20
Das John J. Duncan Federal Building, ein Würfel aus rosafarbenem Granit und schwarzem Glas in der Innenstadt von Knoxville, liegt in der Geometrie der Stadt in einem einzigartigen Nexus aus Geschichte, Macht und Wissen: Auf der einen Seite gegenüber befindet sich der alte Tennessee Supreme Court, auf der anderen Seite der neue Tennessee Supreme Court (der seinerseits in der ehemaligen Post untergebracht ist). Eine Ecke des Würfels stößt an die zentrale öffentliche Bibliothek, und die gegenüberliegende Ecke ist abgerundet, um da, wo die beiden Supreme Courts aufeinandertreffen, einen Eingangsbereich zu bilden. Das innen ganz aus Granit und Glas bestehende Gebäude beherbergt drei Bundesämter: das FBI, den Geheimdienst und das Finanzamt.
Steve Morgan, Beamter bei der Kriminalpolizei von Tennessee, hieß mich am Eingang zum Gebäude mit einem kräftigen Händedruck willkommen. Steve war ein ehemaliger Student von mir. Er hatte seinen Magisterabschluss zwar in Strafjustiz gemacht, hatte jedoch genügend Anthropologie-Vorlesungen belegt, um sich mit dem menschlichen Skelett auszukennen und die Grundtechniken der forensischen Anthropologie zu beherrschen. Gleich nach dem Magisterabschluss hatte er eine Stelle bei der Kriminalpolizei von Tennessee bekommen. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich, als er mir die Tür aufhielt. »Tut mir leid, dass ich Sie an einem Sonntagabend zu Hause angerufen habe.«
»Kein Problem«, sagte er. »Ich bin froh darüber.« Als er mich in der großen Lobby zur Sicherheitsschleuse führte, bemerkte ich, dass an seiner Hüfte ein Paar Handschellen hing, und lächelte unwillkürlich über die Erinnerung an Steves Tage als Student. In meinem Knochenkundekurs für Fortgeschrittene legte ich gerne einige Knochen in eine sogenannte »Blackbox«. Die Kiste war so gebaut, dass die Studenten hineingreifen und die Knochen abtasten, sie jedoch nicht sehen konnten. Dahinter steckte die Idee, dass es wichtig war, die Knochen nicht nur durchs Anschauen, sondern auch durch Ertasten kennen zu lernen. Ich erinnerte mich noch an den Kurs an einem Aprilmorgen – dem 1. April 1994 –, als es Steve irgendwie gelungen war, ein Paar Handschellen in meine Blackbox zu schmuggeln. Bei der ersten Studentin, die hineinlangte – einer attraktiven jungen Frau, der Steve die Kiste mit gespielter Galanterie reichte –, schnappten die Dinger sofort zu. Um sie zu befreien, mussten wir die Ecken der hölzernen Kiste aufschrauben. Als er die Handschellen aufschloss, fragte Steve sie, ob sie mit ihm ausgehen würde; zwei Jahre später haben sie geheiratet. Ich erkundige mich einmal im Jahr oder so nach den aktuellen Neuigkeiten – sie haben inzwischen drei Kinder –, wenn ich Steve in einem Gerichtssaal oder an einem Tatort über den Weg laufe. Und ich habe außerdem den leisen Verdacht, dass mein Osteologiekurs nicht die einzige Gelegenheit war, bei der die Handschellen in der Beziehung der beiden eine Rolle gespielt haben, aber ich traue mich nicht zu fragen. Womöglich würde er es mir tatsächlich erzählen.
