18
Bei der ersten Telefonnummer, die Jim O’Conner mir gegeben hatte, ging niemand ran, also versuchte ich es bei der zweiten. »Tag, Doc«, dröhnte nach dem zweiten Klingeln eine tiefe Stimme.
»Hallo? Spreche ich mit … Waylon?«
»Sicher doch.«
Ich war verdutzt, dass ich den Bergmenschen am Apparat hatte und nicht O’Conner. »Tut mir leid, Sie am Sonntagmorgen zu stören, Waylon. Ich versuche, Jim zu erreichen. Woher wissen Sie, dass ich es bin?«
»Ihr Leute aus der Stadt seid nicht die Einzigen, die eine Anruferkennung habt«, sagte er. »Bei uns hier oben gibt’s auch Hightech, Doc. Zum Teufel, er hat mir sogar ein Modem und einen High-Speed-Internetzugang besorgt.« Ich versuchte mir vorzustellen, auf was für Webseiten Waylon wohl surfte – Jagdausrüstung? »Wie überlebe ich in der Wildnis«-Seiten? Hinterwäldler-Kleinanzeigen (»Toleranter Schwarzbrenner sucht abenteuerliches schwarzes Schaf für Liebesbeziehung«)? –, dann schauderte mir, und ich bemühte mich, die Bilder aus meinem Kopf zu vertreiben. »Jim ist ein paar Tage nicht in der Stadt. Was kann ich für Sie tun?«
»Sie können mir vielleicht einen großen Gefallen tun, Waylon. Sie kennen doch die Höhle, in der wir die Leiche gefunden haben – Russell’s Cove, heißt sie, glaube ich?«
»Sicher. Hab als Kind darin gespielt.«
»Wäre es möglich, dass Sie mich hinbringen? Ich muss mich da noch mal umsehen, und ich möchte ungern den Sheriff oder seinen Deputy belästigen. Wenn das nicht geht, dann sagen Sie es einfach – ich weiß, dass sie weitab liegt. Wir haben mit unseren Enduros über eine Stunde gebraucht, um da hoch zu kommen.«
Am anderen Ende herrschte eine ganze Weile Schweigen, und ich hatte schon den Verdacht, dass er nach einer Ausrede suchte.
»Sie haben über eine Stunde gebraucht, um da hin zu kommen? Mit ’nem Geländemotorrad, sagen Sie?«
»Mindestens eine Stunde, auf einem ziemlich holprigen Weg rauf in die Berge. Mir tun jetzt noch die Beine weh; noch mal hin und zurück, und ich sitze womöglich im Rollstuhl.«
Er lachte. »Na, Doc, da kann ich Ihnen, glaube ich, helfen. Wie wäre es, wenn wir uns in einer Stunde an der Pilot-Tankstelle an der Interstate-Abfahrt treffen?«
»Wie wäre es mit anderthalb Stunden? Ich muss noch in meinem Büro vorbeifahren und meine Kamera holen und ein bisschen Werkzeug.« Er war einverstanden, und ich legte auf. Hoffentlich war das kein dummer Fehler.
Ich hatte damit gerechnet, dass Waylon einen Pick-up fuhr; aber ich war nicht darauf vorbereitet, was für ein Pick-up das sein würde. Erwartet hatte ich eine zerbeulte Rostlaube mit einem bunten Muster aus grauer Spachtelmasse und vielfarbigen, auf verschiedenen Schrottplätzen aufgelesen Karosserieteilen. Doch neben dem Fahrzeug, das an der Tankstelle auf mich wartete, sah mein ausgewachsener GMC Sierra geradezu schäbig aus. Der Dodge Ram 3500 war mindestens dreißig Zentimeter länger, breiter und höher als mein Pick-up. Waylon besaß den Arnold Schwarzenegger unter den Pick-ups. Zwei senkrechte Auspuffrohre, die gut und gerne von einem Kenworth-Sattelschlepper stammen konnten, flankierten die hinteren Ecken der Fahrerkabine. Die Heckkotflügel bogen sich weit über die doppelte Bereifung, aufgemotzte Monsterreifen auf edlen Felgen. Waylon kam gemächlich aus dem Minimarkt und angelte einen Funkschlüssel aus einer seiner unzähligen Taschen; und als er darauf drückte, um die Türen aufzuschließen, klang es, als würde sich der Schließmechanismus eines Banktresorraums in Bewegung setzen. Eine Fanfare unter dem Fahrzeug stieß ein Schmettern aus, das einer Lokomotive würdig gewesen wäre. Mit einer ausladenden Geste forderte Waylon mich auf einzusteigen.
