38. KAPITEL

Edmund tauchte aus den Schatten hinter dem Juwelierladen auf. Caleb spürte, wie Energie in der Atmosphäre knisterte. Trotz seiner ehrlichen Absichten genoss Fletcher es ungemein, sein Talent spielen zu lassen. Aber tun wir das nicht alle?
»Man möchte meinen, dass ein Juwelier sich bessere Türschlösser leistet«, sagte Edmund. Triumph und Befriedigung schwangen in seinen Worten mit.
»Haben Sie es?«, fragte Caleb.
»Natürlich.« Edmund hob einen in Leder gebundenen Band hoch. »Ralstons Edelsteinverkäufe. Hier ist das letzte Jahr erfasst.«
»Gute Arbeit.« Caleb griff nach dem Buch. »Wir können es im Wagen studieren. Nachher werden Sie es wieder an seinen Platz legen. Mit etwas Glück wird der Juwelier am Morgen gar nicht bemerken, dass es angefasst wurde.«
»Verlassen Sie sich darauf, Mr Jones.« Edmund war sichtlich gekränkt von der Andeutung, er wäre nicht imstande, die Aufgabe zu bewältigen. »Morgen wird niemand merken, dass jemand den Laden betreten hat.«
»Ich glaube Ihnen. Gehen wir.«
Sie gingen durch die Gasse zurück zu der Stelle, wo Shute mit dem Wagen wartete. Caleb hatte zuvor einen seiner zahlreichen Vettern aufgesucht, einen jungen Mann mit Jagdqualitäten, und ihm die Pflichten eines Leibwächters am Landreth Square übertragen. Den Einbruch in den Juwelierladen hätte er auch allein zuwege gebracht, doch Fletcher war ihm auf diesem Gebiet weit überlegen.
Edmund war es auch, der die Punze des Juweliers auf dem Boden der Schnupftabakdose entdeckt hatte. Caleb hatte sich die Frage verkniffen, wieso ein Zauberkünstler mit dem Stempel eines der teuersten Juweliere so vertraut war. Er konnte sich denken, wie Fletcher sich durchgeschlagen hatte, ehe er zur Bühne gegangen war.
Im Inneren des Wagens zog Caleb die Vorhänge zu, drehte die Beleuchtung auf und öffnete das Auftragsbuch. Bald hatte er gefunden, was er suchte.
»Eine goldene Schnupftabakdose, verziert mit einem Dreieck aus Smaragden guter Qualität«, las er vor. »Identisch mit den zwei vorangegangenen Aufträgen.«
»Es gibt also noch mehr Dosen dieser Art?«, fragte Edmund.
»Offenbar mindestens drei.«
»Wer war der Kunde?«
Caleb fuhr mit dem Finger über die Seite. Nun war er es, der einen Energieschub verspürte, als sich plötzlich der Irrgarten immer mehr erhellte. »Lord Thaxter. Die Adresse ist Hollingford Square.«
»Sie kennen ihn?«
»Nicht sehr gut, aber wir sind einander schon begegnet.« Caleb blickte auf. »Er ist ein wohlhabendes Mitglied der Arcane Society. Seine Begabung hat etwas mit Botanik zu tun, glaube ich. Ich sagte zu Gabe, dass diese Verschwörung bis tief in die Organisation hineinreicht. Wie viele Mitglieder innerhalb der Society in den Orden der Smaragdtafel verstrickt sind, kann man nur vermuten.«
»Was ist der nächste Schritt?«
»Wir statten Hollingford Square einen Besuch ab.«
»Es ist schon nach Mitternacht.«
»Wir trinken ja nicht Tee mit Thaxter.«

 

Hollingford Square lag in Mondlicht getaucht da. Caleb und Edmund ließen Shute und den Wagen an einer finsteren Stelle zurück und begaben sich zu den Gartenanlagen an der Rückseite des Hauses. Edmund machte mit dem verschlossenen Tor kurzen Prozess.
»Alles dunkel«, bemerkte er leise. »Alles schläft. Wir haben Glück. Hunde scheint es hier nicht zu geben, wir brauchen das Bratenstück aus der Kneipe gar nicht.«
»In diesem Fall können Sie es später selbst verzehren. Betrachten Sie es als zusätzliche Belohnung für Ihre Arbeit im Auftrag der Jones-Agentur.«
Edmund gab keine Antwort, da er voll auf die vor ihm liegende Aufgabe konzentriert war.
