13. KAPITEL
Lady Victoria Milden verstand es vortrefflich,
Schlichtheit und Eleganz zu vereinen. Ihr silbergraues Haar trug
sie in einem eleganten Chignon zusammengefasst, das teure,
raffiniert drapierte Kleid war in dezentem Taubengrau
gehalten.
Von Anfang an war klar gewesen, dass sie ihre
Rolle als Ehestifterin nicht nur mit Begeisterung, sondern auch mit
der forschen Entschlossenheit verkörperte, die einem Feldmarschall
zur Ehre gereicht hätte. Sie empfing Lucinda und Patricia im
behaglichen Arbeitszimmer ihres neuen Stadthauses.
»Ich finde die Liste Ihrer Forderungen sehr
eindrucksvoll«, sagte sie zu Patricia. »Meiner Erfahrung nach gehen
nur wenige junge Menschen mit so viel Logik in eine Ehe.«
»Danke«, sagte Patricia. »Lucy war meine
Inspiration für die Liste.«
»Ach?« Victoria bedachte Lucinda mit einem
nachdenklichen Blick und widmete sich sodann wieder der Liste.
»Nun, ich muss sagen, dass Sie sehr gründlich waren. Besonders
freut mich, dass Sie die Bedeutung seelischer Übereinstimmung
erkannt haben.«
»Mama sagte, dass sie diese für entscheidend
hält.«
»Ihre Mutter ist sehr weise.« Victoria legte die
Liste aus der Hand und nahm ihre Brille ab. »Wenn nur mehr Paare
diesen Aspekt beachten würden. Es ist der Schlüssel zum Eheglück,
zumal unter jenen, die überdurchschnittliches psychisches Talent
besitzen.«
»Es gibt etwas, das ich hier klären möchte«,
sagte Lucinda. »Was ist mit psychischer Übereinstimmung eigentlich
genau gemeint?«
Victoria nahm eine professionelle Haltung ein.
»Ihnen ist sicher die Meinung vertraut, dass jeder Mensch
einzigartige Energieströme in einem gewissen Spektrum
produziert.«
»Ja, natürlich«, sagte Lucinda. »Können Sie eine
Aura lesen?«
»In begrenztem Umfang«, sagte Victoria. »Ich
nehme gewisse Wellenlängen des Spektrums wahr, jene, die für den
Erfolg intimer Beziehungen entscheidend sind.«
Fasziniert beugte Patricia sich ein wenig vor.
»Auf welche Weise?«
»Es ist wirklich sehr einfach«, sagte Victoria.
»Wenn die Wellenlängen der zwei betroffenen Menschen keine
harmonischen Resonanzen ergeben, steht fest, dass dem Paar keine
wahre emotionale Vertrautheit und kein Glück beschieden sein wird.
Mein Talent erlaubt mir zu entscheiden, ob die Resonanzmuster
übereinstimmen.«
»Wie erfreulich, dass Sie einen
wissenschaftlichen Zugang zu Ihrer Arbeit haben, Lady Milden«,
sagte Patricia.
»Mein Problem ist«, fuhr Victoria fort, »dass
ich trotz meiner Fragebögen und der persönlichen Gespräche, mit
denen ich abschätze, ob zwei Menschen zusammenpassen, erst die
potentiellen Brautleute zusammen sehen muss, ehe ich sicher sein
kann, dass es eine gute Resonanz ergibt.«
»Wie gehen Sie dabei vor?«, fragte Lucinda
neugierig.
