18. KAPITEL
Leise Stimmen - das Gemurmel eines Mannes und das
leise, sinnliche Lachen einer Frau - rissen Caleb aus dem
harmonisch geordneten Reich, in dem er dahintrieb. Er lauschte
aufmerksam, um den Standort des Paares zu orten. Die beiden
befanden sich noch in einiger Entfernung, hielten aber auf den
Trockenschuppen zu.
Er setzte sich auf und löste sich vorsichtig von
Lucinda. Das Lager aus getrockneten Pflanzen raschelte und
knisterte unter seiner Jacke. Ihr Duft mischte sich mit den
anhaltenden Gerüchen des Liebesaktes.
Lucinda rührte sich und schlug die Augen auf. Er
konnte im Mondschein ihre verwirrte und unkonzentrierte Miene
erkennen. Selbstzufrieden lächelnd führte sie ihre Fingerspitzen an
seinen Mund.
Er erfasste ihre Hand, drückte einen raschen
Kuss darauf und zog dann sein Taschentuch hervor. Nachdem er sie
sanft gesäubert hatte, zog er sie auf die Beine und reichte ihr die
Brille.
»Wir müssen dich anziehen«, sagte er ihr ins
Ohr.
»Hmmm.«
Sehr eilig hatte sie es nicht, wie ihm auffiel.
Er bückte sich nach ihrem Kleid und ging daran, sie anzukleiden. Er
hatte in seinem Leben schon ein paar Frauen ausgezogen, nie aber
hatte er sich am umgekehrten Vorgang versucht. Nun musste er
entdecken, dass es komplizierter war, als es den Anschein hatte.
Sein Mangel an Erfahrung zeigte sich sofort.
»Verdammt, warum tragen Frauen so schrecklich
schwere Sachen?«, grollte er und hakte das Kleid zu.
»Du kannst sicher sein, dass dieses Kleid
beträchtlich leichter ist als die Roben der eleganten Damen im
Ballsaal. Auch sollst du wissen, dass ich kein Korsett trage und
meine Unterwäsche und meine Unterröcke den Anforderungen der
Gesellschaft für Vernünftige Kleidung entsprechen. Sie wiegen
weniger als sieben Pfund.«
»Ich glaube dir aufs Wort.«
Er spürte, dass sie ein Lachen unterdrückte.
Noch immer war ihr nicht bewusst, dass sie Gefahr liefen, entdeckt
zu werden. Sie hatte das andere Paar offenbar noch gar nicht
wahrgenommen.
»Wir sind nicht allein«, hauchte er ihr ins Ohr.
»Ein Paar kommt in unsere Richtung, zweifellos mit der Absicht, den
Schuppen zu demselben Zweck zu benutzen wie wir. Die Tür ist
gesichert, doch man hört Stimmen hindurch.«
Nun besaß er ihre Aufmerksamkeit.
»Grundgütiger Himmel.« Eilig bückte sie sich,
raffte die Röcke hoch und zog ihre Strümpfe zurecht.
Er konzentrierte sich darauf, seine Hose zu
schließen. Dann knöpfte er sein Hemd zu und band mit der
Geschicklichkeit langer Übung seine Krawatte. Kein Mann der Familie
Jones brachte Geduld für einen Kammerdiener auf. Er hob sein
Jackett vom Haufen der zerdrückten Pflanzen hoch und zog es rasch
an. Er lächelte vor sich hin, als er den vollen, würzigen Duft von
Lucindas Körper spürte.
»Mein Haar«, flüsterte sie entgeistert.
Verzweifelt versuchte sie, die langen Strähnen hochzustecken, die
sich aus ihrem kunstvollen Chignon gelöst hatten. »Ich kann es
nicht in Ordnung bringen.«
Jetzt hörte er die Stimmen von draußen ganz
deutlich. Er hielt Lucinda den Mund zu. Sie verstummte
sofort.
Am Türknauf wurde gerüttelt.
