20. KAPITEL

Die Dämpfe, die der Kleine einatmete, wirkten sehr rasch und lösten Harrys Lungenstau in wenigen Minuten.
»Das müsste reichen.« Lucinda, die aufstand, musste mit dem unangenehmen Gewicht ihrer Röcke kämpfen. Sie lächelte Alice Ross zu. »Ich lasse Ihnen einen ausreichenden Vorrat da, damit er während der Krise versorgt ist. Ich glaube, dass er sich rasch erholen wird.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Miss Bromley«, sagte Alice. Matte Erleichterung ließ ihre Züge weich werden.
»Sie können mir danken, indem Sie dafür sorgen, dass Harry sofort wieder zur Schule geht, wenn er wohlauf ist.«
Harry äußerte auf seinem Lager ein angewidertes Stöhnen. »Wenn ich an der Ecke Zeitungen verkaufe, kann ich mehr Geld machen.«
»Du musst die Schule als Investition sehen.« Lucinda schloss ihre Tasche. »Wenn du jetzt hingehst, wirst du später viel mehr Geld verdienen, als du es mit dem Verkauf von Zeitungen könntest.«
Gilbert Ross, ein wahrer Hüne und von Beruf Schreiner, tauchte hinter Alice auf.
»Sobald er wieder auf den Beinen ist, geht er zur Schule«, versprach Gilbert. »Keine Sorge, Miss Bromley.«
Lucinda beugte sich lachend über Harry und zauste sein Haar. »Das höre ich aber gern.« Sie richtete sich auf, nahm ihre Tasche und ging zur Tür. »Allen eine gute Nacht, wenn es auch fast schon nach Morgen aussieht.«
Gilbert öffnete ihr die Tür. »Danke, Ma’am. Ich vergelte Ihnen Ihre Güte auf die übliche Weise. Wenn es bei Ihnen für einen Schreiner etwas zu tun gibt, lassen Sie es mich wissen.«
»Ich weiß. Danke, Mr Ross.«
Sie trat hinaus und entdeckte, dass der Nebel viel dichter geworden war, während sie sich um Harry Ross gekümmert hatte. Ihre elegante Kutsche war undeutlich im Nebel zu erkennen.
Ihre Sinne regten sich, als sie auf den Wagen zuging. Die feuchte Kälte der Morgenluft war ihr intensiv bewusst. Ich hätte mir die Zeit nehmen und meinen Mantel holen sollen, ehe ich mich von Caleb so eilig vom Ball wegführen ließ. Was dachte ich mir eigentlich dabei? Die Antwort darauf kannte sie sehr wohl. Sie hatte nur an das Hochgefühl des Liebesaktes und die sonderbare psychische Verbindung mit Caleb gedacht.
Wieder schossen ihr Erinnerungen an die heißblütige Begegnung durch den Kopf, ohne sie zu wärmen. Im Gegenteil, ihr war unnatürlich kalt.
Die in einen schweren Kutschermantel gehüllte Gestalt bei der Kutsche richtete sich auf und ging rasch zum Wagen. Der Mann sagte kein Wort, als er den Wagenschlag öffnete und die Stufen herunterklappte.
Shute begrüßte sie immer. Er hatte auch immer ein paar Worte für jene übrig, denen ihr Besuch gegolten hatte. Nun aber hob er nicht einmal die Hand, um Gilbert Ross zu grüßen, der im Eingang stand und ihr nachblickte.
Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, wurde intensiver.
Sie hörte, wie die Haustür hinter ihr geschlossen wurde. Gilbert war es offenbar zufrieden, sie bei Shute in sicheren Händen zu sehen. Ein panikähnliches Gefühl verkrampfte ihren Magen.
Sie hatte sich auf die tröstliche Wärme der Wagendecke gefreut, doch aus einem unerklärlichen Grund blieb sie keine zwei Yards vor dem Gefährt stehen. Mit Shute stimmte etwas nicht. Der Mantel spannte um die Schultern und war etwas zu kurz. Auch der Hut saß nicht wie immer. Shute setzte ihn in einem ganz bestimmten Winkel auf.
