8
Art Bohanan klebte an seinem Mikroskop. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und war kreuzunglücklich.
Das Fingerabdrucklabor befand sich im Keller des Polizeireviers von Knoxville – einer grimmigen, beigefarbenen Festung in einem grimmigen, schmutzigen Teil der Stadt, umgeben von sehr viel Asphalt und Sozialwohnungen. Der uniformierte Beamte, der an der Tür Wache tat, hatte mich mit dem Summer in den Aufzug gelassen und auf den Boden gezeigt. »Er ist da unten. Wie immer.«
Sobald ich das Labor im Keller betrat, stach mir der scharfe Geruch von Sekundenkleber in die Nase. Art schaute auf, als ich eintrat. »Hey, kannst du mir hier mal zur Hand gehen? Tu ein bisschen was von dem Azeton auf meine Finger, ja?« Sein linker Daumen und Zeigefinger klebten an der Zentrierschraube eines Stereomikroskops, die rechte Hand am Okulartubus. Auf dem Arbeitstresen lag eine offene Tube Sekundenkleber.
»Du klebst wirklich fest?«
»Die letzten zehn Male, als ich versucht habe loszukommen, schon. Willst du es selbst mal versuchen, oder hilfst du mir jetzt?«
»Halt mal … ähm, ach nein, das tust du ja schon«, neckte ich ihn. »Kennst du ›Verstehen Sie Spaß‹? Hast du hier irgendwo ’ne versteckte Kamera?«
»Na, super, jetzt soll ich dir auch noch helfen, mich auf ewig zu demütigen? Danke.«
»Nicht der Rede wert.«
»Komm schon, Bill, die Lampe ist heiß. Jetzt mach, mir ist nicht nach Witzen.«
Ich nahm eine kleine Dose Azeton und tropfte ein wenig davon über die Ränder von Arts Fingern, wobei ich mit denen anfing, die an dem Metallgehäuse der Lichtquelle klebten. »Wie ist denn der Flammpunkt von Azeton? Und wie hoch ist die Temperatur der Lampe da?« Das Lösungsmittel sickerte ein, und Arts Finger lösten sich allmählich. Die straffe Haut war rot entzündet. Er rieb sich die Finger mit einem Lumpen ab und cremte sie anschließend ein.
»Vielen Dank«, sagte er. »Ich schulde dir was.« Ich war mir nicht sicher, ob er mir dankte, weil ich ihn befreit hatte, oder ob er mir drohte, weil ich mir so viel Zeit damit gelassen hatte. So wie ich Art kannte, war es beides. Ich machte mir im Geist eine Notiz, in Zukunft zuerst am Lenkrad zu schnuppern, bevor ich es anfasste.
»Das nächste Mal solltest du wirklich vorher das Etikett lesen. Das Zeug klebt auch an Fingern.«
»Haha. Sehr witzig.«
Wenn irgendjemand Ahnung von Sekundenkleber und Fingern hatte, dann Art. Er war nicht nur der leitende Kriminologe der Polizei von Knoxville, er war auch einer der führenden Fingerabdruckexperten des Landes. In kriminaltechnischen Labors überall im Land benutzen Kriminaltechniker Apparate zur Verdampfung von Superkleber, um Objekte mit einem klebrigen Nebel zu überziehen, der versteckte Fingerabdrücke aufnehmen konnte. Und diesen Apparat hatte mein Kumpel Art entworfen und sich patentieren lassen. Selbst das FBI hatte Arts Superkleber-Apparat ins Herz geschlossen, was in der Kriminaltechnik so ist, als würde Michael Jordan auf deine Basketballschuhe abfahren.
Auf der Arbeitsfläche neben dem Mikroskop lag ein ganzer Schwung Fotos. Die meisten schienen Tatortfotos vom Inneren eines Autos zu sein, eines ramponierten blauen Impala. Dazwischen steckte jedoch das Schulfoto eines Mädchens, ungefähr acht Jahre alt. Kleines Mädchen, breites Lächeln. Ich erkannte das Foto, ich hatte es in den vergangenen zwei Wochen einige Male in der Zeitung gesehen, denn so lange wurde Stacy Beaman schon vermisst. Sie war das letzte Mal gesehen worden, als sie in ein rostiges blaues Auto stieg. Das Auto auf den Fotos gehörte einem registrierten Sexualstraftäter, der in den Tagen, bevor die Kleine verschwand, dreimal in der Nähe der Schule gesehen worden war.