»Verdammt«, knurrte ein Mann. »Die vermaledeite
Tür ist verschlossen. Wir müssen uns anderswo ein ungestörtes
Plätzchen suchen, meine Liebe.«
»Wage ja nicht, auch nur vorzuschlagen, dass wir
uns in einen einsamen Winkel des Gartens verkriechen.« Der Ton der
Dame nahm an Schärfe zu. »Ich denke nicht daran, mir mein Kleid mit
Grasflecken zu ruinieren.«
»Sicher findet sich ein passender Ort«, beeilte
der Mann sich zu sagen.
»Pah. Ebenso gut können wir wieder in den
Ballsaal gehen. Ich bin ohnehin nicht mehr in Stimmung. Ein Glas
Champagner wäre mir lieber.«
»Aber, Liebling …«
Die Stimmen verklangen, als das Paar sich
entfernte.
»Ich glaube nicht, dass der Abend für diesen
Herrn so angenehm enden wird wie für mich«, sagte Caleb.
Lucinda schenkte ihm keine Beachtung. »So wie
ich aussehe, kann ich nicht in den Ballsaal zurück. Du musst mich
zum Wagen bringen. Patricia kann mit Lady Milden nach Hause
fahren.«
»Kein Grund zur Panik, Lucinda.« Mit dem Gefühl,
völlig Herr der Lage zu sein, entfernte er den Stuhl von unterhalb
des Türknaufs. »Ich kümmere mich um alles.«
Problemlösungen sind meine Spezialität, dachte
er nicht ohne einen gewissen Stolz. Er nahm ihren Arm und geleitete
sie aus dem Trockenschuppen.
Es kam ihm zugute, dass er die Anlagen um das
Ware-Haus so gut kannte, wie jene um sein eigenes Haus. Es war
daher nicht weiter schwierig, Lucinda die Seitenfront entlang, an
Küche und Lieferanteneingang vorüber zur Auffahrt zu führen.
Vor dem großen Haus warteten etliche Kutschen
und Droschken. Shute unterbrach sein Gespräch mit zwei anderen
Kutschern, als er Caleb mit Lucinda erblickte. Er tippte grüßend an
seinen Hut.
»Nach Hause, Ma’am?«, fragte er. Nach einem
ersten raschen Blick vermied er geflissentlich jeden weiteren auf
Lucindas Haar.
»Ja«, sagte sie munter. »Und zwar rasch.«
Er öffnete den Wagenschlag und klappte die
Stufen herunter. »Was ist mit Miss Patricia?«
»Mr Jones wird Lady Milden bitten, sie nach
Hause zu bringen. Nicht wahr, Mr Jones?«
»Aber gewiss«, sagte Caleb amüsiert über ihre
Verlegenheit.
»Ach, bitten Sie Lady Milden auch noch, sich vom
Diener meinen Mantel bringen zu lassen.«
»Ich vergesse es nicht«, versprach Caleb.
Lucinda raffte ihre gestuften Röcke hoch und
floh über das Treppchen in die schützende Dunkelheit der Kutsche.
Caleb fasste nach der Türkante und beugte sich hinein, um noch
einmal eine Prise ihrer Duftes und ihrer Energie
mitzubekommen.
»Ich komme morgen um die gewohnte Zeit«, sagte
er.
»Wie bitte?« Sie klang ein wenig atemlos. »Ach,
richtig. Ihr täglicher Bericht.«
»Und mein Frühstück. Eine sehr wichtige
Mahlzeit, heißt es. Gute Nacht, Miss Bromley. Angenehme
Nachtruhe.«
Er schloss die Tür und trat zurück. Shute nickte
ihm zu, stieg auf den Kutschbock und griff nach den Zügeln.
Caleb sah dem Gefährt nach, bis es im dünnen
Nebel verschwunden war. Als er es nicht mehr ausmachen konnte,
drehte er sich um und ging durch einen Seiteneingang ins Haus
zurück.