Ich hob den Fuß – hoch! – auf ein Trittbrett und hievte mich mit Hilfe eines senkrechten Handlaufs achtern der Tür nach oben. Von der Kletterpartie noch stöhnend, ließ ich mich auf meinen Sitz fallen – eine drehbare Luxusausführung, bezogen mit butterweichem Handschuhleder. Das Armaturenbrett und die Dachkonsole strotzten vor so viel Elektronik, dass ein Techniker vom NORAD – dem Nordamerikanischen Luft- und Weltraum-Verteidigungskommando – leicht neidisch werden konnte: GPS, Moving-Map-System, Satellitenfunk, CB-Funk, Handy mit Freisprechanlage, CD/Kassetten/AM-FM-Stereoanlage und am Beifahrersitz sogar ein DVD-Player. Zwischen uns summte leise ein kleiner Kühlschrank – groß genug für eine Kiste Bier oder eine Wildbretkeule.
Ich drehte mich auf meinem Sitz um und besah mir die hintere Kabine.
»Brauchen Sie etwas, Doc?«
»Nein, ich habe nur nach dem Whirlpool gesucht«, sagte ich. »Sie scheinen hier drin ja alles zu haben.«
Waylon stieß ein knurrendes Lachen aus. »Ich sollte mir einen einbauen lassen. Die Sache ist nur die, dass ich dann meine Freundin gar nicht mehr hier raus bekäme.«
Er drehte den Zündschlüssel, und irgendwo unter uns erwachte ein schlafender Riese von einem Triebwerk. »Cummins Turbo Diesel«, hatte ich seitlich auf der Motorhaube gelesen, als ich hochgeklettert war. Die Fahrerkabine zitterte leise, wenn der Motor im Leerlauf lief, und das Rumpeln des Motors hatte mehr als eine entfernte Ähnlichkeit mit Waylons Lachen: tief und gedämpft, dabei einfach und kraftvoll. »Klingt so, als hätten Sie da ein paar gefährliche Pferdestärken«, sagte ich.
»Das kommt schon hin. Es gibt zwar noch einen Benzinmotor mit mehr PS, einen 10-Liter V-10-Motor, aber der hat einen beschissenen Benzinverbrauch. Der hier hat sowieso mehr Drehmoment. Schleppt in dieser Version zehn Tonnen. Abgesehen davon ist ein Cummins einfach unschlagbar. Muss erst nach über fünfhunderttausend Kilometern überholt werden.«
Ein weiteres Rohr mit einer Kappe aus Maschendraht und Chrom führte von irgendwo auf meiner Seite des Motorraums nach oben. »Was ist das Ding da? Sieht aus wie ein Rauchabzug.«
»Schnorchel«, sagte Waylon. »Mit dem können Sie einen ein Meter achtzig tiefen Wasserlauf durchfahren. Hilft natürlich, wenn Sie ein bisschen Gewicht im Kofferraum haben, besonders bei Strömung. Das ist ein Teufels-Truck, aber sobald er anfängt zu schwimmen, geht das Fahrverhalten zum Teufel. Man will dann natürlich auch nicht die Fenster runtergekurbelt haben.«
Als er unter der Interstate durchdonnerte und landeinwärts fuhr, wandte Waylon sich mir halb zu. »Doc, ich habe auf dem Rückweg von der Höhle noch eine kleine finanzielle Angelegenheit zu regeln, und dafür müsste ich auf dem Weg rauf kurz halten. Falls Ihnen das nichts ausmacht.«
Die Formulierung gab mir zu denken. In Virginia, wo ich aufgewachsen war, war »es macht mir nichts aus« eine höfliche Formulierung für »lieber nicht« oder sogar, bei entsprechend eisiger Modulation, »nein, zum Teufel«. Mir war jedoch aufgefallen, dass es im Osten von Tennessee – zumindest in den Bergen – genau das Gegenteil zu bedeuten schien. Ich war mir nicht sicher, was für finanzielle Transaktionen Waylon an einem Sonntag durchführen konnte, aber ich sagte ihm, es mache mir nichts aus.
