2

Deputy Williams, der immer noch aussah, als wäre er einem Geist begegnet, lenkte den Cherokee durch das Parkplatz-Labyrinth der Universitätsklinik, die gleich neben dem Gelände der Body Farm lag. »Ich bin ein guter Nachbar für ein Krankenhaus«, scherzte ich mit Williams. »Wer zu spät zur Arbeit kommt, muss drüben bei der Body Farm parken. Also sehen die Krankenhausangestellten alle zu, dass sie eine halbe Stunde zu früh zur Arbeit kommen.« Seiner Miene nach zu urteilen würde er dort sogar jeden Tag mindestens eine Stunde zu früh auf der Arbeit erscheinen.

Wir verließen den Krankenhauskomplex und fuhren auf eine sechsspurige Schnellstraße, um auf einer hoch aufragenden Spannbetonbrücke den Tennessee River zu überqueren. Zu unserer Rechten bot die Brücke einen Panoramablick über den Campus der University of Tennessee, der sich am nördlichen Flussufer über gut drei Kilometer erstreckte. Zur Linken glitt der Blick von den Milchkühen am nahen Flussufer zu den Villen auf der gegenüberliegenden Seite, welche die höher gelegenen Ufer des Fort-Loudoun-Stausees säumten.

Der Fort Loudoun Lake – Ortsansässige nennen ihn wegen der vielen Schadstoffe und Abwässer auch »Fort Nasty« – gehört zu einer Kette von Stauseen entlang des 1049 Kilometer langen Tennessee Rivers. Der Tennessee River beginnt in der Tat nur wenige Kilometer stromaufwärts von der Body Farm am Zusammenfluss von Holston River und French Broad River. Ein kurzes Stück durch die Innenstadt von Knoxville und an der Universität vorbei verläuft der Fluss schmal und schäumend. Direkt hinter der Betonbrücke, die Williams und ich gerade überquerten, macht er dann eine schwungvolle Biegung nach links und wird langsamer und breiter, gezähmt durch den Fort-Loudoun-Staudamm fünfundsechzig Kilometer flussabwärts. In dieser ausholenden Biegung befindet sich die Rinderfarm der Universität und an ihrer Außenseite, am nordwestlichen Ufer, das Wohnviertel Sequoyah Hills, Knoxvilles reichstes Viertel. Der Blick von den Villen über das Wasser zu der Farm in den Hügeln ist atemberaubend, doch dafür müssen die Bewohner neben ihren riesigen Hypotheken noch einen weiteren Preis zahlen: An sengend heißen Tagen, wenn der Wind sanft aus Osten weht, baden die schönsten Villen von Knoxville im scharfen Aroma von Rinderdung, sehr selten und sehr schwach überlagert noch von einem Hauch menschlicher Verwesung.

Williams bog nach rechts ab, wo die Schnellstraße sich mit der Interstate 40 kreuzte, und lenkte uns in den kriechenden Verkehr auf der I-40 East durch die Innenstadt von Knoxville. Im Schritttempo rückten wir an den nie endenden Reparaturarbeiten an der Fernstraße vorbei und hatten reichlich Zeit, Knoxvilles bescheidene architektonische Silhouette zu bewundern – zwei dreißigstöckige Banktürme, ein klotziges presbyterianisches Krankenhaus, einige Cornflakes-Schachtel-förmige Studentenwohnheime der Universität und schließlich der »Sunsphere« – ein Relikt der Weltausstellung von 1982, das aussieht wie ein fast dreiundzwanzig Meter großer goldener Golfball, der auf einem einundachtzig Meter hohen Stahlfachwerkturm balanciert. Als wir die Innenstadt schließlich hinter uns gelassen hatten, lichtete sich der Verkehr, die Gebäude blieben hinter uns zurück, abgelöst von sanften Gebirgsausläufern und dem scharfen Grat der Great Smoky Mountains, dem Rückgrat der Appalachen. Die Appalachen prägten die gesamte östliche Grenze von Tennessee, und Cooke County, Tennessee, war wiederum die zerklüftetste Gegend der Appalachen.