Ich hatte meinen Dienstausweis als Sonderberater der Kriminalpolizei von Tennessee mitgebracht. Den hatte ich seit Jahren; der damalige leitende Gerichtsmediziner hatte ihn mir im Austausch für kostenlose wissenschaftliche Beratung ausgestellt. Jetzt fragte ich Steve, ob ich ihn dem Wachmann am Kontrollpunkt zeigen sollte. »Wenn Sie sich dann besser fühlen«, sagte er. Mir fiel auf, dass Steve seine Dienstmarke nicht am Gürtel trug wie normalerweise; stattdessen trug er ein laminiertes Plastikkärtchen am Hemd, auf dem sein Foto und sein Namen prangten. »Die Leute von der Bundesbehörde sind nicht besonders beeindruckt von Ausweisen der Kriminalpolizei. Ich glaube sogar, dass ein Wachmann mal gelacht hat, als ich ihm meinen gezeigt habe.« Nachdem ich meine Taschen geleert hatte und durch den Metalldetektor gegangen war, reichte ich dem Wachmann meinen Führerschein, den er eine ganze Weile eindringlich musterte und das Bild mit mir verglich. Als er überzeugt war, dass ich tatsächlich der war, der zu sein ich – unterstützt von dem Beamten der Kriminalpolizei – behauptete, winkte er mich durch. Steve führte mich zu einem Aufzug.
»Und warum treffen wir uns im Federal Building?«, fragte ich, als die Aufzugtüren sich hinter uns geschlossen hatten. »Das letzte Mal, als ich dorthin musste, war die Dienststelle der Kriminalpolizei im Norden der Stadt.«
»Das ist sie noch. Aber wir sind nicht die Einzigen, die sich für die Angelegenheit hier interessieren.« Er schien das nicht weiter ausführen zu wollen, also beließ ich es vorerst dabei.
Die Aufzugtüren öffneten sich im fünften Stock gegenüber einem großen FBI-Emblem. Steve führte mich zu einer Empfangsdame, die hinter kugelsicherem Glas saß wie die Kassiererin eines Lebensmittelladens in einem gefährlichen Viertel. Sie schob ein Formular durch den schmalen Schlitz am unteren Ende der Scheibe, und sobald ich unterzeichnet hatte, betätigte sie den Summer zu einem labyrinthischen Gewirr aus Büros, das die ganze Etage einnahm. Nachdem wir mehrmals links und rechts abgebogen waren, betraten wir ein Konferenzzimmer, in dem rund ein halbes Dutzend Beamte der Strafvollstreckungsbehörden des Bundes und des Landes saßen – das schloss ich aus ihren dunklen Anzügen, ihren ernsten Krawatten und ihren konservativen Haarschnitten. Sie saßen um einen Eichentisch, der eines König Arthur würdig gewesen wäre. Steve stellte sie rasch vor; einen der FBI-Beamten, Cole Billings, hatte ich bei einem forensischen Fall vor einigen Jahren mal kennen gelernt, doch die anderen beiden vom FBI, einen Mann und eine Frau, kannte ich nicht, ebenso wenig wie den Typ von der DEA, der Drogenstrafverfolgungsbehörde, und den zweiten Beamten der Kriminalpolizei, obwohl es mir so vorkam, als wäre ich ihm – Brian Rankin – schon einmal begegnet. Ich war eindeutig zu einem »Frühstück für Helden« geladen worden – der League of Justice.
Die FBI-Beamtin – Special Agent Angela Price – schien das Ganze zu leiten. »Dr. Brockton, lassen Sie mich zunächst betonen, wie sehr wir es zu schätzen wissen, dass Sie uns heute Ihre Zeit zur Verfügung stellen. Zweitens muss ich wohl nicht darauf hinweisen, dass alles, was heute hier in diesem Raum besprochen wird, auch hier verbleibt. Das versteht sich wahrscheinlich von selbst«, ich nickte, »aber ich sage es trotzdem.« Ich nickte noch einmal, um sicherzugehen, dass sie wussten, dass ich sowohl ein guter Zuhörer war als auch ein kooperativer Bursche.