Ich schaute auf Arts Mikroskop. Auf dem Objekttisch war eine Autofensterkurbel festgeklemmt. Man musste kein kriminaltechnisches Genie sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass die Kurbel von der Beifahrertür des rostigen Impala stammte.
»Kriegst du was?«
»Zum Teufel, nein. Nicht mal einen Teilabdruck. Jedenfalls nicht von ihr. Seine sind überall. Was nicht überrascht, schließlich ist es sein Wagen, aber es macht mich schier wahnsinnig, dass wir ihre nicht kriegen.«
»Nicht kriegen? Das klingt, als würdest du davon ausgehen, dass sie da irgendwo sind.«
»Da irgendwo waren; sie sind nicht mehr. Zum Teufel, sie war in dem Auto – drei Zeugen haben sie gesehen. Wir waren nur nicht schnell genug. Als wir endlich den Durchsuchungsbefehl hatten und das Auto sicherstellen konnten, waren die Abdrücke verschwunden. Hatten sich in Luft aufgelöst.«
Und das war wörtlich gemeint. Es war ein Phänomen, von dem er mir schon erzählt hatte, ein Phänomen, das Ermittler in Fällen von Kindesentführung viele Jahre lang Rätsel aufgegeben hatte: Warum waren die Fingerabdrücke von Kindern, so schwer zu erfassen? Als auch Art zum zweiten oder dritten Mal mit leeren Händen dastand, hatte er sich geschworen, das Rätsel zu lösen. Er hatte im Oak Ridge National Laboratory ein Expertengremium gebildet – ein Team aus organischen und analytischen Chemikern – sowie einige Eltern und Kinder einer örtlichen Grundschule um ihre Mithilfe gebeten. Dieses Team hatte ein Forschungsprojekt durchgeführt, um herauszufinden, worin sich die Fingerabdrücke von Erwachsenen und Kindern unterschieden. Sobald Art den Stein ins Rollen gebracht hatte, brauchten die Chemiker nicht lange, um herauszufinden, was sich da abspielte. Fingerabdrücke von Erwachsenen entstanden, wie sie feststellten, durch die Anhaftung von Fett; Fingerabdrücke von Kindern jedoch basierten – bevor die Pubertät sämtliche Akne produzierenden Talgdrüsen aktivierte – auf Wasser. Die Erklärung war einfach, die Folgen schlicht zum Verzweifeln.
»Wie lange habt ihr gebraucht, um das Auto dingfest zu machen?«
»Zwei Tage. Und das war ein Tag zu viel. Vierundzwanzig Stunden früher, und die Abdrücke wären noch da gewesen. Ihre Fingerabdrücke waren da.«
»Haben sich die Zeugen nicht früh genug gemeldet?«
»Nein, das war es nicht. Der Anwalt hat uns schnell die Hände gebunden. Hat behauptet, wir würden seinen Mandanten schikanieren.«
Ich hatte innerlich ein schlechtes Gefühl. »Wer ist der Anwalt?«
»Drei Mal darfst du raten.«
Das war nicht nötig. »DeVriess.«
»Der gute alte Fiese. Dein neuer Kumpel.« Er warf mir einen finsteren Blick zu.
»Schau, Art, ich finde es zum Kotzen, was er macht, und wie er es macht, widert mich genauso an wie dich. Die meiste Zeit. Wenn er einem Kinderschänder hilft, wird er eines Tages dafür bezahlen. Doch der Fall mit der Stichwunde, zu dem er mich hinzugezogen hat, liegt anders. Der Medical Examiner hat die Sache schlicht und ergreifend versaut, und die Staatsanwaltschaft deckt ihn. Und wenn du das nicht weißt, bist du längst nicht so klug, wie ich immer gedacht habe.« Ich sah ihn wütend an, aufgebracht, dass er fand, ich sei nun kein Haar besser als DeVriess.