Tom Kitchings, der Mann, der Deputy Williams losgeschickt hatte, um mich abzuholen, war offiziell der Sheriff von Cooke County. In Wirklichkeit jedoch war er sein Souverän. Der Titel »Lord High Sheriff« wurde, soweit mir bekannt ist, in Tennessee nie benutzt, doch er beschrieb exakt Kitchings’ Position in seiner Gebirgsfeste.

Mit seinen bewaldeten Hügeln und wilden Flussläufen war Cooke County einer der schönsten Flecken in ganz Tennessee. Und auch einer der wildesten, und zwar in mehr als einer Hinsicht. Die zerklüftete Grenze zu North Carolina machte Cooke County zur legendären Zuflucht für Schwarzbrenner, Alkoholschmuggler und allerlei andere Gesetzesverächter. Die unzugängliche Topographie, eng miteinander verbundene Familienclans und die vielen Serpentinen hatten Cooke County auch dann noch das Gesetz vom Leib gehalten, nachdem der größte Teil der Appalachen sich längst hatte zähmen lassen. Bis weit ins Zeitalter von Fernsehen, Internet und schicken Ferienwohnungen hinein hatte Cooke County an seiner Grenzlandmentalität festgehalten, war eine Art Wilder Süden geblieben, wo eine raue, reaktionäre Justiz die einzige Justiz war, deren Arm lang und stark genug war, um bis tief in die Täler und hinauf auf die Berge zu reichen.

All das änderte sich, als Tom Kitchings übernahm.

Kitchings selbst war ein Kind aus Cooke County – ausgeschlossen, dass es einem Außenseiter jemals gelingen würde, in dieser stammesbewusstesten, insulärsten Enklave eines stammesbewussten, insulären Teils des Staates zum Sheriff gewählt zu werden. Kitchings gab es schon so lange in Cooke County, wie Cooke County existierte, ja, wahrscheinlich sogar noch länger. Doch Tom Kitchings war nicht der typische Hinterwäldler. Er hatte an der Highschool Football gespielt – was nicht sonderlich überraschte: Die Schule war so klein, dass alle einigermaßen diensttauglichen Jungen zum Spiel abkommandiert wurden; und sie spielten wie der Teufel. Andere Highschools im Osten von Tennessee fürchteten sich vor Auswärtsspielen in Cooke County. Die Spieler der auswärtigen Mannschaften – unter ihnen mein Sohn Jeff – humpelten stets mit verstauchten Knöcheln und blutigen Nasen nach Hause; manche hatten beim Heimkommen auch weniger Zähne als beim Hinfahren. Kitchings jedoch war nicht nur ein Rowdy in Schutzpolstern; er war ein talentierter Sportler. An der Cooke County High war er Tailback, und er war so gut, dass er in einer Zeit, als die University of Tennessee die freie Auswahl unter den besten Sportlern im ganzen Südosten hatte, ein Stipendium an ebendieser Universität bekam. Es sah aus, als wäre er mit dem Team der Tennessee Volunteers auf dem schnellen Weg zur National Football League – im zweiten Studienjahr trug er den Ball im Lauf neunhundert Meter nach vorne, im nächsten sogar elfhundert. Doch seine College-Karriere endete ebenso wie seine Footballer-Karriere in der siebten Minute des ersten Spiels in seinem vorletzten Studienjahr, und zwar vor 90.000 Fans im Neyland-Stadion, als ein Linebacker aus Alabama ihm gegen das linke Knie trat und Bänder und Sehnen zerfetzte.

