23

Als ich ins Knochenlabor kam, arrangierte Miranda gerade die Rippen des verstorbenen Billy Ray Ledbetter auf einem Tablett. Der Rumpf hatte anderthalb Tage in unserem größten Kessel gekocht, einem Mazerationskessel etwa von der Größe einer Badewanne aus der Pionierzeit. Mirandas Miene nach zu urteilen, war der Kessel jedoch nicht das Einzige, was gekocht hatte. Sie wandte den Blick ab, als sie mich hereinkommen sah. Bleib ganz ruhig und entspannt, sagte ich mir. »Gibt’s was Interessantes?«

Sie wurde rot. »Das zu beurteilen überlasse ich Ihnen.« Sie schob das Tablett über den Arbeitstisch zu mir herüber und eilte zur Tür. So viel zu ruhig und entspannt.

»Miranda, warten Sie bitte.« Sie hielt inne, die Hand am Türknauf. »Bitte. Kommen Sie und reden Sie mit mir darüber.«

»Sie brauchen mich nicht, um Ihnen etwas darüber zu erzählen. Sie brauchen dazu auch keinen Pathologen. Zum Teufel, eine Erstsemesterstudentin – eine gottverdammte Erstsemesterstudentin – könnte Ihnen die Geschichte dieser Rippen erzählen.«

Sie machte es mir nicht leicht. »Ich meine nicht, was mit den Rippen nicht stimmt. Ich meine, was zwischen uns nicht stimmt.«

Sie drehte sich um. »Uns? Es gibt kein ›uns‹, Dr. Brockton.« Sie drehte den Knauf und öffnete die Tür ein Stück.

»Miranda, warten Sie. Schauen Sie, ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir leid, was da passiert ist, und es tut mir leid, dass Sie mich dabei beobachtet haben.«

»Ja, mir auch.« Voller Wut stieß sie die Tür auf, die draußen gegen den Türstopper knallte, zurückschlug und sie am Unterarm traf. Miranda schrie auf vor Schmerz. »Au, Mist! Autsch, verdammt! Oh, verflucht! Au, au, au!« Ich ging auf sie zu, doch sie sah mich kommen und schob sich mit der Schulter durch die Tür, um mir zu entfliehen. Die schwere Stahltür fiel hinter ihr ins Schloss.

Ja, Einstein, das ist ja super gelaufen, schimpfte ich höhnisch mit mir. Was für ein Schlamassel. Ich ließ mich auf einen alten Hocker plumpsen, legte die Stirn auf die Arbeitsfläche, schloss die Augen, atmete dreimal tief durch und versuchte, mich zu beruhigen, indem ich auf die Geräusche um mich herum lauschte statt auf den Aufruhr in mir drin. Irgendwo in den Eingeweiden des Gebäudes trommelte die Lüftungsanlage. Draußen, jenseits des Labyrinths aus Stahlträgern und Betonpfeilern, summte unerbittlich eine Motorsense, stieß einen abgewürgten Schrei aus und erstarb. Augenblicke später schwieg auch die Lüftung. In der plötzlichen Stille war alles, was ich hörte, ein tiefes Stöhnen wie von einem Tier, das Schmerzen hat. Ich schaute aus der Fensterwand des Labors, wo die Laute herkamen.

Miranda hockte zusammengekauert auf den Betonstufen vor dem Stadion, Handtasche und Rucksack lagen ein paar Stufen unter ihr. Sie beugte sich vor, drückte den rechten Arm an die Brust und schluchzte aus tiefstem Innern. Ich eilte nach draußen. Als ich näher kam, sah ich, dass die Ulna – der Unterarmknochen, der vom Ellenbogen zum Handgelenk führte – einen klumpigen Knick hatte, der vor sechzig Sekunden noch nicht da gewesen war. Der Knochen war gebrochen. Das wurde ja immer schlimmer.