»Das größte Risiko stellt das Personal dar«, fuhr er fort. »Man weiß nie, wann jemand sich mitten in der Nacht ein Häppchen aus der Küche holt. Außerdem muss man mit der Möglichkeit rechnen, dass der Hausherr zu der überängstlichen Sorte gehört, die in ihrer Nachttischlade eine Pistole aufbewahrt. Im Allgemeinen aber wacht niemand auf.«
»Danke für die Tipps«, sagte Caleb. »Die Arbeit mit einem Profi hat ihre Vorteile.«
»Tja, ich leugne nicht, dass ich ähnliche Sachen schon einoder zweimal gemacht habe, Mr Jones.«
»Das dachte ich mir.«
»Ich weiß, dass Sie einer Ahnenreihe von Jägern entstammen und sich leise bewegen können, dennoch halte ich es für besser, wenn ich allein hineingehe.«
»Nein.« Von knisternder Vorahnung erfüllt, studierte Caleb das Haus. Er spürte, dass im Inneren Antworten warteten. »Ich muss hinein.«
»Sagen Sie mir, was Sie drinnen zu entdecken hoffen. Ich werde es für Sie finden.«
»Das ist es ja«, gab Caleb zurück. »Erst wenn ich es sehe, weiß ich, was ich suche.«
»Ja, Sir.« Edmund blickte um sich. »Diese Gärten sind bestaunenswert.«
»Ich sagte ja schon, dass Thaxters Talent auf Botanik ausgerichtet ist. Mir erscheint es logisch, dass derjenige, der darangeht, die Formel neu zu finden, Leute rekrutiert, die über diese psychische Fähigkeit verfügen.«
»Das hört sich aber nicht an, als hätte Allister Norcross sich übermäßig für Botanik interessiert.«
»Nein, das glaube ich auch. Ich vermute, seine Rolle im Siebenten Kreis war etwas anderer Natur.«
»Er tötete die Apothekerin und einen der Entführer, so ist es doch?«, fragte Edmund leise.
»Ja.«
Sie traten durch die Küchentür ein und hielten sofort inne. Caleb wusste, dass Edmund die gleiche unheimliche Ahnung wie er hatte, dass das Haus nicht ganz leer war.
»Im Untergeschoss sind keine Dienstboten«, flüsterte Edmund. »Ganz sicher nicht. Aber etwas anderes ist da. Ich spüre es.«
»Ich auch.«
»Es erinnert mich an das Gefühl in jener Nacht, als ich in Jasper Vines Haus eindrang und ihn tot auffand. Sein Personal war ausgeflogen. Das Haus war leer, es herrschte eine sehr sonderbare Atmosphäre.«
»Sie haben den mächtigsten Unterwelt-Lord Londons bestohlen?«
»Mehrmals. Ich glaube nicht, dass er es auch nur ein einziges Mal bemerkte. Ich machte es mir nämlich zur Gewohnheit, nur Kleinigkeiten mitgehen zu lassen, etwa eine Taschenuhr oder einen Ring.«
»Dinge also, von denen reiche Leute glauben, sie hätten sie verlegt?«
»Ganz recht. Obwohl Vine niemals die Polizei eingeschaltet hätte. Ich wollte einfach nicht, dass er meine Spur aufnimmt.«
»Wo haben Sie den Toten gefunden?«
»In der Bibliothek. Ein aufwühlendes Erlebnis, kann ich Ihnen sagen. Er sah aus, als hätte er mit seinem letzten Blick ein Gespenst gesehen. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt. Ich bediente mich mit einer sehr hübschen Uhr und einer Perlenschnur, die er für eine seiner Frauen gekauft hatte, und verschwand wieder.«
»Dieser Halunke«, sagte Caleb leise. Ein neuer Teil des Labyrinths leuchtete auf. »Das sieht nach Allister Norcross’ Werk aus.«
»Wie könnte Vine in diese Affäre verwickelt sein?«
»Noch weiß ich das nicht. Doch er war es. Das fühle ich.«
Sie schlichen durch die Küche hinaus in einen langen Gang. Caleb hielt an der Tür zur Bibliothek inne. Die Schubfächer des Schreibtisches waren aufgezogen. Die meisten waren leer, Papiere und Akten, die sie enthalten haben mochten, waren fort.