Kitchings war nach Hause ins Cooke County gehumpelt und aus dem Blickfeld verschwunden. Laut meinem Sohn – der das Leben von Spielern der Tennessee Volunteers verfolgte wie ein Fan von nachmittäglichen Seifenopern das seiner Stars – gingen Gerüchte um, Kitchings trinke viel, doch mehr wusste auch er nicht. Und dann, sechs oder acht Jahre später, machte Jeff mich auf eine Geschichte in den Sportseiten der Zeitung aufmerksam, in der es hieß, Kitchings gehe es gut und er habe seine Berufung in einem Leben als Gesetzeshüter gefunden, der half, die wilden Bewohner von Cooke County zu zähmen.

Das mit dem Zähmen verlief nicht immer glatt. Einige Jahre, nachdem Kitchings den Strafverfolgungsbehörden beitrat, wurde sein Chef, der damalige Sheriff, bei einer mondbeschienenen Schießerei am Rand einer zwei Morgen großen Marihuana-Pflanzung getötet. Pot war, wie Außenstehende immer wieder mit Erstaunen hörten, die wichtigste Feldfrucht in Cooke County, mit einigem Abstand gefolgt von Tabak. In der kühlen, feuchten Gebirgsluft hatte Marihuana ideale Wachstumsbedingungen; und meine Kollegen von der Polizei sagten, dass das Marihuana aus dem Cooke County tatsächlich stärker sei als das aus Mexiko oder Kolumbien. Man brauchte kein großes Feld, um gutes Geld zu verdienen, und die schwer zugänglichen Hügelketten und Täler gaben Bauern genau die Zurückgezogenheit, die einst auch die Schwarzbrenner zu schätzen gewusst hatten. Doch ab und zu flog eine der Pflanzungen auf, und ab und zu wurde jemand erschossen – auch wenn das normalerweise nicht der Sheriff war.

Bei der Nachwahl, die abgehalten wurde, um den Posten wieder zu besetzen, besiegte Kitchings seinen Mitbewerber – einen örtlichen Unternehmer – so leicht, wie er einst Möchtegern-Tackler besiegt hatte. Das vergangene Jahrzehnt hatte er darauf verwendet, das Büro des Sheriffs in die moderne Zeit zu überführen. Mit dem Geld, das bei ungezählten Drogenrazzien beschlagnahmt wurde, kaufte er eine neue Fahrzeugflotte: Geländelimousinen, die mit den zerfurchten Straßen, die das Land durchzogen, zurechtkamen; geländegängige Motorräder, mit denen man angeschwollene Bäche durchqueren und Marihuana-Pflanzungen im Gebirge erreichen konnte; sogar einen Hubschrauber, von dem aus er sein Gebirgsreich aus der Luft überwachen konnte, mit seinem Bruder, Chief Deputy Orbin Kitchings, einem ehemaligen Hubschrauberpiloten der Armee, am Steuer.

Trotz seiner Erfolge und obwohl fast zwanzig Jahre verstrichen waren, war Tom Kitchings nie ganz über seine Verletzung beim Football hinweggekommen. Er hinkte leicht und war in dem Punkt äußerst empfindlich. Und auch wenn er in Cooke County so weit gekommen war, wie man dort nur kommen konnte, war das im allerwörtlichsten Sinne doch meilenweit entfernt von dem, was er als Star der National Football League hätte erreichen können.

Nichts davon wusste ich aus erster Hand. Alles, was ich über Tom Kitchings wusste, stammte von Fans der Tennessee Volunteers wie Jeff und Polizeikollegen wie Art Bohanan, Kriminalist bei der Polizei von Knoxville. Im Gegensatz zu allen anderen Sheriffs im Osten von Tennessee hatte Kitchings mich noch nie bei einem forensischen Fall hinzugezogen. Nicht, dass mir das etwas ausmachte. Nach dem zu urteilen, was ich von Art gehört hatte, bekam man, wenn man in Cooke County in einen Fall verwickelt wurde, leicht das Gefühl, man habe es mit Schlangen zu tun. Dabei war es nicht nur Art, sondern auch anderen Beamten vom Polizeirevier Knoxville nicht ganz klar, was in Cooke County giftiger war: die bösen Jungs in den zerbeulten Pick-ups oder die guten Jungs in ihren Geländelimousinen und Hubschraubern. Nichts war sicher; alles war möglich.