»Es ist eine Weile her, dass ich mit einer behördenübergreifenden Arbeitsgruppe zusammengearbeitet habe«, sagte ich. »Das letzte Mal war vor rund fünf Jahren, da war Agent Billings hier auch dabei – es ging um den Fat-Sam-Entführungs- und Mordfall.« Billings lächelte bei der Erinnerung an den stümperhaften Fälscher, der von einem raffinierteren Fälscher übers Ohr gehauen worden war und sich dann als übermäßig rachsüchtig herausgestellt hatte.
Price runzelte die Stirn, schüttelte leicht den Kopf und hielt einen Finger hoch. »Das hier ist keine Arbeitsgruppe, Dr. Brockton, sondern nur eine informelle gemeinsame Ermittlung. Je nachdem, was wir zu Tage fördern, könnten wir dies hier zu einer Arbeitsgruppe ausbauen, aber das würde sehr viel mehr Aussagen erfordern – Beweise für Verbrechen – und sehr viel mehr Schreibarbeit. Fürs Erste versuchen wir nur in den Griff zu kriegen, was da oben in Cooke County läuft.«
Price fasste einige wichtige Punkte in der Geschichte von Cooke County zusammen. Zu Beginn der 1980er Jahre hatte eine gemeinsame Einsatzgruppe von FBI und Kriminalpolizei zwei Jahre lang wegen Korruptionsverdacht in den Dienststellen der Sheriffs von Tennessee ermittelt. Sie fanden eine Menge: Mehr als ein Viertel der Sheriffs wurden angeklagt und ins Gefängnis gesteckt. Es war eine unangenehme Zeit für die Sheriffs in Tennessee im Allgemeinen und für die in Cooke County im Speziellen gewesen: Der damalige Sheriff war dabei erwischt worden, sowohl ein Bordell als auch einen Kokainring zu betreiben (einschließlich einer eigenen privaten Landebahn). Er war zu einer fünfzehnjährigen Freiheitsstrafe in einem Bundesgefängnis verurteilt worden.
Price beendete ihren historischen Abriss. »Das war vor zwanzig Jahren – ein langer Zeitraum fürs Großreinemachen. Es überrascht nicht, dass schon wieder überall Dreck ansetzt.«
»Ich bin schockiert, schockiert«, sagte ich mit gespielter Entrüstung.
Sie überging den Witz. »Wir beobachten einige Vorgänge oben in Cooke County, die auf die Zunahme einer ganzen Reihe illegaler Aktivitäten hinweisen«, sagte sie. »Wie Sie vielleicht wissen, führen die Einsatztruppe zur Vernichtung von Marihuana und die Highway Patrol von Tennessee zusammen Überwachungsflüge durch, um Marihuana-Anpflanzungen aufzuspüren. In den letzten zwei Jahren scheint es in Cooke County eine merkliche Zunahme des Anbaus zu geben, wie sie in keinem anderen County im ganzen Staat zu beobachten ist. Wir haben zusätzliche Informationen, die auf einen Anstieg im Handel mit harten Drogen, Glücksspiel und Prostitution deuten.«
»Klingt, als wäre Cooke County ein One-Stop-Shop für sämtliche lasterhaften Bedürfnisse«, sagte ich. Der Kriminalbeamte, der mir irgendwie bekannt vorkam, grinste leicht, und plötzlich dämmerte mir, warum ich ihn zu kennen glaubte. Ich hatte ihn nie wirklich kennen gelernt, hatte ihn aber schon einmal gesehen: vor vierundzwanzig Stunden beim Hahnenkampf in Cooke County. Wie hatte Waylon ihn genannt? Rooster. Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit Art über die Gefahr, die darin lag, wenn man die Guten nicht mehr von den Bösen unterscheiden konnte. Meine Hände fingen an zu schwitzen, und mein Mund wurde trocken wie Baumwolle.