Er erwiderte meinen Blick wütend, dann wandte er sich ab und seufzte. »Ich weiß. Du hast recht. Ich verstehe, was du tust. Ich respektiere es. Ich respektiere dich – zum Teufel, das weißt du. Aber dieses kleine Mädchen … das reißt mich in Stücke. Der Hurensohn hat uns so lange daran gehindert, dieses Auto einzupudern, bis die Fingerabdrücke des Kindes verschwunden waren, und dafür würde ich ihn am liebsten eigenhändig umbringen.«
»Da mache ich dir keine Vorwürfe.«
»Tut mir leid, dass ich dich angefahren habe.«
»Vergiss es.«
Er atmete tief ein und schloss die Augen, dann stieß er die Luft geräuschlos aus. Wie aus einem anderen Leben ging mir die Formulierung »tiefer reinigender Atemzug« durch den Kopf, ungebeten und unwillkommen. Art rieb sich seine rauen Fingerspitzen. »Nun, Bill, was bringt dich her, abgesehen von dem Vergnügen eines Gesprächs mit mir?«
Ich langte in meine Jackentasche, holte einen Druckverschlussbeutel heraus und reichte ihn ihm. »Das hier.«
»In welchem Zusammenhang?«
»Es hing um den Hals einer Leiche. Ist es das, was ich vermute?«
Er drückte den Umriss sanft in alle Richtungen, Schmalseite, Längsseite, dünner Rand. »Wahrscheinlich. War er Veteran?«
»Kein Er. Eine Sie. Und nein, ich glaube nicht.«
»Wieso hat sie dann eine Erkennungsmarke der Armee getragen?«
»Das frage ich mich eben.«
»Und wem gehört sie?«
»Das auch.«
»Und du hast sie zu mir gebracht, weil du sie nicht lesen kannst?«
»Genau. Und weil ich hoffe, dass unter dem Schmodder irgendwo ein Fingerabdruck ist.«
»Schmodder – ist das so ein anthropologischer Terminus technicus, mit denen ihr Doktoren der Philosophie um euch schmeißt, um uns Fußvolk einzuschüchtern?« Ich nickte. Art betastete die Erkennungsmarke und runzelte die Stirn. »Ein Fingerabdruck. Himmel – viel verlangst du ja nicht, was?«
»Wo liegt das Problem?«
»Nun, erstens müssen wir herausfinden, wie wir den Schmodder entfernen, ohne den Fingerabdruck gleich mit zu entfernen. Falls darunter ein Fingerabdruck ist. Was ich sehr bezweifle.«
»Wieso?«
»Das Metall kann korrodiert oder oxidiert sein, obwohl diese Hundemarken ja angeblich korrosionsbeständig sind. Wenn das Metall korrodiert ist, hat es sowohl chemische als auch physikalische Veränderungen durchgemacht, die einen Fingerabdruck zerstören oder verzerren können. Und wenn es nicht korrodiert ist, hat der Schmodder – die Adipocire, wie wir niederen Kriminalisten dazu sagen – Fingerabdrücke, die womöglich vor langer Zeit mal darauf waren, absorbiert oder verschmiert.«
Ich nickte finster. »Das heißt …«
»… es besteht nicht die geringste Chance.« Ich hatte erwartet, dass er so etwas sagen würde – er war schließlich Kriminalist und kein Zauberer –, aber als es dann tatsächlich aus seinem Mund kam, merkte ich, dass ich mir doch Hoffnungen gemacht hatte. »Lass uns trotzdem mal schauen, was wir da haben.«
Er legte die Tüte auf einen Labortisch und streifte ein Paar Latexhandschuhe über, zog dann den Druckverschluss an der Tüte auf und holte die wächserne Erkennungsmarke heraus. Nachdem er sie eine Weile eingehend betrachtet hatte, beugte er sich über ein Tablett mit Werkzeug, wählte eine Zange aus, kramte unter einem Arbeitstisch herum und holte einen kleinen Bunsenbrenner hervor – so ein Ding, mit dem ein Küchenchef den Zucker auf einer Crème brûlée karamellisiert. Er hielt die Marke am leicht gebogenen Ende – wo einst die Kette durchgefädelt worden war – und fuhr mit dem Brenner sanft über die Adipocire. Sobald diese zu schmelzen begann, legte sich Verwesungsgeruch über die ätzenden Dünste des Sekundenklebers. »Verdammt, Bill, du hättest mich auch warnen können. Schalt doch bitte mal den Ventilator ein, ja?«
Ich griff nach dem Schalter, auf den er mit einem Nicken wies, während er das wohlduftende Objekt unter eine Absaugvorrichtung hielt. Dann brachte ich ihm ein paar Papierhandtücher, faltete sie und legte sie darunter, um die stinkende Flüssigkeit aufzufangen, die am unteren Ende heruntertropfte.