»Miranda, Sie sind verletzt. Lassen Sie mich einen Blick darauf werfen.« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Doch sie schüttelte sie ab. »Fassen Sie mich nicht an. Lassen Sie mich einfach in Ruhe.«

»Nein. Ich lasse Sie erst in Ruhe, wenn Sie zum Arzt gehen.«

»Ich bin ein großes Mädchen, okay? Sie müssen sich nicht um mich kümmern. Abgesehen davon möchte ich nicht, dass Sie zu Ihrer nächsten Verabredung zum Babysitten zu spät kommen.«

»Miranda, ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe so etwas vorher noch nie gemacht, und ich werde es auch nie wieder machen. Es tut mir leid, aber ich bin auch nur ein Mensch.«

»Aber … warum ausgerechnet sie?« Damit fing sie von neuem an zu schluchzen.

Jess hatte recht. Ich war blind und unbedacht gewesen. »Oh, Miranda. Hören Sie mir zu. Sie haben bereits das Beste von mir, verstehen Sie das nicht? Wenn wir versuchten, mehr zu haben, stünden wir am Ende mit leeren Händen da.«

Sie hob den Kopf und starrte mich mit gequältem Blick an. »Das können Sie nicht wissen. Warum sagen Sie das?«

»Miranda, ich liebe es, mit Ihnen zu arbeiten. Unsere Zusammenarbeit ist absolut der beste Teil meiner Arbeit, und meine Arbeit ist im Augenblick der einzig erträgliche Teil meines Lebens. Wenn wir zusammen im Labor sind, fühle ich mich nicht dreißig Jahre älter als Sie. Ich fühle mich jung und klug und mit einem Menschen verbunden, den ich mag und sehr bewundere. Aber wenn wir auf andere Art zusammen wären – in einer Beziehung, im Bett –, würde der Altersunterschied uns treffen wie eine Tonne Ziegelsteine. Früher oder später würde ich Ihnen leidtun, und dann würden Sie sich fühlen wie in einer Falle, und dann würden Sie anfangen, mich zu verachten. Und das würde mich umbringen. Es würde mich absolut umbringen.«

Ihre Züge wurden ein wenig weicher. »Oh, Mist, wie könnte ich Sie je verachten? Ich verehre den Boden, über den Sie gehen.«

»Na. In letzter Zeit aber nicht.«

»Seien Sie nicht albern. Natürlich tue ich das. Ich bin nur … so … wütend auf Sie, weil Sie mit … mit so einem Kind rummachen!«

»Vorübergehende Geistesverwirrung. Ich hab’s kapiert. Ein nicht zu wiederholender Fehler. Sie ist schließlich ganze fünf Jahre jünger als Sie. Aber nur für die Akten: Vor den Augen des Gesetzes ist sie, glaube ich, erwachsen.« Ein tiefes Knurren stieg aus Mirandas Kehle auf, was ich als gutes Zeichen betrachtete, denn für eine Selbstmordkandidatin war es eindeutig zu lebhaft. »Und für eine Studienanfängerin ist sie ziemlich klug.« Das Knurren wurde einige Dezibel lauter. »Und tut den Augen wohl …« Ein Ellenbogen – ihr linker – schoss hervor und stieß mir in die Rippen. »Au. Natürlich ist sie nicht so klug und bezaubernd wie Sie, aber wer ist das schon?«

»Verdammt, warum können Sie mich nicht einfach wütend sein lassen?«

»Nun, dem Arm nach zu urteilen ist es Ihrer Gesundheit nicht besonders zuträglich.«

»Ach, das. Das war ich absichtlich. Damit ich eine Betriebsunfallentschädigung einklagen kann. Ich bin es satt, Ihre Mazerations-Sklavin zu sein.«

»Na, kommen Sie schon, gehen wir rüber zur studentischen Krankenstation und lassen die Elle richten.«

»Okay. Nein, warten Sie. Zuerst möchte ich Ihnen etwas an diesen Rippen zeigen.« Ich half ihr, von den Stufen aufzustehen, sammelte ihre Sachen ein und hielt ihr die Tür auf, schließlich war sie verletzt und überhaupt. Im Labor ging sie schnurgerade zu dem Tablett mit den Knochen und nahm mit der linken Hand eine Rippe. »Sehen Sie sich das an«, sagte sie und zeigte mit dem Zeigefinger auf etwas. »Aua!« Sie legte den gebogenen, elfenbeinfarbenen Knochen vorsichtig zurück auf den Arbeitstresen und zeigte mit der linken Hand darauf. Es war leicht zu sehen, was sie so spannend fand.