»Als ersten Schritt werde ich eine
Kandidatenliste für Patricia zusammenstellen.« Victoria tippte mit
einem Finger auf den vor ihr liegenden Papierbogen. »Natürlich
werde ich Ihre Anforderungen berücksichtigen. Aber ich muss Sie
darauf aufmerksam machen, dass es vielleicht unmöglich sein wird,
alle zu berücksichtigen.«
Zum ersten Mal schien Patricia unsicher. »Ich
weiß wirklich nicht, ob ich auch nur in einem Punkt einen
Kompromiss eingehen könnte. Jeder einzelne ist für mich sehr
wichtig.«
»Keine Angst«, sage Victoria. »Wenn die
Wellenlänge ausreichend harmonische Resonanz aufweist, werden Sie
entdecken, dass Sie Kompromisse eingehen können.«
Patricia schien nicht gänzlich beruhigt. »Wie
werden Sie die Kandidatenliste zusammenstellen?«
Victoria wies mit einer Hand auf eine lange
Reihe von Schubfächern. »Seit ich publik machte, dass ich diese Art
von Beratung übernehme, wurde ich buchstäblich von Aufträgen
überschwemmt. Ich werde meine Unterlagen durchgehen, und jene
jungen Männer, die ich für geeignet halte, auswählen und ein
Treffen mit Ihnen arrangieren.«
»Ein langwieriger Prozess«, sagte Patricia »Ich
hatte gehofft, vor Ablauf eines Monats verlobt zu sein.«
»Ach, ich glaube nicht, dass es mit Ihrem
Zeitplan Probleme geben wird.« Victoria lächelte. »Meiner Erfahrung
nach ist die Anziehung sofort spürbar, wenn zwei Menschen mit
Talent, bei denen die Resonanz stimmt, einander begegnen.« Sie
schnüffelte damenhaft. »Obwohl die beteiligten Personen nicht immer
gewillt sind, diese Anziehung einzugestehen, sich selbst nicht,
geschweige denn einander.«
»Ich bin sicher, dass ich den richtigen
Kandidaten problemlos und sofort erkennen werde«, erwiderte
Patricia.
»Zusätzlich richten Eltern zuweilen Barrieren
gegen die Heirat auf, weil sie aus dem einen oder anderen Grund den
Zukünftigen oder die Zukünftige nicht billigen«, fuhr Victoria
fort. »Für mich bedeutet es oft viel Mühe, bis eine erfolgreiche
Verbindung zustande kommt.«
»Meine Eltern haben sehr moderne Ansichten
bezüglich der Ehe«, versicherte Patricia ihr. »Wie ich schon sagte,
war es die Idee meiner Mutter, dass ich Sie in London konsultieren
sollte.«
»Das ist gut«, sagte Victoria. »Ein gutes
Vorzeichen.«
Lucinda fiel etwas ein. »Was ist aber, wenn zwei
Individuen, deren Resonanzen gut sind, schon mit anderen
verheiratet sind?«
Victoria wurde ernst. »Tja, das ist eine sehr
traurige Situation, die ich allerdings nicht lösen kann. Leider
muss ich sagen, dass dieses Problem sehr oft vorkommt, da viele
Menschen aus finanziellen und gesellschaftlichen Gründen heiraten
und die seelische Übereinstimmung außer Acht lassen. Als Folge
davon kommt es zu so vielen unerlaubten Beziehungen.«
»Ach«, sagte Lucinda leise. »Ja, das wird wohl
der Grund sein, weshalb so viele Menschen Affären haben.«
»Und wie wollen Sie es einrichten, dass ich die
passenden Gentlemen aus Ihrer Kartei kennenlerne?«
»Es gibt bereits einige sehr effektive
Mechanismen, Klientinnen einer größeren Anzahl von Kandidaten
zuzuführen«, versicherte Victoria ihr.
»Und die wären?«
»Natürlich die althergebrachten Methoden. Bälle,
Gesellschaften, Theaterbesuche, Vorträge, Galerieempfänge, Tees und
dergleichen. Anlässe dieser Art dienen seit Generationen zur
Anbahnung von Bekanntschaften. Der Unterschied besteht darin, dass
ich meine Kunden zu diesen Anlässen begleite und die Anlagen aller,
die sie kennenlernen, abschätze.«
Lucinda erstarrte. »Leider kommen Bälle und
Partys nicht in Frage.«
Victoria sah sie an. »Ich verstehe nicht
…«
»Lady Milden, ich will ehrlich sein. Ich kann
mir zwar einen Ball oder eine Party für Patricia leisten, doch
kennen Sie sicher die Gerüchte, die sich um meine Familie ranken.
