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Fünf Minuten waren verstrichen, seit der Deputy flatternd die Augen wieder aufgeschlagen hatte, und immer noch hatte er kein Wort gesagt, also war es vielleicht an mir, das Eis zu brechen. »Ich bin Dr. Brockton, aber ich nehme an, das wissen Sie«, sagte ich. Er nickte schwach. Dem Messingschild an seiner Brust nach zu urteilen, war sein Name Williams. »Ist dies Ihr erster Besuch auf der Body Farm, Deputy Williams?« Er nickte wieder.
»Body Farm« war zwar nicht der korrekte, offizielle Name meiner Forschungseinrichtung, aber dieser Spitzname – geprägt von einem örtlichen FBI-Beamten und von Patricia Cornwell als Titel für einen Krimibestseller wieder aufgegriffen – war kleben geblieben. Cornwell ließ nur eine kurze Szene ihres Romans in meiner Forschungseinrichtung zur Verwesung von Leichen an der University of Tennessee spielen, doch diese eine Szene hatte – zusammen mit ebendiesem eingängigen Spitznamen der Einrichtung und ihrer makabren Mission – wohl ausgereicht. Kaum stand das Buch in den Regalen, hörte das Telefon nicht mehr auf zu klingeln, und die Medien fielen in hellen Scharen über uns her. Seitdem kennen Millionen von Menschen die »Body Farm«, aber nur wenige ihren langweiligen, offiziellen Namen: Gerichtsmedizinische Forschungseinrichtung. Im Gegensatz zu einigen meiner Kollegen ist es mir egal, wie die Leute uns nennen. Frei nach Shakespeare: Eine Body Farm würde, wie sie auch hieße, trotzdem stinken.
Viele Leute fragen sich, was ein Anthropologe mit Dutzenden verwesender menschlicher Leichen anfängt, auf und unter zehn Morgen Wald in Tennessee verstreut. Wenn sie den Begriff »Anthropologie« hören, denken sie an Margaret Mead und an ihre sexuell freizügigen Bewohner Samoas oder an Jane Goodall und ihre Schimpansen, und nicht an physische Anthropologen mit ihren Greifzirkeln und Knochen. Doch seit dem Aufstieg der forensischen Anthropologie – bei der mit den Werkzeugen der physischen Anthropologie Verbrechen aufgeklärt werden – scheint sich das Image der Knochendetektive zu verbessern. Es ist erstaunlich, was man alles über ein Mordopfer erfahren kann, wenn man seinen Schädel, seinen Brustkorb, sein Becken und andere Knochen untersucht. Wer war dieser Mensch, der in Stücke gehackt und auf einem Schrottplatz versteckt wurde? Wie steht es mit Alter, Ethnie, Geschlecht und Wuchs? Passen seine Zahnfüllungen oder seine verheilten Knochenbrüche zu den Röntgenbildern vermisster Personen? Stammt dieses Loch im Schädel von einer Kugel oder einem Golfschläger? Wurde er mit einer Kettensäge oder einem Skalpell zerstückelt? Und schließlich die Frage, auf deren Gebiet sich meine Forschungseinrichtung im vergangenen Vierteljahrhundert vor allem einen Namen gemacht hat: Wie lange ist der arme Kerl, dem Grad der Zersetzung nach zu urteilen, schon tot?
Wenn sich herumspricht, dass man sich mit Dutzenden von Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung befasst, bekommt man natürlich alle möglichen interessanten Anfragen. Aus diesem Grund kniete ich jetzt über einer Leiche und stieß ihr ein Jagdmesser in den Rücken.