Price sprach noch, und ich zwang mich mit aller Macht, mich auf ihre Worte zu konzentrieren, während ich Rankin weiterhin anstarrte. »Als Agent Morgan sagte, Sie hätten ihn angerufen, um Ihre Besorgnis darüber auszudrücken, wie die Dienststelle des Sheriffs den Mordfall, zu dem Sie hinzugezogen wurden, behandelt, kam uns der Gedanke, dass Sie vielleicht indirekt ein Licht darauf werfen könnten, ob einige der kriminellen Unternehmungen von offizieller Seite gedeckt werden oder diese sogar darin verwickelt ist.«
Rankins Blick war auf mich gerichtet wie ein Laserstrahl. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, brachte aber nichts raus. In meinem Hirn überschlugen sich die Gedanken. Was war, wenn die offizielle Korruption nicht auf den Sheriff und seine Leute beschränkt war? Was war, wenn sie sich bis in die Kriminalpolizei hinein erstreckte, ja, sogar bis in diese Arbeitsgruppe? Ich steckte eindeutig bis über die Hutschnur mit drin. »Ich … ich …« Mit dicker, kleisteriger Zunge befeuchtete ich meine ausgedörrten Lippen.
Rankin neigte den Kopf zur Seite. »Doc, Sie sehen aus, als hätten Sie einen trockenen Mund. Kann ich Ihnen etwas Wasser besorgen?« Ich nickte nervös. »Vielleicht möchten Sie auch lieber ein Quäntchen hiervon?« Er schob etwas über den Eichentisch zu mir herüber, das aussah wie ein Hockey-Puck. Ich fing es auf, hob es hoch und drehte es in der Hand. Es war eine Dose Copenhagen. Mein Magen rebellierte augenblicklich. »Mach schon, Kumpel, probier’s«, intonierte Rankin mit dem schweren Südstaaten-Akzent, dessen er sich auch beim Hahnenkampf bedient hatte. »Das macht dich munter. Siehst aus, als könntest du ein bisschen Aufmunterung gebrauchen.« Als er fertig war mit seinem Zitat, grinste er breit und zwinkerte mir zu.
Verdutzt schaute ich in die Gesichter der Anwesenden. Die anderen Beamten schienen aufmerksam ihre Notizblöcke zu konsultieren, doch ich glaubte, hier und da einen Mundwinkel zucken und ein Augenlid zwinkern zu sehen. Plötzlich verschluckte Cole Billings ein Prusten, und da traf es mich wie ein Donnerschlag: Diese Typen – diese sittenstrengen, grundanständigen Beamten in Anzug und Krawatte – zogen mich auf. Zuerst war ich entrüstet, doch bald überkam mich große Erleichterung. Rankin musste als verdeckter Ermittler beim Hahnenkampf gewesen sein; zum Teufel, wahrscheinlich war er sogar verwanzt gewesen, und es war denkbar – ja sogar wahrscheinlich –, dass die anwesenden Beamten mit angehört hatten, wie ich in die Tonne gekotzt hatte. Als mir das aufging, konnte ich nicht anders, als selbst der Absurdität der Situation zu erliegen. Ich schob die Tabaksdose zurück zu Rankin und sagte in gedehntem Tonfall: »Zum Teufel, Rooster, das Zeug hab ich aufgegeben, aber wenn ihr ’n Schlückchen schwarz gebrannten Whiskey habt, da würde ich nicht nein sagen.«
Die League of Justice brach in schallendes Gelächter aus. Sobald ich mir Gehör verschaffen konnte, fügte ich hinzu: »Okay, Sie haben mich auf frischer Tat ertappt – ich habe das Gesetz gebrochen. Ich rede. Versprechen Sie mir nur, Gnade mit mir walten zu lassen.« Mehrere Beamte wischten sich die Augen. Ich fand, es sei an der Zeit, einen Zahn zuzulegen. »Im Ernst, sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann«, wandte ich mich an Price. »Vielleicht lässt sich dann auch sagen, ob Sie mir ebenfalls helfen können.«
