei Deputys hievten den Sarg hinten in den Leichenwagen, und der kleine Konvoi fuhr zurück nach Knoxville – ein Leichenzug, der auf bizarre Weise rückwärts abgespult wurde.