»Jemand ist uns zuvorgekommen«, sagte er.
»Schlampige Arbeit«, bemerkte Edmund.
»Wer immer es war, er war in Eile.«
Morgenzimmer und Salon waren still und reglos. Mondlicht und der Schein der Straßenbeleuchtung fielen durch die unverhüllten Fenster. Die Dienstboten hatten sich davongemacht, ohne die Vorhänge zuzuziehen.
Sie stiegen die breite Treppe hinauf. Eine schwache Stimme wurde plötzlich von irgendwoher oben in der schwer lastenden Stille hörbar.
Ein Mann, dachte Caleb, der mit jemandem spricht. Doch es kam keine Antwort.
Er zog seine Waffe aus der Manteltasche und ging leise den Gang entlang. Edmund folgte ihm dichtauf.
Die Stimme wurde lauter, als sie sich dem letzten Schlafzimmer auf der linken Seite näherten. Ein kalter Luftzug wisperte aus dem Raum. Jemand hatte ein Fenster geöffnet.
»… ich wurde nämlich vergiftet. Deshalb kann ich mit Geistern sprechen. Hulsey hat mich ermordet. Er gibt mir die Schuld an ihrem Tod. Wirklich, wie hätte ich wissen können …?«
Die Worte wurden in geradezu gespenstisch normalem Konversationston gesprochen, als würde sich jemand im Klub über das Wetter äußern.
»… Es war ja nicht so, dass ich eine Wahl gehabt hätte. Nicht mehr, seit Jones sich einmischte. Man wusste es nicht. Man hatte keine Ahnung, was die Apothekerin wusste. Keine Ahnung, was Hulsey ihr gesagt haben mochte …«
Caleb blieb an der Tür des letzten Schlafzimmers stehen und drückte sich an die Wand. Edmund glitt wie ein stiller Schatten vorüber und bezog auf der andere Seite des Türstockes Posten.
Caleb warf einen Blick in den Raum. Ein Mann saß in einem Lesesessel vor einem kalten Kamin. Seine Beine waren lässig übereinandergeschlagen, die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt. Er legte die Finger zusammen und sprach zu dem Streifen Mondlicht, der durch das offene Fenster fiel.
»… Im Rückblick war es ein großer Fehler, ihn in den Kreis einzuführen. Ich hätte es besser wissen müssen. Aber ich war überzeugt, ich würde sein Talent brauchen. Natürlich wusste ich nicht, dass es in der Familie Wahnsinn gab. Hätte ich das geahnt, wäre ich nie einverstanden gewesen, ihn zum Mitglied zu machen. Ich kann Ihnen versichern …«
Caleb, der Edmund bedeutete, außer Sicht zu bleiben, betrat mit gesenkter, seitlich an sein Bein gedrückter Waffe den Raum.
»Guten Abend, Thaxter«, sagte er ruhig und ohne bedrohlich zu klingen. »Entschuldigen Sie die Störung.«
»Was soll das?« Thaxter drehte den Kopf, leicht erstaunt, aber nicht beunruhigt. »Sind Sie auch ein Gespenst, Sir?«
»Noch nicht.« Caleb trat in den Keil Mondschein und blieb dort stehen. »Mein Name ist Jones. Wir kennen einander.«
Thaxter nahm ihn genau in Augenschein und nickte dann. »Ja, natürlich«, sagte er im gleichen, viel zu ruhigen Ton. »Caleb Jones. Ich habe Sie erwartet.«
»Wirklich, Sir? Warum das?«
»Ich wusste, dass Sie früher oder später aufkreuzen werden.« Thaxter tippte mit dem Zeigefinger seitlich an den Kopf. »Wir, die wir die Gabe haben, können diese Dinge spüren. Aber das wissen Sie sicher ebenso wie ich. Sie sind selbst ein Mensch mit beträchtlicher Kraft. Nun, jetzt ist es zu spät, fürchte ich. Ich wurde vergiftet.«
»Von der Formel des Gründers.«
»Unsinn. Von Dr. Basil Hulsey. Er gab mir gestern einen neuen Vorrat der Droge, die viel stabiler als die frühere Variante sein sollte. Mit der alten hatte ich nämlich ein paar Probleme, wie wir alle.«