Wir fuhren ein paar Meilen auf der Straße am Fluss nach Norden, dann bog er links auf eine unbezeichnete gepflasterte Straße, die in einem bewaldeten Tal verschwand. Mitten auf einer kleinen, mit Maschendraht eingezäunten Lichtung stand dicht am Straßenrand ein kleines, gewöhnliches Backsteinhaus; in der Einfahrt parkte ein Wagen des Cooke County Sheriffs. Ich zeigte darauf. »Hier wohnt Tom Kitchings?«
»Nein«, brummte Waylon. »Sein verdammter Bruder Orbin. Der erbärmlichste Hurensohn in ganz Cooke County.« Er öffnete den Mund, als wollte er noch etwas hinzufügen, schloss ihn dann jedoch wieder.
Vierhundert Meter die Straße hinauf bogen wir links auf einen breiten, frisch gekiesten Streifen, der den Berg hinauf zur Mündung eines kleinen Tals führte. »Gleich da oben ist unser erster Halt«, sagte Waylon. Wir hatten kaum das Straßenpflaster verlassen, da hielt er auch schon an einer kleinen Bude, in deren Glastür eine blonde Frau Mitte dreißig erschien. In enger Designerjeans und kurzer Wildlederjacke hätte sie gut als modebewusste Mutti aus einem der westlichen Vororte von Knoxville durchgehen können, die plötzlich vom Fußballspiel ihres Kindes oder aus dem Einkaufszentrum hier raus in die Wildnis gebeamt worden war. Waylon kurbelte sein Fenster herunter und reichte ihr eine laminierte Karte. Sie scannte sie mit einem tragbaren Barcode-Lesegerät, gab sie ihm zurück und winkte uns weiter. Hightech, allerdings! Als sie sich umdrehte, um in die Bude zurückzugehen, wies Waylon mit einer Kopfbewegung auf ihren stramm verpackten Hintern. »Das allein ist die Reise doch schon wert, oder, Doc?« Ich wollte es nicht zugeben, aber die Aussicht war umwerfend.
Der Schotterweg weitete sich bald zu einem großen Parkplatz, vierzig oder fünfzig Meter breit und mindestens so lang wie ein Footballfeld, in die Senke hineinplaniert. Der Platz war voll, drei ordentliche Reihen diagonal parkender Pkws und Kleinlaster. Als wir auf der Suche nach einem freien Stellplatz eine Spur hinunterfuhren, hörte ich bei hundertfünfzig Fahrzeugen auf zu zählen, größtenteils Pick-ups mit Nummernschildern aus Tennessee, North Carolina, South Carolina, Georgia, Alabama, Florida und Kentucky, ja sogar von so weit weg wie Oklahoma und Texas. Das Einzige, was mir dazu einfiel, war, dass hier wohl im großen Stil Autos versteigert wurden – ein ähnliches Auktionszentrum lag an der Interstate 75 zwischen Knoxville und Chattanooga –, obwohl es mir ein Rätsel war, warum dieses hier so weit abgelegen war.
Am oberen Ende des Platzes befand sich ein blechverkleidetes Gebäude von der Größe einer Scheune, umgeben von einem Dutzend kleinerer Gartenschuppen, ramponierter Wohnwagen und einem neuen zweistöckigen Gebäude, das an ein kleines, fensterloses Motel erinnerte, mit Dutzenden von Türen, die auf den Bürgersteig im Erdgeschoss oder auf einen Balkon im ersten Stock führten. Am Ende musste Waylon wieder fast bis zu der Bude am Eingang fahren, bevor er eine freie Parkbucht fand, also gingen wir zu Fuß über den langen gekiesten Parkplatz zu dem großen blechverkleideten Gebäude, das das Zentrum des Komplexes zu sein schien.
»Das ist ja eine ziemliche Anlage hier«, sagte ich, als wir über den groben Schotter stapften.