Wer immer das war, Shute war es nicht.
Sie wollte sich umdrehen und die Stufen zum Haus der Ross hinauflaufen, um an die Tür zu schlagen.
»Nein, das lassen wir sein«, brummte der falsche Shute.
Eine kräftige behandschuhte Hand schlug auf ihren Mund, sie wurde an eine muskulöse Brust gedrückt.
Sie wehrte sich verzweifelt und wollte gegen die Beine ihres Entführers treten, doch ihr Fuß verfing sich in ihren Röcken und Unterröcken.
»Keine Gegenwehr, du dummes Luder, sonst schlage ich dich bewusstlos«, drohte der Schurke in gedämpftem Ton und zerrte sie zum Wagen. »Verdammt noch mal, hilf mir, Sharpy«, sagte er zu jemandem. »Die verdammten Röcke sind im Weg. Dauernd trete ich darauf.«
»Ich packe die Füße«, sagte der zweite Mann. »Mach die Pferde nicht scheu. Das hätte uns noch gefehlt, dass sie durchgehen.«
Nun merkte sie, dass sie noch immer ihre Tasche in der linken Hand hielt. Verzweifelt mühte sie sich ab, sie zu öffnen. Keiner der Männer schenkte ihr Beachtung. Ihre Gegenwehr hatte aufgehört, allein das zählte für sie. Der zweite Mann hielt nun ihre Füße fest und hob sie vom Boden. Sie schaffte es, einen der zwei Riemen an der Tasche zu lösen.
»Rasch.« Der Mann, der Shutes Mantel trug, hielt die Tür auf. »Leg sie hinein und kneble sie, ehe es jemandem einfällt, aus dem verdammten Fenster zu schauen.«
Der zweite Halunke, der Sharpy hieß, mühte sich ab, sie durch die Tür des kleinen Gefährts zu schieben. Ihr glückte es, den zweiten Riemen zu lösen.
Sie griff in die Tasche und tastete blind nach dem gesuchten Päckchen, wobei sie darum betete, das richtige zu erwischen.
»Ihre gottverfluchte Röcke sind in der Tür eingeklemmt«, zischte der andere.
»Egal, ich werde mit ihr schon fertig, Perrett. Rauf auf den Kutschbock, und nichts wie los.«
Jetzt hielt sie das Päckchen in der Hand. Sie riss es auf, hielt den Atem an und die Augen geschlossen.
Dann schleuderte sie eine Hand voll des Inhalts gegen den Mann, der ihre Füße hielt.
Der überrumpelte Sharpy heulte auf, als die höchst wirksame Pulvermischung aus getrockneten, fein gemahlenen Pfefferkörnern seine Augen, Nase und Mund trafen. Er ließ ihre Füße fallen und schrie. Dem Schrei folgte heftiges Keuchen und Husten.
»Was zum …?«, rief Perrett verwirrt und ungeduldig.
Mit noch immer geschlossenen Augen und vor Atemnot brennenden Lungen schleuderte sie in die ungefähre Richtung von Perretts Gesicht Pulver hinter sich.
Er schrie auf und ließ sie los. Nicht imstande, rechtzeitig die Füße anzuziehen, fiel sie schmerzhaft auf eine Schulter und Hüfte. Ihre Röcke dämpften den Sturz zwar ein wenig, dennoch durchschoss der Schmerz sie. Instinktiv atmete sie durch und bekam etwas von dem feinen Pulver ab. Ihre Kehle brannte. Sie rollte sich unter den Wagen, suchte reine Luft und öffnete vorsichtig die Augen.
Sie tränten nicht, doch konnte sie alles nur verschwommen sehen, da sie in dem Handgemenge ihre Brille verloren hatte.
»Diese Hexe hat mich geblendet«, schrie einer der Männer. »Ich kriege keine Luft. Keine Luft!«
Sein Komplize heulte nur.
Da hörte sie eine andere Stimme in der Dunkelheit. Gilbert Ross.
»Da draußen sind Räuber!«, rief er. »Miss Bromley wird entführt.«
Türen wurden geöffnet. Männer in Nachthemden und Schlafmützen zeigten sich. Beim Anblick des vertrauten Wagens stürzten alle ins Freie.