Er ging zu der zur Empore führenden
Dienstbotentreppe, als eine vertraute Stimme ihn innehalten
ließ.
»Kann man dich zu einem Glas Port überreden?«,
fragte Gabe. »Ich würde dich auch zu ein paar Runden Billard
auffordern, aber ich weiß, was du in Zeiten wie diesen von Spielen
hältst.«
Er drehte sich um und sah seinen Vetter im
Eingang zum Billardraum. Hinter Gabe stand Thaddeus, in einer Hand
hielt er ein Billardqueue. Beide Männer hatten ihre Abendjacketts
abgelegt, die Krawatten gelockert und die Hemdsärmel
aufgerollt.
»Was zum Teufel treibt ihr beiden hier?«, fragte
Caleb. »Ich hätte gedacht, ihr wäret im Ballsaal
unentbehrlich.«
»Leona und Venetia bewiesen Mitgefühl und
gönnten uns eine Pause, während sie sich einigen älteren Damen
widmen«, sagte Thaddeus.
»Ein Glas Port ist eine ausgezeichnete Idee.«
Caleb ging auf sie zu. »Ebenso eine Partie Billard. Ich nehme an,
es geht um etwas Interessantes?«
Thaddeus und Gabe wechselten undeutbare
Blicke.
»Du hast mit uns seit Monaten nicht mehr Billard
gespielt«, sagte Gabe.
»Ich war beschäftigt. Für Billard war keine
Zeit.« Caleb legte sein Jackett ab, das er über eine Stuhllehne
hängte. »Wie hoch ist der Einsatz?«
Wieder sahen Gabe und Thaddeus einander
an.
»Du spielst nie um einen Einsatz«, sagte Gabe.
»Das hängt wohl mit der Unabwägbarkeit zufälliger Chancen zusammen,
glaube ich.«
»Billard ist kein Glücksspiel.« Caleb ging zum
Ständer an der Wand und wählte ein Queue aus. »Ich habe nichts
gegen einen gelegentlichen Einsatz, wenn ich die Chancen
einschätzen kann.«
»Sehr gut.« Thaddeus sah Caleb über den Tisch
hinweg an. »Sagen wir hundert Pfund? Schließlich ist es nur ein
Freundschaftsspiel zwischen uns Vettern.«
»Sagen wir tausend«, sagte Caleb. »So wird das
Spiel noch freundschaftlicher.«
Thaddeus grinste. »Du bist so
siegessicher?«
»Heute Nacht kann ich nicht verlieren«,
erwiderte Caleb.
Einige Zeit später stellte Caleb das Queue in
den Ständer zurück. »Danke, liebe Vettern. Das war ein belebendes
Zwischenspiel. Und jetzt entschuldigt mich. Ich muss Lady Milden
suchen, und dann geht es nach Hause. Ich muss früh
aufstehen.«
»Wegen deiner Ermittlungen?«, fragte
Thaddeus.
»Nein. Wegen des Frühstücks.«
Gabe stützte sich auf den Tisch. »Seit Monaten
spielst du nicht mehr Billard, und jetzt hast du jedem von uns
tausend
Pfund abgeknöpft. Was machte dich so sicher, dass du gewinnen
würdest?«
Caleb nahm sein Jackett von der Stuhllehne und
schlüpfte hinein. »Ich hatte das Gefühl, das Glück wäre mir
gewogen.« Er wollte zur Tür.
»Noch eines, ehe du gehst, Vetter«, sagte
Gabe.
Caleb blieb im Eingang stehen und blickte über
die Schulter. »Was ist?«
»Ehe du in den Ballsaal zurückgehst, tätest du
gut daran, die getrockneten Blätter vom Rücken zu streifen«, sagte
Thaddeus mit unbewegter Miene.
»Sind das zerdrückte Blumen in deinem Haar?«,
setzte Gabe hinzu. »Ich bin fast sicher, dass sie in dieser Saison
für Gentlemen nicht in Mode sind.«