»Ja, die ist hier schon, seit ich denken kann«, sagte er, »aber unter dem Paar, das das Geschäft vor ein paar Jahren gekauft hat, scheint der Laden wirklich zu expandieren.«
»Bieten Sie auf eins der Fahrzeuge hier? Ich habe auf dem ganzen Platz kein Auto gesehen, das dem Pick-up, den Sie fahren, das Wasser reichen könnte.«
»Bieten?« Waylon kicherte. »Na, so könnte man es nennen, schätze ich.«
Das blechverkleidete Gebäude erbebte unter einer Kakophonie aus Schreien und Schlachtrufen. Bei der Auktion geht es aber hoch her, dachte ich. In der Mitte der Längsseite war eine Tür. Als wir näher traten, erhaschte ich einen Blick auf zwei Augen, die durch einen schmalen Schlitz in der Tür linsten. Die Augen musterten mich eine unbehaglich lange Weile mit einem Ausdruck, den ich als eine Mischung aus Misstrauen und Feindseligkeit empfand, dann richteten sie sich auf Waylon. Waylon schien die Iris oder die Pupillen durch den Schlitz zu erkennen. »Hey, T-Ray, lässt du uns jetzt rein, oder müssen wir von hier draußen zuhören?«
Eine näselnde Stimme drang durch den Schlitz. »Wen hast du da mitgebracht?«
»Einen Freund von mir und Jim aus Knoxville. Er ist in Ordnung.«
»Ich will’s hoffen.«
Waylon nickte mit seinem mächtigen Kopf; allerdings war ich mir nicht sicher, ob er damit unterstreichen wollte, ich sei tatsächlich in Ordnung, oder ob er damit auf das reagierte, was hinter dem unausgesprochenen »sonst« des anderen Mannes steckte. Vielleicht beides. Jedenfalls verschwanden T-Rays Augen, ein Eisenriegel wurde zurückgeschoben, und die Tür ging auf. »Bleiben Sie dicht bei mir«, knurrte Waylon mir ins Ohr, und wir traten ein.
Ich brauchte einen Augenblick, um mich zu gewöhnen – nicht an das Halbdunkel, das ich erwartet hatte, sondern an das grelle Licht der Neonröhren, das ausgereicht hätte, um das Neyland-Stadion für ein Nachtspiel der Tennessee Volunteers zu erhellen. Rund zweihundert Menschen drängten sich in dem Schuppen, einige standen, andere hockten auf hölzernen Tribünen, die steil bis fast zum Dach anstiegen. Es waren größtenteils dickbäuchige Männer und schlaksige Jungen, obwohl ich auch mehrere Frauen sah und sogar eine Handvoll junger Mädchen, die in der obersten Reihe der Tribüne zusammensaßen. Die Hautfarbe reichte von teigigem Weiß bis zu lateinamerikanischem Olivbraun; die Kleidung reichte von Overalls und Schirmmützen bis hin zu Hüftjeans, Schlangenlederstiefeln, Abercrombie-Sweatshirts und milchweißen Stetsons.
Eine schmale Lücke teilte die Ränge direkt vor uns, und dort hindurch erhaschte ich einen Blick auf eine runde Einfriedung in der Mitte der Halle. Waylon schob sich darauf zu, und eingedenk seiner Anweisung und T-Rays feindseligem Blick blieb ich ihm dicht auf den Fersen.
Als wir uns der Einfriedung näherten, sah ich, dass es sich um einen Kreis von gut viereinhalb Metern Durchmesser handelte, der bis in eine Höhe von zweieinhalb, drei Metern von Maschendraht umgeben war. Der Boden bestand aus gestampfter Erde. Staub hing in der Luft wie trockener Nebel und machte die Szene noch surrealer, als sie es eh schon war. Rufe durchdrangen den Hintergrundlärm: »Hundert auf den Roten!« – »Fünfzig auf den Grauen!« – »Setz fünfzig!« – »Fünfhundert auf den Roten!« Waylons dröhnende Stimme zerfetzte mir beinahe das Trommelfell.