Der Knochen – der Größe nach zu urteilen die siebte oder achte Rippe – war ein ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter langer kommaförmiger Bogen. Der Bogen war asymmetrisch, was jedoch völlig normal war: Nahe der Wirbelsäule waren die Rippen spitz, doch in Richtung Brustbein wurde die Kurve flacher. Zudem war die Kurve seitlich leicht verzerrt, sodass die Knochen nicht flach auf dem Tisch oder Untersuchungsplatz liegen blieben. Bei all den verschiedenen Kurven hatten Studierende manchmal Probleme, wo bei einer einzelnen Rippe oben und wo unten war, bis sie lernten, sich den Querschnitt anzusehen. Im Querschnitt war eine Rippe geformt wie eine umgekehrte Träne; mit anderen Worten, der abgerundete Teil war oben. Der untere, spitzere Teil war ein wenig schief – die Innenseite war konkav geformt, um Platz für Arterie, Vene und Nervenbahn zu schaffen, die unter jeder Rippe verliefen. Die Architektur und Mechanik des menschlichen Körpers erstaunte mich immer wieder aufs Neue.

Was Miranda so aufregend fand, dass sie darüber ihren gebrochenen Arm vergaß, war ein Bereich etwa in der Mitte der Rippe. Dort umgab ein Ring aus dickerem Knochenmaterial, gut einen Zentimeter breit und drei Millimeter dick an der Mittellinie, die Rippe. Mehrere andere Rippen auf dem Tablett wiesen ähnliche Merkmale auf. »Kürzlich gebrochen«, sagte sie stolz. »Aber schon dabei zu verheilen. Eindeutig nicht perimortem.«

Sie hatte recht; die Rippen konnten nicht zum Zeitpunkt des Todes gebrochen worden sein. »Eine Idee, wie lange vor dem Tod?«

Sie schwang die Lampe mit dem eingebauten Vergrößerungsglas über die Knochen und schaltete das ringförmige Licht ein. »Also, aus dem Hämatom am Bruch hätte sich innerhalb einer Woche bis zehn Tage Kallus gebildet, neues Knochengewebe, also würde ich wagen zu behaupten, dass die Fraktur mindestens zwei Wochen vor dem Tod passierte. Aber der Kallus ist noch mehr knorpelig als knochig, also ist er noch nicht wirklich fest. Nur eine Vermutung – ich müsste eine Literaturrecherche machen, um es genauer sagen zu können –, aber ich würde schätzen, dieser Bruch passierte zwei oder drei Wochen ante mortem.«

»Würden Sie sagen, dass er vereinbar ist mit Verletzungen bei einer Wirtshausschlägerei achtzehn Tage vor dem Tod?«

Sie wirbelte herum und sah mich an. »Ja! Wollen Sie damit sagen, unser Freund hier war achtzehn Tage vor seinem Tod in eine Kneipenschlägerei verwickelt?«

»Und zwar in eine richtige, wenn man dem Angeklagten glauben darf, der auch ein bisschen was abbekommen hat. Ist in einem jener schummrigen Bierlokale aus Schlackenbetonsteinen in Morgan County passiert, die förmlich zu schreien schienen: ›Komm rein und stirb!‹ Zwei Ortsansässige haben die Geschichte bestätigt. Mr. Ledbetter hier hat anscheinend von bösen Männern in Kampfstiefeln ein paar Tritte abbekommen.«