Ich hatte reichlich Zeit, über all das nachzudenken, während der Cherokee auf der Interstate 40 nach Osten fuhr und das breite Tal des French Broad River durchquerte. Kurz bevor die I-40 ins Herz der Appalachen führte, nahm Williams eine Abfahrt und fuhr links auf eine Landstraße, die so kurvenreich war, dass mir ein Korkenzieher im Vergleich dazu gerade vorkam.

Die Straße hatte eine dicke gelbe Mittellinie, doch Williams fuhr, als gehörten beide Straßenseiten ihm ganz allein, und schlingerte von einer Seite zur anderen. »Ist das hier eine Einbahnstraße?«, fragte ich gegen besseres Wissen, aber in der Hoffnung, er würde den Hinweis verstehen und sich an die rechte Straßenseite halten.

»Einbahnstraße?« Er lachte entspannt. Jetzt waren wir auf seinem Terrain, nicht mehr auf meinem. »Nein, aber man muss die Kurven schneiden, sonst kommt man nie dahin, wo man hinwill.« Um das zu demonstrieren, nahm er beide Hände vom Steuer, und der Wagen schoss hundert Meter geradeaus, während die Mittellinie sich unter uns hindurchschlängelte. »Nachts ist es leichter, da sieht man die anderen Autos kommen.« Er fuhr nach links, um eine enge Kurve an der Innenseite zu nehmen. »Außer natürlich, sie haben kein Licht an. Ein- oder zweimal im Jahr gibt’s hier nachts böse Frontalzusammenstöße.«

Ich versuchte, länger über das Gesagte nachzusinnen, doch da die Straße noch kurviger wurde, wanderten meine Gedanken bald zu einem weiteren beängstigenden Thema: Wie viele Kurven überstand ich noch, ohne mich zu übergeben? Nicht viele, wie mir klar wurde, denn auf meiner Stirn bildeten sich bereits Schweißperlen, mein Mund füllte sich mit Speichel. Ich kurbelte das Fenster herunter, hielt das Gesicht in die frische Luft und hechelte wie ein Hund. Es half, aber nicht genug, um gegen unsere fortgesetzte Achterbahnfahrt anzukommen. Ich zog den Kopf wieder ins Wageninnere. »Hören Sie, ich mache das nur ungern«, sagte ich, »aber ich muss Sie bitten anzuhalten. Mir wird schlecht.«

Er schaute mich an, als hätte er so etwas Lächerliches noch nie im Leben gehört. Schlecht? Auf dieser schönen Straße? So einen Blick warf ein Kamel in der Sahara wahrscheinlich einem völlig ausgedörrten Menschen zu. Wie, durstig? Hast du nicht vor einer Woche erst ein bisschen Wasser getrunken?

Ein gequälter Ausdruck arbeitete sich von seinem Mund zu seinen Augen hinauf; dann schüttelte er einmal den Kopf. »Der Sheriff hat gesagt, er braucht Sie sofort. Ich schätze, wir fahren besser weiter. Hängen Sie einfach den Kopf aus dem Fenster und lassen es fliegen, wenn’s sein muss.«

Wie aufs Stichwort tat ich genau das. Erbrochenes besudelte den goldenen Stern, der auf die Tür gemalt war. Ich zog den Kopf wieder rein. »So einfach ist das nicht«, krächzte ich. »Es ist nicht nur die Kotzerei. Ich habe Morbus Menière – Drehschwindel –, und noch dreißig Sekunden, und ich bekomme einen Schwindelanfall, der Tage anhalten wird. Vertrauen Sie mir, wenn das passiert, werde ich nicht in der Lage sein, das zu tun, wozu der Sheriff mich braucht.«

Er fluchte leise, doch er stieg auf die Bremse, und quietschend kamen wir auf dem Seitenstreifen neben dem munter tosenden Little Pigeon River zum Stehen. Zwei Minuten später waren wir wieder unterwegs. Diesmal blieben wir auf unserer Seite der Fahrbahn, und es war Schluss mit den quietschenden Reifen. Denn jetzt fuhr ich.