Die potentiellen Räuber schienen nun zu begreifen, dass ihnen von den aufgebrachten Bewohnern der Guppy Lane tödliche Gefahr drohte. Sie torkelten davon und rannten zur Ecke.
Einige Männer nahmen die Verfolgung auf, gaben aber rasch auf, als ihnen klar wurde, dass ihre bloßen Füße es mit den groben Pflastersteinen nicht aufnehmen konnten.
»Miss Bromley«, rief Alice Ross.
Sie raffte ihre Röcke hoch und lief die Stufen hinunter, auf Lucinda zu.
Lucinda setzte sich unter Schmerzen und dank ihrer schweren Röcke ziemlich ungeschickt auf. Ballkleider sind für derart energiegeladene Aktivitäten nicht geschaffen. Nach der Liebesepisode und der versuchten Entführung wäre das schöne kobaltblaue Kleid nie wieder so wie vorher.
»Miss Bromley, alles in Ordnung?«, fragte Alice ängstlich.
»Ja, ich denke schon.« Rasch schätzte sie ihren Zustand ab. Ihr Puls raste, ihre Kehle war wie zugeschnürt und brannte von der geringen Menge Pfefferpulver, die sie eingeatmet hatte. Außerdem hatte sie sich bei ihrer unsanften Landung auf dem Pflaster wehgetan. Aber keines dieser Probleme war tragisch, beruhigte sie sich.
Alice streckte ihr beide Hände entgegnen. »Kommen Sie, lassen Sie sich helfen.«
»Danke.« Erst als sie auf die Beine gekommen war, merkte sie, dass sie zitterte. Dennoch zwang sie sich zur Konzentration auf das vorliegende Problem. »Wo ist Shute? Ich fürchte, diese zwei schrecklichen Männer haben ihm etwas Böses angetan. Einer der Räuber stahl seinen Mantel. Womöglich töteten sie ihn.«
Donnernder Hufschlag und Räderrollen eines rasch fahrenden Wagens unterbrachen sie. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und versuchte, die verschwommene Szene zu erfassen.
Eine Droschke tauchte aus dem Nebel auf und blieb stehen. Eine Gestalt sprang heraus. Ohne Brille konnte sie das Gesicht nicht ausmachen, doch sie erkannte ihn mit allen ihren Sinnen.
»Caleb«, flüsterte sie.
Er schritt rasch durch die treibenden Nebelschwaden des frühen Morgens auf sie zu. Der lange Mantel umwallte ihn wie eine dunkle Aura. Er schien die Menschenansammlung auf der Straße nicht wahrzunehmen. Wie von Zauberhand berührt gaben die Menschen ihm den Weg frei.
Bei Lucinda angekommen, umfasste er ihre Schultern ganz fest und zog sie eng an sich.
»Bist du in Ordnung?«, fragte er rau.
Beinahe hätte sie aufgeschrien, als seine Finger sich in ihre verletzte Schulter gruben. »Ja. Bitte … meine Schulter.«
»Verdammt.« Er ließ sie sofort los. »Du bist verletzt.«
»Nur eine kleine Prellung. Was machst du hier?«
»Was ist passiert?«, wollte er wissen, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Nun erst kam sie dazu, hinter dem Überfall einen Sinn zu suchen. Sie runzelte die Stirn und versuchte, sich zu konzentrieren. »Ich glaube, diese zwei Männer wollten mich entführen … mich rauben.«
»Sicher wollten die Kerle sie an ein Bordell verkaufen«, erklärte Alices unmittelbare Nachbarin im Grabeston. »Das liest man immer wieder in der Zeitung.«
»Ach, das glaube ich eigentlich nicht«, widersprach Lucinda.