Sie legte die erste Rippe aus der Hand und nahm eine andere. »Hier ist das wirklich Interessante. Sehen Sie den Kallus? Kein hübscher, ordentlicher Ring um den Knochen. Ich habe noch nie einen gesehen, der diese Form hatte.« Hatte ich auch nicht. Der Bereich aus neuem Knochenmaterial war lang und unregelmäßig; statt einen Querschnitt der Rippe zu umschlingen, erstreckte er sich über mehr als fünf Zentimeter entlang einer klumpigen, welligen Bahn. »Seltsam, was?« Ich nickte. »Muss ein Splitterbruch mit vielen Bruchstücken sein«, fuhr sie fort. »Aber das ist noch nicht alles. Sehen Sie sich das distale Ende des Bruchs an, das von der Körpermitte weg gerichtet ist. Da fehlt was.«

Ich beugte mich näher über die Lupe. Tatsächlich, unter dem einen Ende des Kallus befand sich in dem darunter liegenden Knochen eine Ausbuchtung. »Hol mich doch der Teufel«, sagte ich. »Sieht aus, als wäre ein Stück abgesplittert.«

Miranda nickte aufgeregt. »Aber wo ist das fehlende Stück?«

»Vielleicht irgendwo im rechten Lungenflügel«, sagte ich.

»Genau das habe ich auch gedacht.« Sie grinste. »Schauen wir doch nach.«

»Nein, ich schaue nach«, sagte ich. »Und Sie lassen Ihren Arm richten.«

Sie verzog das Gesicht, doch dann strahlte sie wieder. »Das ist ein toller Fall!«

»Ja. Und ich bin sehr froh, dass Sie mir dabei helfen. Hervorragende Arbeit, Miranda. Danke.« Ich sah sie an und hielt ihren Blick fest. Ihre Augen glitzerten und füllten sich mit Tränen – verdammt, sie würde doch nicht schon wieder anfangen zu weinen? –, doch dann lächelte sie und nickte knapp. Gott sei Dank, dachte ich und nickte ebenfalls.

Ich ließ sie am Lieferanteneingang zur Krankenstation aussteigen. Wir waren dort regelmäßig zu Gast, wenn wir – wie so häufig – nicht unbedingt über den Fluss zum Leichenschauhaus fahren wollten und rasch mal ein paar Röntgenaufnahmen brauchten. Miranda stieß die Tür des Pick-ups mit der Hüfte zu und winkte mir mit ihrer gesunden Hand.

Ich überquerte den Fluss – unseren ganz persönlichen Styx, wie einer meiner Kollegen einmal im Scherz gesagt hatte; doch das hätte dann geheißen, dass ich Charon, der Fährmann des Todes, wäre, und ich war mir nicht sicher, ob mir das gefiel –, fuhr hinters Unikrankenhaus und parkte neben der Laderampe des Leichenschauhauses. Ich tippte den Zahlencode für die Tür daneben ein und eilte hindurch. Zuerst ging ich in den Röntgenraum, wo ich mir Ledbetters Akte heraussuchte und die Aufnahmen an einen Röntgenbildbetrachter hängte. Seine Rippen waren in einem miserablen Zustand: Auf der rechten Seite waren sechs Rippen gebrochen, drei von ihnen an zwei oder mehr Stellen. Die siebte Rippe – die letzte »echte« Rippe, die so hieß, weil sie noch bis zum Brustbein führte, während die »falschen« Rippen darunter dies nicht taten – wies einen der schlimmsten Trümmerbrüche auf, die ich je gesehen hatte; es sah aus, als wäre das eine Ende durch einen Müllzerkleinerer geschoben worden, bevor man es mit Klebeband wieder zusammengeflickt hatte. Ich konnte nicht glauben, dass diese Verletzungen in Dr. Hamiltons Obduktionsbericht mit keinem Wort erwähnt wurden. Und ich konnte nicht glauben, dass ich es versäumt hatte, mir die Röntgenaufnahmen schon vor Wochen anzusehen. Ich betrachtete die vielen Knochensplitter, die auf der Aufnahme dichter und blasser waren als der Kallus, und versuchte zu bestimmen, ob irgendein Splitter so verschoben war, dass er die Lunge durchbohrt haben konnte. Doch es war hoffnungslos: Die Rippen versperrten der Kamera den Blick auf eventuell verstreute Splitter, es sei denn, diese hätten sich zufällig genau in den Rippenzwischenräumen befunden. Ich würde die Leiche noch einmal untersuchen müssen.