Ich schaute auf mein »Opfer« hinunter. Die Waffe ragte noch aus der sickernden Wunde. »Ich führe hier ein kleines Experiment durch«, sagte ich zu dem völlig verwirrten Deputy, der mich in flagranti erwischt hatte. »Obwohl er ein Messer im Rücken hat, ist der Kerl in Wahrheit an einer Koronarthrombose gestorben – nach einer halben Marathonstrecke.« Williams blinzelte überrascht, aber ich zuckte nur lässig die Achseln. »Vierzig Jahre alt, ist jeden Tag gelaufen. Man könnte wohl sagen, dass seine Beine dem Herzen davongelaufen sind.« Ich wartete auf einen Lacher, aber es kam keiner. »Jedenfalls hat seine Frau vor ungefähr zwanzig Jahren hier an der University of Tennessee einige meiner Anthropologie-Vorlesungen besucht, und als er umgekippt ist, hat sie seine Leiche der Forschung überlassen. Ob das etwas Gutes oder etwas Schlechtes über die Ehe aussagt, vermag ich nicht zu beurteilen.«
Williams’ Augen klärten sich und fokussierten ein wenig – er schien zu überlegen, ob er jetzt nicht zumindest lächeln sollte –, also redete ich weiter. Die Worte, so dachte ich mir, geben ihm etwas, woran er sich klammern kann, während er sich von seinem Panikanfall erholt. »Ich bin Sachverständiger in einem Mordfall, der bald vor Gericht geht, und versuche, eine Stichverletzung zu reproduzieren; ohne viel Erfolg. Sieht aus, als müsste ich ein paar Gesetze der Physik oder der Metallurgie verletzen, um mit diesem Messer hier dem Stichkanal zu folgen, den der Medical Examiner beschrieben hat.« Sein Blick wanderte von meinem Gesicht zu der Leiche und wieder zurück. »Sehen Sie, im Bericht dieses medizinischen Sachverständigen hieß es, das Messer sei auf der linken Seite in den Rücken des Opfers eingedrungen und dann nach oben an der Wirbelsäule vorbei in den rechten Lungenflügel umgeschwenkt. Unmöglich. Also, ich kriege das jedenfalls nicht hin. Unter uns gesagt, ich glaube, der Medical Examiner hat die Obduktion verpfuscht.«
Ich hatte den Deputy an den Stamm einer Eiche gelehnt. Inzwischen sah er so aus, als sei er womöglich bereit aufzustehen, also zog ich einen Handschuh aus und half ihm auf die Füße. »Sehen Sie sich ruhig um, wenn Sie möchten«, sagte ich und wies nickend auf einen Haufen bekleideter Leichen am Rand der größten Lichtung. »Vielleicht sehen Sie etwas, was Ihnen eines Tages bei der Lösung eines Falls hilft.« Er dachte darüber nach, bevor er sich vorsichtig nach der Lichtung umblickte. »Da drüben läuft ein Experiment zur Verwesung, bei dem es um den Unterschied zwischen Baumwollbekleidung und synthetischen Stoffen geht. Wir möchten wissen, ob bestimmte Stoffe die Verwesungsgeschwindigkeit verlangsamen oder beschleunigen. Bis jetzt sieht es so aus, als hätte Baumwolle die Nase vorn.«
»Und wozu soll das gut sein?« Ah: Er konnte sprechen!
»Baumwolle hält Feuchtigkeit länger, was den Fliegen und Maden zu gefallen scheint.« Er zuckte zusammen, offensichtlich bereute er seine Frage schon. »Oben auf dem Hügel im Wald«, fuhr ich fort, »haben wir eine abgeschirmte Hütte, wo wir die Insekten von einer Leiche fernhalten. Sie würden staunen, wie sehr sich die Verwesungsgeschwindigkeit verlangsamt, wenn keine Insekten an die Leiche können.« Ich wandte mich zu ihm um. »Eine Studentin hat gerade eine Studie über den Gewichtsverlust von Leichen fertiggestellt. Raten Sie mal, wie viel Kilo eine Leiche am Tag verlieren kann?« Er starrte mich an, als käme ich von einem anderen Stern. »Zwanzig Kilo an einem Tag, wenn die Leiche richtig dick ist. Maden sind wie junge Männer: einfach unersättlich.«
Er verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf, grinste aber dabei. Endlich. »Dann liegen hier auf dem Gelände wirklich überall Leichen?«
»Überall auf dem Gelände. Und darunter auch. Der Betonstreifen, auf dem Sie gerade Ihren Cherokee geparkt haben? Zwei Leichen drunter. Mittels Bodenradar beobachten wir, wie sie verwesen.« Er wirbelte, plötzlich wieder voller Panik, zu seiner Geländelimousine herum.
»Keine Sorge«, sagte ich lachend, »denen können Sie nicht mehr schaden, und die sind auch nicht sauer, weil Sie auf ihnen parken.« Ich hätte ihm am liebsten einen Stoß in die Rippen versetzt und »Buuhu!« geschrien, wie ich es zuweilen bei nervösen Studenten tue, aber ich widerstand der Versuchung. »Entspannen Sie sich, Junge. Atmen Sie tief durch – oder vielleicht auch nicht ganz so tief, wenn ich es mir recht überlege. Betrachten Sie sie als Forschungsgegenstände, nicht als tote Menschen.« Ich machte um der Wirkung willen eine Pause, bevor ich mein dramatisches Schlussargument lieferte. »Was Sie hier sehen, ist forensische Wissenschaft in Aktion.« Damit langte ich nach unten und zog mit einem schwungvollen Ruck das Messer aus dem Rücken meines Forschungsgegenstands. Es löste sich mit einem nassen, saugenden Schmatzen. Ein Klumpen purpurroter Schmiere schoss in hohem Bogen auf den Deputy zu und landete auf seinem linken Schuh, wo er feucht zitternd liegen blieb.
Diesmal fing ich ihn auf, bevor er zu Boden ging.