»Ich glaub’s nicht, dass ich mich von Ihnen beschwatzen hab lassen«, murmelte Williams. »Der Sheriff wird ausrasten.«

»Er würde noch mehr ausrasten, wenn ich drei Tage in einem abgedunkelten Zimmer liegen müsste«, sagte ich. »Vielleicht wird’s ja nicht so schlimm.« Ich kurbelte das Fenster herunter, um den scharfen Geruch nach Erbrochenem zu verscheuchen.

Zehn Minuten später fuhren wir um eine weitere Kurve, und zum ersten Mal, seit wir die Interstate verlassen hatten, konnte ich plötzlich mehr als hundert Meter nach vorn sehen. Achthundert Meter verlief die Straße schnurgerade und brachte uns nach Jonesport, der Kreishauptstadt, die wahrscheinlich auf dem einzigen ebenen Flecken Land lag, den es im ganzen Cooke County gab.

An einem großen Platz mitten in der Stadt lag das Gericht, ein zweistöckiges Gebäude, das aussah, als sollte es eine militärische Belagerung überstehen können. Die Fassade aus dicken Platten grob behauenen Granits wurde nur von wenigen kleinen Fenstern durchbrochen, die alle vergittert waren, und der riesigen eisenbeschlagenen Tür wäre selbst mit einem mittelalterlichen Sturmbock nicht beizukommen gewesen. Ich hatte Gefängnisse gesehen, die weniger gesichert waren. Dafür waren sie hübscher gewesen.

»Sie haben hier ja ein mächtig wehrhaftes Gerichtsgebäude«, bemerkte ich.

»Das alte ist in den zwanziger Jahren abgebrannt«, sagte er. »Die Verwandten eines Kerls, der einsaß, haben versucht, ihn rauszuholen. Es kam zu einer Schießerei, und dann brach ein Brand aus. Schätze, man wollte nicht, dass so was noch mal passiert.«

»Ist der Typ rausgekommen?«

»Nein, Sir. Zuerst hat ihn eine Kugel erwischt, dann ist er verbrannt. Die Sache ist nur die, dass er gar nicht ins Gefängnis gehört hätte. Das war von A bis Z ein verdammter Komplott.«

»Sie interessieren sich wohl sehr für die örtliche Geschichte?«, sagte ich.

»Jedenfalls für diesen Teil. Der Kerl war mein Großvater.« Er zeigte auf einen Fleck. »Parken Sie da.«

Kaum hatte ich das Fahrzeug in eine schräge Parkbucht vor dem Gericht gesteuert, spürte ich neben mir jemanden. Ich schaute aus dem offenen Fenster und erblickte einen in Khakistoff gekleideten Bauch, der über einer olivgrünen Hose hing; in einem Gürtelholster baumelte eine Achtunddreißiger. Dann beugte sich ein Gesicht ins Fenster. »Was zum Teufel ist hier los, Williams?«

Ich fand, es sei das Beste, gleich mit der Sprache rauszurücken. »Sheriff Kitchings? Sie haben einen sehr cleveren Deputy.«

Beide Männer starrten mich erstaunt an. Ich stürmte voran. »Ich habe auf dem Weg hier rauf gekotzt wie ein Reiher. Fast wäre ich ohnmächtig geworden, da hat sich Ihr Deputy hier an einen Artikel über die Reisekrankheit erinnert, den er mal irgendwo gelesen hat, und hat mich gefragt, ob ich nicht ein Stück fahren wollte, um zu schauen, ob das was nützt.« Kitchings schaute von mir zu Williams und wieder zurück. »Hat mich augenblicklich kuriert. Was für ein Glück, denn wenn nicht, hätte ich eine Woche unter dem Baum da drüben gelegen, bis mein Kopf wieder aufgehört hätte, sich zu drehen.«