Ich schwang die schwere Kühlraumtür auf und schaltete das Licht ein. Ledbetters Überreste lagen auf einer fahrbaren Trage ganz hinten in der Ecke, eingezwängt zwischen zwei andere Leichen. Eine war eine riesige junge Weiße, die die Trage fast völlig ausfüllte und deren eingedelltes Fleisch an Hüften und Oberschenkeln über den erhöhten Rand des Tisches hing. Die andere Leiche war das genaue Gegenteil, ein alter, hagerer Schwarzer.

Ledbetters abgetrennter Kopf lag auf der rechten Seite, wo er von gefalteten Papierhandtüchern an Ort und Stelle gehalten wurde. Sieben Zentimeter Hals hingen noch an dem Kopf; darunter kam ein schmutziger, knapp fünfzig Zentimeter breiter Streifen Edelstahltrage und dann Becken und Beine.

Die rote Plastiktüte mit den Organen lag nicht auf der Trage.

Ich schob die beiden anderen Leichen zur Seite und sah genauer nach. Doch ich fand die Tüte nicht. Auch nicht unter der Trage. Oder irgendwo im selben Raum.

Verdammt. Ich lief aus dem Kühlraum und eilte den Flur hinunter, wobei ich unterwegs den Kopf in sämtliche Türen steckte. In einem Sektionssaal beugte sich ein junger Assistenzarzt unbestimmbaren Geschlechts tief über eine Leiche, die schwenkbare Lampe dicht darüber. Als ich hereinplatzte, fuhr der Pathologe abrupt hoch und stieß gegen die Lampe. »Mist«, stöhnte eine erstickte Stimme, immer noch unbestimmbaren Geschlechts.

»Tut mir leid«, rief ich und zog mich hastig zurück.

Ich ging den langen Flur zum Empfangstresen hinauf, einen Teil des Leichenschauhauses, in den ich mich selten wagte. Die Empfangsdame saß hinter einer schusssicheren Glasscheibe. Auf der anderen Seite war ein kleines Wartezimmer, das durch einen Flur im Keller des Krankenhauses betreten wurde – normalerweise von trauernden Familienmitgliedern, denen die schwere Aufgabe bevorstand, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester, Ehegattin oder Ehegatten zu identifizieren. Das Leichenschauhaus lag mit Absicht so weit abgelegen wie nur möglich. Die Leute mussten sich ziemlich viel Mühe geben, es zu finden, und wenn sie es gefunden hatten, dann wurde es für sie noch viel schwerer. Außer den Trauernden konnten aber gelegentlich durchaus auch noch andere Besucher zur Vordertür hereinkommen – die, vor denen das kugelsichere Glas schützen sollte: der stocksaure Bruder eines Mannes, der von einem Polizisten erschossen worden war; der Geliebte in einer Dreiecksbeziehung, der dafür sorgen wollte, dass man bei der Obduktion des toten Ehemanns keine Kugel aus der Taschenpistole der Ehefrau fand. Soweit ich wusste, hatte das Glas nie den Test bestehen müssen, doch andererseits hielt womöglich allein die Tatsache, dass es da war, so manchen Durchgeknallten von irgendeinem Blödsinn ab.