Im Ring standen zwei Männer einander gegenüber. Der eine war ein Alter mit langem Bart, der an einen alttestamentlichen Propheten erinnerte, in einem ausgebeulten Overall. Der andere war ein junger Südamerikaner in einem gut sitzenden braunen Overall, auf dem »Felipe« zu lesen war. Sie beugten sich zueinander vor und pendelten und schwankten rhythmisch hin und her, wobei sie etwas an die Brust zu drücken schienen. Ich versuchte immer noch dahinterzukommen, was es war, als sie sich gleichzeitig hinhockten und dann wieder aufstanden, jetzt mit leeren Händen. Einen Augenblick herrschte Stille in dem Getöse, gefolgt von einem explosiven Wirbel aus Flügeln und Federn, das plötzlich wieder von grauenhaftem Kreischen und heiserem Beifall begleitet wurde. »Gib’s ihm, Roter! Gib’s ihm! Los geht’s!«
»Komm schon, Grauer! Stürz dich auf ihn!«
Ich schaute entsetzt zu, wie zwei Hähne mitten in der Luft die Flügel kreuzten, mit den Füßen traten und an einander rissen, während sie Mühe hatten, sich in der Luft zu halten. An ihren Beinen schimmerten Klingen auf, und ich wusste mit Übelkeit erregender Sicherheit, dass der Hahnenkampf, in den ich mitten hinein gestolpert war, rasch enden würde. Hahnenkämpfe waren in Tennessee mittlerweile illegal – so viel wusste ich –, ebenso wie in allen anderen Staaten außer in Oklahoma, Louisiana und New Mexico, doch in einer ärmlichen Gegend wie im Cooke County, wo man das Gesetz eher als Herausforderung denn als Verhaltenskodex betrachtete, überraschte es mich kaum, dass es sie immer noch gab.
Die Vögel trudelten in einem Knoten aus Federn und Blut zu Boden. »Gib’s ihm, Baby, gib’s ihm, Baby, gib’s ihm, Baby«, skandierte eine gebleichte Blondine, die rechts neben mir saß. »Mach ihn fertig, Roter«, schrie ein Mann zu meiner Linken.
Im Ring gab ein dritter Mann – anscheinend gab es auch beim Hahnenkampf Ringrichter – den Trainern der Vögel ein Zeichen, und die entwirrten die ineinander verknäulten Hähne. Die Männer drückten sich die Vögel wieder an die Brust, strichen ihre Federn glatt und pusteten ihnen warme Luft auf den Rücken; sie schienen sogar die Lippen um den Kamm der Hähne zu legen, als wollten sie sie wärmen, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob das wirklich in ihrer Absicht lag oder ob es bloß so etwas wie ein Glücksritual war.
In der ersten Runde hatte der rotschwarze Hahn kleiner, aber schneller und aggressiver ausgesehen; der, den sie den Grauen nannten (eigentlich war er mehrfarbig, Hals und Kopf in gebrochenem Weiß) wirkte dagegen stark und hart. Es schien eine klassische David-gegen-Goliath-Partie zu sein – außer dass der David aus der Bibelgeschichte, wenn ich mich recht erinnerte, nur mit einer Schleuder und einem Stein bewaffnet war. Diese Vögel jedoch waren mit gewetztem Stahl bewaffnet. An der Rückseite eines Beins – mit einem Lederband dort angebunden, wo der Stumpf des Sporns saß – trugen beide Hähne eine schimmernde, fünf Zentimeter lange Messerklinge. Der Vorsicht nach zu urteilen, mit der die Trainer die Vögel anfassten, waren die Klingen rasiermesserscharf. »Halt durch, Flea-Pay«, schrie ein sommersprossiger Teenager dem Südamerikaner zu, der den grauen Hahn streichelte und bepustete.