»Angesichts der Zunahme des Marihuana-Anbaus in letzter Zeit führt Cooke County jetzt die Marihuana-Produktion im Staat an«, begann sie so forsch, als würde sie eine PowerPoint-Rede halten. »Hinzu kommt, dass es da oben eine alarmierende Zunahme an Methamphetamin-Laboren in Kellern und Wohnwagen gibt. Wir wissen aus einer gut informierten Quelle, dass die Dienststelle des Sheriffs Drogenhändler deckt, ja, womöglich sogar Schutzgelder von ihnen erpresst. Wenn das stimmt, könnten wir es als organisierte Erpressung vor Gericht bringen.« Ich nickte, denn ich erinnerte mich an einen Fall, bei dem das Justizministerium einst die Chicagoer Polizei als »kriminelles Unternehmen« eingestuft hatte. Meine Ohren richteten sich weiter auf, als Price hinzufügte: »Wir haben auch gehört – nicht nur durch Ihr Telefonat mit Agent Morgan –, dass der Sheriff sich in dem Mordfall, an dem Sie arbeiten, womöglich der Verdunkelung, der Verschwörung und eventuell sogar des Mordes schuldig gemacht hat. Was denken Sie darüber?«
»Nun, lassen Sie mich ein wenig ausholen.« Ich erzählte der Gruppe, inwieweit ich mit dem Fall befasst war, wobei ich mit der Bergung der Leiche aus der Höhle begann. Als ich beschrieb, wie ich von Jim O’Conner entführt worden war, wurde ich von einem Schwall an Fragen über den Mann unterbrochen, aus denen ich schloss, dass es O’Conner bis dahin gelungen war, ihren Radar zu unterfliegen. Am meisten ereiferten sie sich über seine geheime Straße und den Kudzutunnel. Hatte ich andere Fahrzeuge gesehen? Irgendwelche Spuren von schweren Lkws? Behälter oder ein auffälliger Geruch, der auf Methamphetamin-Produktion schließen ließ?
Alle diese Fragen beantwortete ich mit »Nein«. »Der Typ ist interessant und ungewöhnlich«, sagte ich, »und er gibt zu, dass er früher mal in einige krumme Geschäfte verwickelt war. Aber er war ein Kriegsheld, und ich halte ihn nicht für einen Mörder.« Der Status als Kriegsheld schien einiges Gewicht zu haben. »Der Sheriff möchte ihn des Mordes anklagen«, räumte ich ein, »aber der Sheriff hat auch noch ein Hühnchen – eine Art Familienfehde-Hühnchen, könnte man sagen – mit O’Conner zu rupfen, es ist also durchaus möglich, dass das sein Urteilsvermögen trügt.«
Schließlich kam ich auf Price’ Frage nach dem Sheriff zurück. »Sheriff Kitchings scheint eindeutig mehr über diesen Fall zu wissen, als er sagt«, bemerkte ich. »Er ist mir ausgewichen, hat mich hingehalten und mich sogar offen angelogen, als ich ihn nach vermisst gemeldeten Frauen gefragt habe. Als ich ihn schließlich mit der Identität des Opfers und der Verbindung zu seiner Familie konfrontiert habe, ist er mit dem Gewehr auf mich losgegangen. Wenn Wünsche Kugeln wären, dann wäre ich wahrscheinlich heute nicht hier.« Es folgten mehrere Fragen nach der bewaffneten Auseinandersetzung, die ich so sachlich wie möglich beantwortete. »Ich weiß nicht, ob er absichtlich die Justiz behindert«, fuhr ich fort, »oder ob er nur ein bisschen hinterherhinkt und nicht gut auf die Entdeckung reagiert, dass seine Familie womöglich in die Sache verstrickt ist. Deswegen bin ich heute hier. Ich würde gerne wissen, ob die Kriminalpolizei und das FBI herausfinden können, ob er sich außer Verwirrung und einem reizbaren Gemüt noch mehr hat zuschulden kommen lassen.«