Als ich mich dem Empfang von den inneren Tiefen des Leichenschauhauses her näherte, bemühte ich mich redlich, mich an den Namen der jungen Frau zu erinnern, die dort hockte. Sie war die Letzte in einer langen Reihe kurzlebiger Empfangsdamen. Kurzberockter auf jeden Fall. Tiffany? Kimberley? Tamara? Ich kam zu dem Schluss, dass ich ihr noch nicht begegnet war. Das bedeutete, dass die Letzte in weniger als einem Monat gekommen und wieder gegangen war.

»Guten Morgen, junge Dame, ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte ich und streckte ihr die rechte Hand hin, um mich vorzustellen. Ihr Blick fiel im selben Moment auf meinen roten Gummihandschuh wie meiner. »Sie wollen mir sicher jetzt nicht die Hand geben. Ich bin Dr. Brockton.«

Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Hi, Dr. B. ich bin Katie. Und wir sind uns schon begegnet. Zweimal. Sie sehen übrigens besser aus.«

Okay, vielleicht hatten wir uns doch schon kennen gelernt. Stimmte was mit meiner Erinnerung nicht? Und wie hatte ich denn ausgesehen, als sie mich das letzte Mal gesehen hatte? Ich hatte weder die Zeit noch den Mut, die beiden Fragen zu stellen. Also fragte ich sie stattdessen, ob sie den Sektionsgehilfen gesehen habe, ich müsse ihn dringend sprechen. »Joey? Ich glaube, er verbrennt Zeug.« Nicht gut, dachte ich, wirbelte auf dem Absatz herum und lief den Flur hinunter, der seitlich aus dem Leichenschauhaus hinaus führte, wo in einem abgelegenen Winkel des Krankenhauskomplexes der Verbrennungsofen für medizinischen Abfall stand.

Joey Weeks, der Sektionsgehilfe, stand vor der offenen Luke des Verbrennungsofens, neben sich eine Fahrtrage. Ich sah ihn eine Tüte in den Ofen werfen, dann griff er nach einer zweiten. »Warten Sie!«, schrie ich.

»Hey, Doc«, sagte er, als ich schlitternd zum Stehen kam. »Was ist los?«

»Joey, ich suche Gewebe von einer Exhumierung vor zwei Tagen.«

»Exhumierung? Oh, Sie meinen den, der von Dr. Carter aus Chattanooga obduziert wurde? Der Typ, der nichts zwischen dem Kopf und der Taille hatte? Das war vielleicht gruselig, Mann.«

»Ja, den meine ich. Wissen Sie etwas darüber? Bei der Leiche im Kühlraum war eine rote Plastiktüte für infektiösen Abfall mit Gewebe darin.«

»Klar. Dr. Hamilton hat mir gesagt, das sei Abfall. Sagte, ich solle ihn verbrennen. Geht wahrscheinlich schon in Rauch auf.«

Hamilton? »Mist.«

»Gibt’s Probleme?«

»Ich hatte gehofft, einen letzten Blick auf etwas werfen zu können.«

Er wies auf die Trage. »Na, ein paar Tüten sind ja noch übrig. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Schauen wir doch mal. Wissen Sie die Nummer?«

Ich überlegte fieberhaft. »Es waren zwei Obduktionsnummern drauf – die ursprüngliche von letztem Jahr, da weiß ich nicht mehr, was nach dem ›A-2004‹ kam. Aber Dr. Carter hat eine zweite Nummer draufgeschrieben, als sie es sich neulich angesehen hat, A-2005-125 vielleicht.«

»Kann ja nicht viele Beutel mit zwei Nummern geben. Wenn er noch hier ist, finden wir ihn auch.«

Wir sahen auf der Trage nach. Doch dort war er nicht, und mich verließ der Mut. Dann fiel mein Blick auf die Tüte, die immer noch in Joeys rechter Hand baumelte. Wenn ich nur eine Sekunde später gekommen wäre, wäre sie in Flammen aufgegangen.