Die Trainer begannen wieder mit ihrem rhythmischen Tanz, der, wie ich jetzt sah, eigentlich dazu diente, die Vögel aufzuhetzen, damit sie bereit waren zum Kampf. Während die Trainer nur ein oder zwei Schritte voneinander entfernt kreisten, tänzelten und schwankten, schossen die Köpfe der Hähne aufeinander zu, kamen sich nah, ohne sich jedoch zu berühren. Sobald die Vögel hinreichend aufgebracht waren, setzten die Trainer sie zur nächsten Runde auf den Boden. Der Graue schoss, sobald er losgelassen wurde, wütend auf den Roten los und sprang hoch, um ihm einen Hieb zu versetzen. Statt ihm entgegen zu springen, duckte sich der rote Hahn diesmal jedoch und lief unter dem anderen durch, fegte herum und warf sich dem Grauen dann auf den Rücken, mit den Füßen wirbelnd wie eine Windmühle. Die Menschenmenge stieß einen kollektiven Schrei aus, dann wurde es unheimlich still. Der graue Hahn taumelte zur Seite, schnappte ein paarmal keuchend nach Luft und starb in einer kleinen Blutlache. Der rote Hahn schüttelte sich heftig und plusterte sich auf, dann stolzierte er zu dem Kadaver seines unterlegenen Rivalen und pickte an dem reglosen Leib herum. Als Nächstes stellte er einen Fuß auf den Kopf des Grauen, plusterte sein Brustgefieder auf, warf den Kopf zurück und krähte triumphierend. Wie als Antwort darauf machte sich die Menschenmenge – bis auf die wenigen niedergeschlagenen Verlierer, die auf den Grauen gesetzt hatten – mit gleichermaßen primitivem Beifallgejohle Luft. Ein Teenager schlenderte vorbei, in der Hand eine Pappschale mit gebratenen Hühnchenstreifen.
Waylon beugte sich zu mir herüber und schrie: »Der Rote ist ein Gewinner, was? Ich glaube, das ist sein zehnter Sieg für dieses Jahr.«
Bestürzt über das tierische Gemetzel und die menschliche Brutalität schrie ich voller Sarkasmus: »Ja, zu schade, dass ich nicht die Gelegenheit hatte, auf ihn zu setzen.«
Entweder verstand Waylon den Sarkasmus nicht, oder er überhörte ihn absichtlich. »Wenn wir eine Minute eher hier gewesen wären, hätten Sie setzen können. Ich hab hundert auf ihn gesetzt. Wollte fünf Hunnis setzen, aber die wollte keiner annehmen. Einfache Methode, einen Hunderter zu machen.«
»Sagen Sie das mal dem toten Hahn«, meinte ich nur.
Er wirbelte herum, um mich zu mustern, und nickte dann. »Tja, alles eine Frage der Perspektive – oder besser gesagt, der eigenen Position in der Hackordnung, oder?«
»Dann war das die finanzielle Angelegenheit, die Sie noch regeln mussten, eine Wette beim Hahnenkampf?« Er nickte.
»Das ist nicht für mich, Doc, und ich tue es auch nicht zum Spaß. Ein Cousin von mir steckt in Schwulitäten. Das hier ist der schnellste Weg, ein bisschen Geld für ihn aufzutreiben.«
»Weiß Orbin Kitchings, dass sich nur einen Steinwurf von seinem Haus entfernt eine Hahnenkampfarena befindet?«
Waylon spuckte in das Sägemehl auf dem Boden, das Blut und Spucke gleichermaßen rasch aufsaugte. »Ob er es weiß? Verdammt, er ist regelmäßig dabei. Bekommt seine Prozente von den Einnahmen, setzt aber auch hohe Beträge. Wenn er gewinnt, streicht er fix ein. Wenn er verliert, dann friert eher die Hölle zu, als dass er zahlt. Deswegen will keiner seine Wetten annehmen, außer er setzt einen unter Druck, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Allmählich bekam ich ein klareres Bild von der Sache, und es war ein äußerst bestürzendes Bild des Chief Deputys von Cooke County. »Hören Sie, Doc, ich muss noch mit dem Kerl da drüben reden. Dauert keine Minute.« Er griff in eine Tasche und holte einen kleinen runden Behälter von der Größe und Form einer Thunfischdose heraus. »Hier, bedienen Sie sich, während Sie warten.« Er machte den Deckel auf, und ich roch den feuchten, scharfen Geruch von Tabak. Erstaunt schaute ich darauf: In all den Jahren im Osten von Tennessee hatte man mir noch nie einen Priem angeboten; und jetzt stand ich am Ring eines illegalen Hahnenkampfs und hatte eine ganze Dose Kautabak in der Hand. Was kommt als Nächstes?, überlegte ich. Schwarzbrennerei? Nutten? Sex mit Tieren? Waylon sah die Unsicherheit in meinen Augen. »Sie haben noch nie Kautabak gekaut?«, fragte er ungläubig. Ich schüttelte den Kopf. Er hielt die Dose näher und lächelte ermutigend, einen verirrten Faden zerkauten Tabaks zwischen den oberen Schneidezähnen.