Price sah die anderen Bundesbeamten an. »Ich bin mir leider nicht sicher, ob das FBI sich um diesen Fall kümmern kann, Dr. Brockton. Obwohl wir sicher ein Interesse daran haben.«
»Warum nicht?«, fragte ich. »Wenn er Ermittlungen in einem Mordfall behindert? Verstößt er damit nicht gegen Bundesgesetze?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Man muss dabei berücksichtigen, welches die ursprünglich zugrundeliegende Straftat ist – und das ist in diesem Fall ein Tötungsdelikt, ein Delikt, das der einzelstaatlichen Gerichtsbarkeit unterliegt. Also wäre es eine Angelegenheit für den örtlichen Staatsanwalt oder die Kriminalpolizei.«
»Ich habe kein Problem damit, wenn die Kriminalpolizei sich darum kümmert. Schließlich habe ich als Erstes Steve angerufen.« Ich wandte mich an Morgan. »Wen hat die Kriminalpolizei im Augenblick oben in Cooke County, neben Brian ›Rooster‹ Rankin hier? Jemanden, den ich kenne?«
Steve rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Wir haben da im Augenblick so eine Art Interregnum. Den Typ, der jahrelang da oben war, haben wir gerade abgezogen. Wir waren uns nicht sicher, ob er ganz so … nun, wachsam war, wie er hätte sein sollen. Wir haben noch niemand Neuen angewiesen. Wir wollten uns zuerst eine Weile auf die verdeckten Ermittlungen konzentrieren.«
Das war enttäuschend. »Nun, einen verdammten Fall von Tierquälerei haben Sie auf jeden Fall. Dazu Glücksspiel. Was für Beweise brauchen Sie denn noch, um den Sheriff wegen Verdunkelung vor Gericht zu bringen?«
Er zuckte zusammen. »Das könnte schwierig werden, Doc. Obwohl wir Beweise vorlegen könnten, müsste eine Anklage bei der Staatsanwaltschaft in Cooke County eingereicht werden oder – eher noch – bei einer Grand Jury. Es vor eine Grand Jury zu bringen heißt, dass er nichts zu befürchten hat, denn eine Grand Jury in Cooke County – das sind, wie Sie sich gewiss erinnern, die Leute, die Tom Kitchings in einem Erdrutschwahlsieg gewählt haben – wird eine Klage gegen ihn wahrscheinlich abweisen. Und wenn sie sie doch annehmen würden, und der Fall käme vor ein Geschworenengericht, dann stünden seine Chancen ziemlich gut, freigesprochen zu werden. Kitchings ist da oben als Sheriff sehr beliebt.«
Ich starrte ihn an. »Sie wollen also sagen, selbst wenn er schuldig ist – selbst wenn Sie wissen, dass er schuldig ist –, schaut die Kriminalpolizei weg?«
Steve wand sich auf seinem Stuhl wie ein Student, der die richtige Antwort nicht weiß. »Die Sache ist die, Doc, dass man in solchen Fällen nur einen einzigen Schuss hat. Wenn man da nicht trifft – wenn eine Grand Jury die Anklage abweist oder wenn man den Prozess vor Gericht verliert –, macht man den Sheriff noch mächtiger. Dann wird er praktisch unantastbar, und das weiß er. Und dann ist man erst recht angeschmiert.«
Das lief überhaupt nicht so, wie ich gehofft hatte. »Und was soll ich jetzt tun? Die Achseln zucken und mir denken, so läuft das eben in Cooke County?« Ich sah von einem Gesicht zum anderen, doch niemand am Tisch erwiderte meinen Blick.