»Art?«
»Ja?«
»Hättest du es nicht in ein paar Papierhandtücher eingewickelt in einen Dampfsterilisationsapparat tun können?«
»Klar. Aber wo bleibt da der Spaß? Nicht jeder darf auf der Arbeit mit Feuer spielen.«
»Wirst du denn nie erwachsen?«
»Ich hoffe nicht. Meine kindliche Unreife ist das Einzige, was zwischen mir und einer gewaltigen Midlifecrisis steht.«
Art löschte den Brenner und stellte ihn weg, dann zog er das Rechteck unter der Abzugshaube heraus. Es war verfärbt und leicht gebogen, aber es war tatsächlich eine Hundemarke, die eingeprägten Buchstaben immer noch klar und deutlich zu erkennen. Art ging zu einem Labortisch mit einer beleuchteten Lupe, genauso einer wie in meinem Faulleichen-Séparée, und besah sich die Erkennungsmarke von beiden Seiten. »Also, Mist.«
»Was?«
»Ich hatte wie immer recht. Leider, in diesem Fall. Manchmal ätzt Fingerabdruckfett Metall, sodass ein Bild davon zurückbleibt, selbst wenn der Abdruck verschwunden ist. Hier leider nicht – diese Marke ist wirklich korrosionsbeständig. Ich wünschte, die würden endlich mal Autos aus dem Zeug bauen.«
»Dann gibt’s nichts, womit du arbeiten kannst?«
»Nun, das würde ich so nicht sagen. Wir haben hier einen Namen, einen Rang und eine Personenkennziffer, die – vielleicht – als Schlüssel dienen könnte. Es ist allerdings nicht der Name deiner Leiche, außer, sie hieß Thomas, aber …«
»Warte. Hast du Thomas gesagt? Vor- oder Nachname?«
»Vorname.«
»Zeig mal her.« Ich betrachtete die Marke, halb in der Erwartung, den Nachnamen Kitchings zu lesen, und empfand eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung, als dort etwas anderes stand. Das wäre direkt wie aus Twilight Zone gewesen. Doch schon die zufällige Übereinstimmung des Vornamens war irgendwie seltsam: Ein hinterwäldlerischer Sheriff namens Tom findet eine Leiche, die die Hundemarke eines anderen Kerls namens Tom um den Hals trägt. Ich wies Art darauf hin – dem es natürlich auch schon aufgefallen war. »Glaubst du, da gibt es eine Verbindung?«
»Zum Sheriff?« Art zuckte die Achseln. »Aber wir wissen, dass dieser Tom hier irgendeine Verbindung zu ihr hatte, und es wird Akten über ihn geben, zumindest solange er in Onkel Sams Armee war.« Es war nicht die dramatische Enthüllung, auf die ich gehofft hatte, aber es war ein Anfang. »Ich habe einen alten Kumpel im Militärarchiv«, sagte Art. »Soll ich schauen, was er für uns herausfinden kann?«
»Klar. Danke. Brauchst du die Erkennungsmarke noch?«
»Nein, aber sag auf dem Weg nach draußen dem Typ am Empfang, er soll mir eine große Fotokopie davon machen. Die Marke kannst du zu den übrigen Beweisen geben. Ich möchte nicht, dass der Fiese sich irgendwann in einem Fall, der vollkommen außerhalb meiner Zuständigkeit liegt, wegen der Manipulation von Beweisen auf mich stürzt.«
»Dann sollte ich ihm wohl nicht erzählen, wie du versucht hast, das Ding hier mit einem Bunsenbrenner zu zerstören.«
»Wenn er Wind davon bekommt, dann schick ihn vorbei. Dann demonstriere ich meine Brennertechnik an seinen Eiern.«
»Die kleine Phantasie hättest du gerne für dich behalten können.«
»Hey, ich bin ein großzügiger Geist. Ich teile gern.«
»Ich komme darauf zurück. Danke für die Warnung. Und danke für die Hilfe.«
»Jederzeit.«
An der Tür warf ich gerade noch rechtzeitig einen Blick zurück, um zu sehen, wie Art den Brenner wieder einschaltete. Ich blieb stehen, um ihn zu beobachten. Zuerst hielt er die Spitze der Flamme mit neugieriger Miene nah an seinen Unterarm. Von den Haaren auf seinem Arm stiegen Rauchkringel auf. Plötzlich jaulte er auf und riss den Brenner mit einem kläglichen Grinsen zurück. Dann fiel sein Blick auf die auf der Arbeitsfläche verstreuten Tatortfotos. Er nahm eines in die Hand, ein Kopfbild des Mannes, den man verdächtigte, die kleine Stacy Beaman entführt zu haben. Art hielt das Foto an einer Ecke fest und schob den Brenner näher. Kräuselnd stiegen Rauchwolken hoch, und das Gesicht des Mannes ging in Flammen auf.