Ein Mann beugte sich von der Tribüne herunter, offensichtlich interessierte unser Gespräch ihn. »Mach schon, Kumpel, probier’s.«
Waylon schaute auf. »Oh, hey, Rooster.«
Rooster nickte Waylon zu und mischte sich dann weiter ein. »Greif zu, das macht dich munter. Siehst aus, als könntest du ein bisschen Aufmunterung gebrauchen.«
Was soll’s, dachte ich und griff mit Daumen und Zeigefinger hinein. Ich schnappte mir etwas von den feuchten, in Streifen geschnittenen Blättern und schob es langsam zum Mund. Waylon lachte. »Na, Doc, das war nicht genug. Nehmen Sie noch ein bisschen.« Ich griff hinein und verdoppelte die Größe meiner Portion. »Ach, zum Teufel, das merken Sie doch gar nicht. Machen Sie schon, nehmen Sie einen ordentlichen Klumpen.« Verlegen griff ich zum dritten Mal zu und nahm noch den Mittelfinger zu Hilfe. Diesmal hielt ich einen zottigen Klumpen Copenhagen von der Größe eines Wattebauschs zwischen den Fingern. Waylon zwinkerte zustimmend, dann zog er die Unterlippe runter – hinter der gnädigerweise im Augenblick nichts steckte – und zeigte mir, wohin ich den Klumpen stopfen sollte. Als ich tat wie geheißen und sorgfältig die losen Fäden hineinstopfte, strahlte er. »Doc, wir machen noch einen guten alten Kerl aus Ihnen«, sagte er. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle, ich bin gleich wieder da.« Ich nickte, denn ich fürchtete, wenn ich etwas sagte, würde ich mich anhören, als hätte ich eine Hasenscharte oder würde eine einzige sabbernde Sauerei veranstalten. Waylon nickte mir noch einmal anerkennend zu und fühlte sich dazu berufen, mir einen letzten Rat zu geben. »Mischen Sie sich einfach unters Volk.«
Damit schob er sich mit überraschender Anmut durch die Menschenmenge. Auf der gegenüberliegenden Seite des Rings beugte er sich zu einem runzeligen Zwerg von einem Mann vor, um mit ihm zu reden. Der Mann, dessen faltiges Gesicht an abgewetztes Leder erinnerte, langte in eine Tasche und zog eine dicke Rolle Banknoten heraus, schälte eine ab und reichte sie Waylon. Waylon beugte sich weiter vor und redete eindringlich auf den Mann ein, doch der schüttelte stoisch den Kopf.
In diesem Augenblick trat ein anderes Trainerpaar in den Ring, begleitet von einem neuen Ringrichter. Die Trainer hatten Nummern auf dem Rücken; diese beiden waren Nummer neunundzwanzig und Nummer siebenundfünfzig. Wenn die Teilnehmernummern mit eins anfingen und durchgezählt wurden, dann war dieser Hahnenkampf ein Sport, der es an Blutrünstigkeit gut mit den Vergnügungen im alten Rom aufnehmen konnte. Und wenn die Wetten, die für diesen Kampf getätigt wurden, typisch waren – Dutzende Zwanzig-Dollar-Wetten, ein paar mehr auf vierzig, fünfzig und hundert Dollar, eine sogar auf tausend –, dann wechselte hier zudem noch sehr viel Geld den Besitzer. War es möglich, dass der Sheriff selbst von all dem nichts wusste? Oder – und das kam mir weitaus plausibler vor – wurden Tom Kitchings und seine Deputys alle bezahlt, um wegzuschauen?