Schließlich meldete Price sich zu Wort. »Nein, Doktor, Sie sollen Ihren Job so gut machen, wie Sie es vermögen, und darauf vertrauen, dass wir auch unser Möglichstes tun. Glauben Sie mir, wir sehen genauso ungern wie Sie, wenn Staatsbeamte das Gesetz brechen. Aber wir müssen uns bei unserer Arbeit an geltende Gesetze und an das FBI-Protokoll halten. Manchmal kommen die einem vor wie Hindernisse. Aber sie sind Teil des amerikanischen Justizwesens, das um Welten besser ist als alle anderen Systeme, die ich kenne.«
Ich war wohl zu weit gegangen. »Ich wollte nicht andeuten …«
Sie unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Nicht nötig, Doktor. Wir verstehen Ihren Frust – wir teilen ihn, um genau zu sein –, und wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen. Bitte halten Sie weiterhin Augen und Ohren offen und berichten Sie uns von allen illegalen oder verdächtigen Aktivitäten, die Ihnen auffallen. Wie gesagt, bei diesem Tötungsdelikt mögen uns die Hände gebunden sein, aber man weiß nie – womöglich erfahren wir etwas, was uns bei einem anderen Zeugen als Druckmittel dienen könnte, bei jemandem, der Delikte nach Bundesrecht erhärten könnte.« Ich nickte.
Price schaute auf ihre Uhr. »Sonst noch etwas?« Ich schüttelte den Kopf. »Nun, dann wollen wir Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Dr. Brockton. Sie sind sicher sehr beschäftigt.« Das war ich zwar, doch nicht so sehr, um nicht mitzubekommen, dass ich entlassen worden war. »Lassen Sie uns wissen, wenn noch etwas vorfällt.«
»Sicher«, sagte ich. »Obwohl ich mir im Augenblick nicht vorstellen kann, was noch kommen sollte.«
»Sie wären überrascht«, sagte sie und nickte Steve Morgan knapp zu.
»Ich bringe Sie wieder runter«, sagte Steve und erhob sich rasch von seinem Platz an dem runden Tisch.
Auf dem Weg nach unten machten wir verlegen ein wenig Smalltalk: Ashley, seine Älteste, ging jetzt zum Ballettunterricht; Justin, der Mittlere, hatte im letzten Sommer T-Ball gespielt und war ein zuverlässiger Schlagmann, aber kein besonders guter Feldspieler; Christian, noch im Kleinkindalter, war von der Veranda gefallen und hatte sich zwei Veilchen eingehandelt, was Steve und seiner Frau zwei Wochen lang argwöhnische Blicke von Fremden eingetragen hatte, bis die blauen Flecken wieder verblasst waren. In der Lobby schüttelten wir uns die Hand, und ich verabschiedete mich von dem Wachmann, der zögerlich den Kopf ein wenig neigte. Als ich die Eingangstür erreichte, schaute ich auf die Uhr und drehte mich dann noch einmal um, um die Uhrzeit auf der Wanduhr über dem Aufzug zu überprüfen. Auf beiden Uhren war es fünf Minuten vor zehn. Steve Morgan hatte sich, ganz wie ich vermutet hatte, nicht von dem Fleck gerührt, wo ich mich von ihm verabschiedet hatte.
Ich fingerte kurz an meiner Uhr herum, winkte Steve Auf Wiedersehen und trat hinaus in die scharfe Herbstluft. Dann ging ich bis zur nächsten Ecke – aus Steves Gesichtsfeld –, überquerte die Straße und tauchte auf dem Parkplatz des alten Supreme Court unter, der von einer Hecke begrenzt wurde, die so dünn war, dass ich hindurchsehen konnte, ohne vom Eingang des Federal Buildings aus bemerkt zu werden.
Um eine Minute vor zehn schlenderte ein Mann auf den Granitwürfel zu, und Steve Morgan trat heraus, um ihn willkommen zu heißen. Agentin Price’ letzte Worte hatten etwas Prophetisches gehabt: Ich war überrascht, ja sogar schockiert. Der Mann, der das Behördenhaus zusammen mit Steve betrat, war ein Deputy des Sheriffs von Cooke County: mein alter Kumpel Leon Williams.