Ich sah, dass aus den Hirnwindungen des Sheriffs eine Frage aufstieg – die vermutlich etwas mit der medizinischen Handbibliothek seines Deputys zu tun hatte –, also legte ich, bevor die Diskussion eine bibliographische Wendung nehmen konnte, einen anderen Gang ein. »Sheriff, ich erinnere mich nicht, Sie in irgendeinem meiner Anthropologie-Seminare an der Uni gesehen zu haben«, sagte ich. »Stimmt das?«

Er wurde rot und schüttelte den Kopf, plötzlich ganz der Student, der von einem Professor ausgehorcht wurde. »Ähm, ja, Sir, ich bin einfach nie dazu gekommen. Aber einmal war ich doch in Ihrer Vorlesung. Da haben Sie die Dias von der Feuerwerksexplosion gezeigt.«

Eine illegale Feuerwerksfabrik im Südosten von Tennessee war eines Tages mit einem mächtigen Knall in die Luft geflogen und hatte dreizehn Menschen – in rund fünfzig Einzelteilen – durchs Dach der Scheune gepfeffert, wo Schießpulver mit Pigmenten vermischt worden war. Es war ein grausamer Unfall, aber es war auch eine faszinierende forensische Fallstudie, eine selbstgemachte Massenkatastrophe. Bevor ich meinen Studierenden die Dias des Gemetzels zeigte, warnte ich sie immer eine Woche im Voraus, dass die Bilder schrecklich sein würden, und gab ihnen die Möglichkeit, diese Vorlesung – diese eine Vorlesung im ganzen Semester – ausfallen zu lassen, ohne negative Folgen befürchten zu müssen. Am Tag der Vorlesung war der Hörsaal dann jedes Mal gerammelt voll – alle mussten stehen, darunter zahlreiche Studierende, die diese Vorlesung normalerweise gar nicht hörten. Beim ersten Mal war ich überrascht; danach rechnete ich damit. Wenn ich klug gewesen wäre, hätte ich jedes Jahr Eintrittsgelder erhoben und mich dann früh als reicher Mann zur Ruhe gesetzt.

»Das war ein interessanter Fall«, sagte ich. »Ich glaube, am Ende hatten wir alle wieder richtig zusammengesetzt, aber als wir am Anfang die ganzen Arme und Beine aufstapelten, war ich mir nicht sicher, ob wir das hinkriegen würden.«

Williams war jetzt vermutlich in Sicherheit, also beendete ich den Smalltalk. »Was kann ich für Sie tun, Sheriff? Ihr Deputy hier sagte, es sei ungeheuer wichtig, aber er hat mir nicht verraten, um was es geht.«

»Ich habe eine Leiche, die Sie sich ansehen müssen.«

»Das dachte ich mir schon. Im Leichenschauhaus?«

»Leichenschauhaus?« Er schnaufte. »Doc, das Einzige, was hier bei uns auch nur entfernt an so was erinnert, ist die begehbare Kühlkammer fürs Bier im Git-N’-Go.« Er und Williams lachten über die Vorstellung, auf Bud-Light-Kästen könnte eine Leiche aufgebahrt sein. »Die Leiche ist noch da, wo wir sie gestern gefunden haben.«

Er lächelte über die Bestürzung in meiner Miene. »Keine Sorge, vierundzwanzig Stunden länger oder kürzer an diesem Ort schaden niemandem.« Er zwinkerte an mir vorbei Williams zu, und Williams lachte wieder, diesmal jedoch nicht über das, was Kitchings gesagt hatte, sondern über das, was er nicht gesagt hatte. Er lachte mit der Erleichterung eines Kindes, das beim Nachhausekommen von der Schule statt der erwarteten Schläge einen Keks bekommen hat. Und darüber musste auch ich lächeln.