11
Waylon und ich fuhren schweigend zurück zum Highway. Diesmal fesselte er mich nicht mit Klebeband, aber er zog mir seine Kappe wieder übers Gesicht. Allerdings sah er mich dabei leicht verlegen und entschuldigend an.
O’Conner hatte zu keinem von uns ein weiteres Wort gesprochen; er hatte uns einfach weggewunken, den toten Blick noch in den Augen. Waylon wirkte verängstigt wie ein Kind, das zugesehen hat, wie seine Eltern sich streiten oder wie seine Mutter weint.
Er ließ mich im Cherokee sitzen, und eine Minute später oder so tauchte Williams auf, der sich eine deutlich sichtbare Beule am Hinterkopf rieb. Auch er schwieg den restlichen Weg nach Jonesport. Wir schienen uns bezüglich der letzten halben Stunde stillschweigend auf eine »Frag nicht, sag nichts«-Politik geeinigt zu haben. Ich überlegte, ob es Williams zu peinlich war, über das zu sprechen, was ihm passiert war. Ich hatte auch den Verdacht, dass es mehr als nur ein Zufall war, dass er seinen Boxenstopp genau zu diesem Zeitpunkt exakt an dieser Stelle gemacht hatte.
Kitchings ging in seinem kleinen Büro auf und ab, als wir kamen. »Wo zum Teufel waren Sie? Sie hätten schon vor einer Stunde hier sein sollen.«
Ich schwieg. Williams räusperte sich. »Meine Schuld, Sheriff. Ich hab gehalten, um unten am Fluss zu pinkeln. Bin auf einem nassen Stein ausgerutscht und böse gestürzt. War wohl länger bewusstlos, als ich dachte.«
Kitchings musterte Williams, der sich den Kopf rieb und das Gesicht verzog, dann wandte er sich mir zu. »Er war tatsächlich ’ne ganze Weile weg«, sagte ich. »Und ich bin wohl eingeschlafen. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass er mit dem Gänseei an der Birne in den Wagen stieg.« Ich verstand nicht recht, warum ich Williams deckte; bis es mir aufging, dass es wohl eher O’Conner war, den ich nicht auffliegen lassen wollte. Obwohl ich auch das nicht verstand. Andererseits deckte ich wahrscheinlich in Wirklichkeit mich selbst, irgendwie. Aber was hatte ich getan, oder was hatte ich vor und warum?
Kitchings war sauer. »Jedes Mal, wenn ich ihn losschicke, um Sie zu holen, läuft was schief. Ich weiß nicht, wer von Ihnen beiden dafür verantwortlich ist, aber ich will verdammt sein, wenn ich mir das noch einmal mit ansehe.«
»Sheriff, in dem Augenblick, in dem wir diesen Fall geklärt haben, werde ich glücklich für immer nach Knoxville zurückkehren.«
»Ja. Nun. Was haben Sie bis jetzt?«
»Im Großen und Ganzen ist es das, was ich mir von Anfang an dachte: eine weiße Frau, zwanzig bis dreiundzwanzig Jahre alt, ungewöhnlich groß – irgendwas zwischen einem Meter achtundsiebzig und einem Meter dreiundachtzig. Blondes Haar, ziemlich lang. Keine Zahnfüllungen oder ähnliches; kleine, ungefüllte Karieslöcher in zwei Backenzähnen und einem Eckzahn. Das einzige Anzeichen für Knochenverletzungen war eine Mehrfachfraktur des Zungenbeins.«
»Was für eines Beins?«
»Des Zungenbeins.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass sie erwürgt wurde. Das Zungenbein ist ein kleiner, gebogener Knochen direkt über dem Adamsapfel.« Ich zeigte darauf, und der Sheriff und sein Deputy schoben ihr Zungenbein von einer Seite zur anderen. »Ihres war zertrümmert. Ein eindeutiges Zeichen für manuelle Strangulation.«
Er sah finster drein. »Sonst noch etwas Ungewöhnliches?«
»Nun, um den Hals trug sie eine Erkennungsmarke der US-Armee.« Ich machte eine Pause, um ihm die Gelegenheit zu geben, diese Information zu verdauen. »Die habe ich zu Art Bohanan gebracht, dem Fingerabdruck-Guru bei der Polizei von Knoxville, in der Hoffnung, er könnte einen Fingerabdruck der Person entdecken, die ihr die Hände um den Hals gelegt hatte.«
Kitchings schnappte nach Luft und beugte sich mit flammenden Augen zu mir vor. »Und?«
»Nichts.«
Er atmete aus. »Mist. Aber man konnte die Marke noch lesen?« Ich nickte. »Was stand drauf?«
Jetzt war es an mir, tief Luft zu holen. »Lt. Thomas J. O’Conner.«
Kitchings wandte sich ab. »Der verfluchte Hurensohn«, flüsterte er. »Dem nagel ich doch seinen erbärmlichen Arsch ans Kreuz.«
Ich wartete. »Sheriff?« Er drehte sich zu mir um. »Irgendeine Idee, wer die Frau war?«
Aus dem Augenwinkel nahm ich Williams wahr, reglos und sichtlich angespannt. Kitchings holte tief Luft, stieß sie wieder aus und schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen, Doc. Wirklich schwer zu sagen.«
Den Eindruck hatte ich allmählich auch. Vielleicht nicht so schwer zu wissen – zumindest für Eingeweihte –, aber verdammt schwer zu sagen, vor allem zu Außenstehenden. Er verheimlichte mir etwas, da war ich mir sicher; ich überlegte, ob es die Identität der jungen Frau war, und wenn ja, warum. Ich sah Williams fragend an, doch der Deputy zuckte nur die Achseln und schüttelte den Kopf. Ich beschloss, die Karte auszuspielen, die Jim O’Conner mir gerade in die Hand gedrückt hatte. »Sheriff, sagt Ihnen der Name Lester Ballard irgendetwas?«
Er schaute zur Decke, als könnte die Antwort dort irgendwo im abblätternden Putz zu lesen sein. »Lester Ballard? Nein, nicht dass ich wüsste. Warum?«
»Schwer zu sagen. Ist mir untergekommen.«
Er beäugte mich misstrauisch, spürte wohl, dass da noch mehr war, war sich aber nicht sicher, was.
»Drüben in Union County gibt’s, glaube ich, ein paar Ballards, aber einen Lester kenne ich nicht. Einen Thomas J. O’Conner kenne ich hingegen verdammt gut.«
Ich nickte. »Sheriff?« Er war genervt. »Wie ist er, dieser O’Conner?«
Kitchings verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ein Klugscheißer. Denkt, er wäre besser und klüger als wir anderen.«
»Wäre nicht gerade besonders klug, eine Frau zu erwürgen und ihr dann fröhlich seinen Namen um den Hals zu hängen, was?«
Er schüttelte wegwerfend den Kopf. Doch es war klar, dass er damit nicht die Vorstellung von O’Conners Schuld verwarf. Er verwarf meine Frage, und mich verwarf er gleich mit. Um sicherzugehen, dass ich die Botschaft auch verstanden hatte, drehte er sich auf dem Absatz um und ging davon, bevor ich die Chance hatte, ihm von der Schwangerschaft der Höhlenfrau zu erzählen. Dabei war ich mir nicht mal ganz sicher, ob ich es ihm auch gesagt hätte, wenn er mir Gelegenheit dazu gegeben hätte.