Ich trug die verwesten Organe mit beiden Händen vor mir her wie Kronjuwelen auf einem samtenen Kissen. Doch weniger aus Ehrfurcht als vielmehr aus Vorsicht: Der Beutel hatte Löcher bekommen und tropfte unablässig. Im Faulleichen-Séparée legte ich meine Trophäe auf eine Arbeitsfläche und schnitt die Tüte oben auf. Der Inhalt rutschte heraus und plumpste auf das saugfähige große Watte-Pad.

Zuerst fischte ich die Reste von Herz, Magen und Gedärm heraus, dann das, was ich für die Leber hielt, dann verschiedene andere Organe, die mehr oder weniger als sie selbst zu erkennen waren oder zumindest als etwas anderes als Lunge. Übrig blieb ein Haufen Lungengewebe, das aussah wie ein beim Backen irgendwie schrecklich missratener Schokoladenkuchen.

Die effizienteste Methode war leider auch die, bei der ich die größte Sauerei veranstalten würde. Ich nahm den erstbesten Klumpen Gewebe, drückte ihn zusammen und zermatschte ihn zwischen den Fingern. Nichts. Das wiederholte ich mit einem weiteren halben Dutzend nach Lungengewebe aussehender Klumpen. Immer noch nichts. Ich griff nach dem letzten Klumpen und drückte ihn frustriert fest zusammen … und plötzlich stach mich etwas Spitzes in den Handballen. Ein Knochensplitter, zweieinhalb Zentimeter lang, am Ende sechs Millimeter dick und sich zum anderen Ende hin verjüngend, hatte meinen Gummihandschuh durchstochen: Hoffentlich hatte er nicht die Haut darunter verletzt. Ich spülte ihn ab, tat ihn in einen kleinen Topf zum Kochen und wusch und desinfizierte mir die Hände. Die Haut schien unverletzt, aber ich marinierte sie trotzdem gründlich mit Betadine.

Gerade als ich mich abtrocknete, ging die Tür auf und Miranda kam herein, mit einem leuchtend orangefarbenen Fiberglasgipsverband ausgestattet. Sie drehte eine Pirouette und hielt den Gipsverband stolz vor sich hin. »Tennessee-Volunteers-Orange«, sagte ich, »sehr sportlich.«

»Ich dachte, beim Footballspiel nächste Woche machen die vom Fernsehen bestimmt eine Nahaufnahme von mir«, sagte sie. »Irgendwelche Fortschritte bei unserem Freund hier?«

»Ja, wenn auch sehr knapp. Reines, blindes Glück in letzter Sekunde.« Mit einer Pinzette angelte ich das Knochenstück aus dem Topf. Sie pfiff anerkennend. »Es war kein Messer, das seine Lunge durchstach und dafür sorgte, dass er verblutete – es war ein Stück seiner eigenen Rippe.«

»Und es hat achtzehn Tage gedauert, bevor er zusammenbrach und starb?«

»Ja, wenn wir davon ausgehen, dass es bei den Tritten, die er bei der Kneipenschlägerei abbekam, abgesplittert ist.«

»Dann hat der Typ, dem Sie helfen …«

»… seinem Kumpel geholfen, sich gegen die Bande zu wehren, die das getan hat. Leider war er zufällig gerade dabei, als Billy Ray schließlich zusammenbrach. Ich bin mir sicher, DeVriess wird keine Schwierigkeiten haben, Dr. Carter zu einer entsprechenden Aussage zu bewegen.«

Ich glaubte ein leichtes Stirnrunzeln zu sehen, als ich Jess Carter erwähnte, ging aber nicht weiter darauf ein. »Sie, Dr. Carter und der Fiese«, sagte Miranda. »Seltsame Bettgenossen.«

»Sehr seltsam«, stimmte ich ihr zu. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob sie mit »Bettgenossen« noch etwas anderes gemeint hatte als Verbündete im Gerichtssaal, doch auch dem ging ich nicht weiter nach. Nicht mit einer drei Meter langen Stange würde ich daran rühren. Mit überhaupt keiner Stange.