»Mrs Badget hat recht«, verkündete eine andere Frau. »Erst gestern stand im Flying Intelligencer, man hätte ehrbare Damen entführt und geschändet, so dass sie keine andere Wahl hatten als ein Leben im Bordell.«
Lucinda sah sie ungehalten an. »Sie können mir glauben, wenn ich sage, dass ich niemals eine Bordelllaufbahn einschlagen würde, selbst wenn man mich entführt und schändet, wie Sie es nennen, Mrs Childers. Ich wäre freilich wütend. Sehr, sehr wütend. Aber ich kann mich wehren. Fragen Sie die zwei Halunken.«
Die Frauen starrten sie mit großen Augen bewundernd an.
»Sie hat recht«, sagte Alice rasch. »Als sie Reißaus nahmen, heulten sie wie kleine Kinder.«
»Wo ist Shute?«, fragte Lucinda abermals und blickte suchend in den Nebel.
»Ich habe ihn gefunden«, rief jemand.
Alle drehten sich in die Richtung um, aus der die Stimme kam. In Begleitung eines der Nachbarn tauchte Shute aus einer engen Gasse auf. Seine Bewegungen waren unsicher, doch er war auf den Beinen, wie Lucinda erleichtert sah.
Sie wollte loslaufen, strauchelte aber sofort und wäre wieder auf dem Pflaster gelandet, hätte Caleb sie nicht aufgefangen.
»Ist auch noch der Knöchel verstaucht?«, fragte er, als wäre es ihre Schuld. Dann nahm er sie in die Arme und hob sie hoch.
»Nein, ich habe mir wohl einen Absatz abgebrochen. Stellen Sie mich bitte hin, Sir. Ich muss mich um Shute kümmern.«
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht ernsthaft verletzt sind?«
»Ja, Caleb«, sagte sie. »Ich bin sicher. Und jetzt stellen Sie mich bitte hin.«
Widerstrebend stellte er sie auf die Füße. Eine Frau kam gelaufen.
»Ich fand Ihre Brille, Miss Bromley«, sagte sie. »Sie ist zerbrochen.«
»Zu Hause habe ich noch eine.« Gefolgt von Caleb humpelte Lucinda zu ihrem Kutscher. »Shute, was hat man Ihnen angetan?«
»Entschuldigung, Miss Bromley.« Sichtlich verärgert griff Shute sich an den Kopf. »Diese Mistkerle kamen von hinten und schlugen mich nieder, ehe ich wusste, wie mir geschah.«
Sie untersuchte ihn, so gut es bei dem schlechten Licht ging. »Was glauben Sie, waren Sie bewusstlos?«
»Nein, nur benommen. In Nu war ich geknebelt und wie ein Hühnchen zusammengebunden.«
»Sie bluten und stehen unter Schock. Erst müssen Sie ins Warme, dann werde ich Ihre Wunden versorgen.«
»Bringen Sie ihn zu uns ins Haus«, bot Alice an. »Wir haben es warm.«
»Gut.« Lucinda drängte Shute sanft zum Eingang. »Würden Sie mir wohl meine Tasche bringen, Mrs Ross? Sie steht auf dem Pflaster neben dem Wagen.«
»Ich hole sie«, sagte Alice.
Mit Calebs Hilfe bugsierte Lucinda Shute zur Tür.
»Konnten Sie einen Blick auf die Angreifer werfen?«, fragte Caleb sie.
»Leider kann ich keine gute Beschreibung liefern«, sagte sie. »Alles ging sehr schnell. Aber beide rochen nach Zigarettenrauch.«
»Das trifft auf nur drei Viertel der Gauner in London zu«, murmelte Caleb.
»Einer hieß Sharpy, der andere Perrett«, setzte sie hinzu.
»Aus dieser Gegend waren sie nicht«, sagte Gilbert Ross. »So viel kann ich sagen.«
»Es spielt keine Rolle«, sagte Caleb. »Ich werde sie finden.«
»Wie?« Lucinda zweifelte nicht an seinen Worten, war aber neugierig, welche Strategie er anzuwenden gedachte.
»In der Unterwelt macht Klatsch so rasch die Runde wie in den Klubs und Salons der sogenannten besseren Gesellschaft.« In seinen Augen lag etwas Dunkles und Raubtierhaftes. »Vertrauen Sie mir, Lucinda. Ich werde sie finden.«
Suesses Gift Der Liebe
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