Ich bezweifle sehr, ob jemand aus Ihrer Kandidatenliste eine
Einladung von mir annehmen würde. Im Hinblick auf gesellschaftliche
Verbindungen habe ich nichts zu bieten, was von Nutzen wäre.«
»Ja, Miss Bromley, ich kenne den Klatsch, doch
glaube ich nicht, dass wir uns von ein paar bedauerlichen Gerüchten
abhalten lassen sollten, eine erfolgreiche Partie für Ihre Kusine
zu arrangieren.«
»Bedauerliche Gerüchte?« Lucinda traute ihren
Ohren nicht. »Madam, es handelt sich um Giftmord und um den
sogenannten Selbstmord meines Vaters. Sie können versichert sein,
dass das Gerede jeder Grundlage entbehrt. Dennoch lässt sich der
Makel des Skandals nicht so leicht übertünchen. Sie wissen, wie es
in der Gesellschaft zugeht.«
»Ich weiß, wie es innerhalb der Arcane Society
läuft«, entgegnete Victoria gelassen. »Sie können sicher sein, dass
in diesem Umfeld eine Einladung der Familie Jones nicht ignoriert
werden kann.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Lucinda nun
völlig verwirrt.
»Zufällig findet Ende der Woche ein wichtiges
gesellschaftliches Ereignis in der Society statt«, sagte Victoria.
»Mein Sohn und meine Schwiegertochter geben zur Feier der Verlobung
meines Neffen Thaddeus Ware und seiner reizenden Braut Leona Hewitt
einen großen Empfang. Viele hochrangige Mitglieder der Society
werden anwesend sein, darunter auch das neue Oberhaupt und seine
Gemahlin. Ich werde dafür sorgen, dass Sie, Miss Patricia, und die
Gentlemen, die ich auswähle, auf der Gästeliste stehen.«
»Allmächtiger«, flüsterte Lucinda, überwältigt
von Victorias Wagemut.
Patricia ihrerseits zögerte plötzlich. »Vorträge
und Galerieempfänge klingen wundervoll, Lady Milden, leider habe
ich aber sehr wenig Erfahrung mit der Gesellschaft.«
»Das ist kein Grund zur Beunruhigung«,
beschwichtigte Victoria sie. »Ich werde anwesend sein und alle Ihre
Schritte lenken. Das gehört zum Service, den ich biete.«
»Wenn Sie mich begleiten, werden aber alle
wissen, dass ich einen Ehemann suche«, wandte Patricia ein. »Wird
dadurch die Situation nicht peinlich?«
»Nicht im Mindesten«, sagte Victoria.
»Diskretion gehört auch zum Service. Vertrauen Sie mir, ich werde
zu allen wichtigen Anlässen der Society eingeladen.« Sie zwinkerte.
»Sie werden auf dem Ball nicht meine einzige Klientin sein.«
»Ich glaube, es wäre am besten, wenn ich nicht
mitkomme«, sagte die ziemlich verzweifele Lucinda. »Meine
Anwesenheit würde nur zu Bemerkungen und Spekulationen führen.
Patricia heißt McDaniel. Wenn ich nicht mit ihr zusammen
erscheine, werden die Gäste nichts von unserer
verwandtschaftlichen Beziehung ahnen.«
»Unsinn, Miss Bromley.« Victoria setzte ihre
Lesebrille wieder auf und griff nach der Schreibfeder. »Im Umgang
mit der Gesellschaft ist Schüchternheit fehl am Platz. Nur die
Starken, Kühnen und die sehr Klugen überleben.«
Trotz ihres Unbehagens hätte Lucinda fast
aufgelacht. »Das hört sich ja an, als wären Sie eine Anhängerin von
Mr Darwins Theorien.«
»Ich kann nicht für alle Arten auf der Erde
sprechen«, sagte Victoria und tauchte ihre Feder ins Tintenfass,
»doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass Mr Darwins Theorien
auf die gute Gesellschaft zutreffen.«
Lucinda studierte sie einen Moment. »Etwas sagt
mir, dass wir Ihren atemberaubenden Plan durchziehen könnten, da
wir die Unterstützung der Familie Jones haben.«
Victoria sah sie über den Brillenrand an.
»Innerhalb der Arcane Society legen die Jones die Regeln fest, Miss
Bromley.«
»Und außerhalb …«
»Außerhalb folgen die Jones ihren eigenen
Regeln.«