»Hulsey gab Ihnen eine neue Variante der Formel?«
»Ja.« Thaxter bewegte ungeduldig eine Hand. »Es sickerte durch, dass er sich sehr aufgeregt hätte, weil wir die Daykin ausschalteten. Aber was hätten wir sonst tun sollen? Es war seine eigene Schuld.«
»Wie das?«
»Hulsey hätte niemals den Farn aus Miss Bromleys Gewächshaus mitnehmen und das Gift für die Daykin machen dürfen. Das rief Sie auf den Plan. Es bestand die Gefahr, dass Sie schließlich den Weg in die Apotheke finden würden. Uns war klar, dass sie beseitigt werden musste. Hulsey sagte ich nichts davon, aber natürlich fand er es sofort heraus.«
Caleb fiel das Foto in der Wohnung der Daykin ein. »Die Daykin und Hulsey waren ein Paar. Sie war die Mutter seines Sohnes. Hulsey vergiftete Sie, um ihren Tod zu rächen.«
»Ich hätte es besser wissen müssen und mich niemals mit jemandem mit Hulseys Hintergrund und Stellung einlassen dürfen. Man kann sich auf diese Typen nicht verlassen. Sie kennen ihren Platz nicht. Das Problem ist nur, dass Hulseys Kombination von Talent und Spürnase sehr selten ist. Man kann ja nicht einfach zur Arbeitsvermittlung gehen und einen Wissenschaftler mit psychischen Fähigkeiten bestellen, oder?«
»Sie haben die Daykin doch nicht ermordet, Thaxter? Sie schickten Allister Norcross hin, der es für Sie erledigte.«
»Das war seine Gabe. Deshalb war ich einverstanden, ihn in den Kreis aufzunehmen. Ich wusste, dass er von Nutzen wäre.«
»Sein Hintergrund gab Ihnen nicht zu denken?«
»Natürlich nicht. Norcross war ein Gentleman. Wie schon gesagt wusste ich nichts von seiner Anlage zum Wahnsinn. Na ja, man kann nichts ungeschehen machen. Wir alle machen Fehler.« Er zog eine goldene Taschenuhr hervor und studierte sie eingehend. »Wie ich sehe, bleibt nicht viel Zeit.«
»Wo ist Hulsey?«, fragte Caleb.
»Was ist?« Thaxter klang abgelenkt. Er raffte sich aus seinem Sessel auf und ging zum Schreibtisch, der nahe beim Fenster stand. »Hulsey? Er und sein Sohn kamen heute Abend vorbei. Er sagte, er wolle sehen, wie das Experiment verlief. Offenbar dauert es einige Tage, bis das Gift zum Tod führt. Hulsey erklärte, ich solle Zeit zum Nachdenken haben, ehe ich zur anderen Seite hinüberwechsle.«
»Hulsey und sein Sohn waren heute da?«
»Sie nahmen alle meine Aufzeichnungen und Berichte mit, als sie gingen. Ich sagte ja schon, den Typen kann man nicht trauen.«
»Wissen Sie, wohin sie gingen?«
»Sicher trifft man sie in ihrem Labor an der Slater Lane an. Hulsey wohnt praktisch dort. Nun, ich muss gehen. Das ganze Projekt ist ein Fehlschlag. Als Mitglied des Ordens der Smaragdtafel überlebt man solche Katastrophen nicht. Das wurde klar zu verstehen gegeben.«
»Erzählen Sie mir vom Orden«, forderte Caleb ihn auf.
»Der Orden ist für Gentlemen gedacht, und für einen Gentleman gibt es nur einen anständigen Ausweg in einer Situation wie dieser.«
Thaxter griff in die Lade.
»Nein … verdammt.« Caleb hechtete durch den Raum.
Doch so schnell er auch war, er war nicht schnell genug. In einer einzigen raschen und gezielten Bewegung zog Thaxter die Pistole aus der Lade, hielt sie an seine Schläfe und drückte ab.
Ein winziger Blitz flammte in der Dunkelheit auf. Der Knall war ohrenbetäubend.
Dann gab es nur die akute und plötzliche Stille des Todes.
Suesses Gift Der Liebe
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