Im Ring begannen die zwei neuen Trainer ihren Aufwärm-Tanz. Darauf bedacht, nicht noch einmal Zeuge eines Kampfes auf Leben und Tod zu werden, wandte ich mich ab und schob mich in Richtung der Längswand. Mein Mund füllte sich mit Spucke; ich hatte nichts, um hineinzuspucken, also schluckte ich sie und hätte beinahe gewürgt. Mein Kopf summte ein wenig, was mich überraschte, schließlich hatte ich den Tabak kaum länger als eine Minute im Mund.
Eine Handvoll Männer traten zur Seite, als ich mich der Wand näherte, und ich sah, worum sie sich versammelt hatten. In einem kleineren, eckigen Ring kroch ein übel zugerichteter, blutverschmierter weißer Vogel – er hatte nur noch ein Auge und schleifte einen Flügel hinter sich her – immer im Kreis herum, um einem Hahn zu entkommen, der weitestgehend unversehrt war, außer dass sein linkes Bein zerfetzt war. Der aufrechte Vogel hüpfte mutig hinter seinem Gegner her, doch er hatte noch nicht richtig raus, wie er mit nur einem gesunden Bein hüpfen, zuschlagen und sich wieder in Ausgangsstellung bringen konnte, also pickte er nur auf das verbleibende Auge seines Widersachers ein und zupfte an dessen zerfetztem Kamm. Jedes Mal, wenn er einen Schnabel voll Kamm erwischte, geriet er aus dem Gleichgewicht und fiel auf den unterlegenen Hahn. Obwohl es weniger blutig war als der Messerkampf im Hauptring, kam mir dieses Spektakel irgendwie noch schlimmer vor, weil es das Leiden verlängerte. Ich war angewidert und gleichzeitig wie hypnotisiert, unfähig, mich abzuwenden. Ich sah zu, wie die Trainer die Vögel drei Mal trennten, streichelten und anpusteten, bis sie wieder Leben in sich hatten, sie aus ihrer Stumpfheit mit glasigem Blick so weit herausholten, dass sie für kurze Zeit wieder auflebten und in Raserei gerieten. Beim vierten Versuch schließlich schaffte der hüpfende Hahn es: Der lang gebogene Dorn an seinem gesunden Bein stieß tief in den Bauch des weißen Vogels hinein, der schwach kreischte und dann leblos zu Boden plumpste. »Mist«, spuckte sein Trainer, langte in den Ring, zog den toten Vogel an seinem ausgerenkten Flügel heraus und warf ihn dann in einen Mülleimer dicht neben mir. Der andere Trainer beugte sich ebenfalls in den Ring, packte den Sieger am Kopf und ließ ihn einmal kurz kreiseln, was ihm den Hals brach, bevor er den Vogel ebenfalls in den Mülleimer warf.
Plötzlich begann sich die Scheune in einem verschmierten Fleck aus Nikotin und Übelkeit, Blut und Schirmmützen um mich zu drehen. Irgendetwas in dem Copenhagen oder in dem Gemetzel hatte sich mit meiner Reisekrankheit verschworen, um einen Schwindelanfall auszulösen, der sich gewaschen hatte. Ich taumelte rücklings gegen die Wellblechwand und streckte dabei Halt suchend die Hand aus: Das Erste, was sich bot, war der Rand der Abfalltonne, halb voll mit toten Hähnen. Ich stützte mich auf die Unterarme und beugte mich vor, das Gesicht nur wenige Zentimeter über dem Rand der Tonne. In dem Augenblick, in dem ich spürte, wie ich taumelnd in die Dunkelheit glitt, fing ich an zu kotzen. Halb bewusstlos würgte ich noch lange, nachdem mein Magen längst leer war, lange nach dem Punkt, wo mir jedes Mal, wenn ich schmerzhaft würgte, nur noch Tränen aus den Augen kullerten und mir Fäden aus Galle, Rotz und Tabaksaft aus Nase und Mund tropften. »Misch dich einfach unters Volk«, ermahnte ich mich absurderweise, und mit diesem Abschiedsgedanken spürte ich, wie es schwarz wurde in meinem Kopf, wie mein Körper nach vorn kippte und ich kopfüber auf den Haufen lebloser Hähne stürzte.