32. KAPITEL
Eine Stunde später stand Lucinda mit Victoria,
Patricia und Edmund in einem kleinen Nebenraum des Ballsaales.
Gemeinsam beobachteten sie die elegante Menge.
»Es ist, wie Sie sagten, Lady Milden«, stellte
Patricia wohlgefällig fest. »Alle anwesenden Gentlemen wollen mit
Lucinda tanzen. Ich glaube wirklich, sie hat öfter getanzt als
ich.«
»Ich verstehe das nicht.« Lucinda nahm noch ein
Glas Limonade von einem Tablett. Sie war wie ausgedörrt. In
Wahrheit hatte sie sich nur deshalb so oft zum Tanz auffordern
lassen, weil sie so vorübergehend von dem wachsenden Gefühl
drohenden Unheils abgelenkt wurde, das sie geradezu verfolgte. Sie
fühlte, dass Caleb einen großen Fehler begangen hatte, indem er
sich mit ihrem Entführer traf. »Was um alles auf der Welt macht
eine Frau attraktiv, von der alle glauben, dass sie fast in ein
Bordell verkauft wurde?«
Victoria lächelte gelassen und befriedigt.
»Unterschätze niemals den Reiz einer verruchten Frau, zumal einer,
die von einem Mitglied der Familie Jones in Beschlag genommen
wird.«
Lucinda verschluckte sich an ihrer Limonade. »In
Beschlag genommen?«, brachte sie hervor. »Was reden Sie da? Mr
Jones tanzte heute einmal mit mir und empfahl sich sodann.«
»Sie können mir glauben, wenn ich sage, dass
seit Tagen Gerüchte über ihre Beziehung zu Caleb Jones
umherschwirren«, sagte Victoria aufgeräumt.
Lucinda spürte, wie ihr das Herz in die Wangen
stieg. »Ich engagierte ihn in seiner Eigenschaft als Ermittler. Er
soll für mich in einer Privatangelegenheit Nachforschungen
anstellen. Unsere Beziehung ist rein geschäftlich.«
Victoria lachte leise. »Niemand, der ihn heute
und anderntags mit Ihnen tanzen sah, wird glauben, dass Ihre
Beziehung sich aufs Geschäft beschränkt.«
»Jetzt wird es peinlich.«
»Unsinn.« Victoria tat die ganze Sache mit einer
jähen Bewegung ihres Fächers ab. »Daran ist nichts peinlich.« Sie
sah Edmund mit hochgezogener Braue an. »Höchste Zeit, dass Sie
Patricia aufs Tanzparkett führen, Mr Fletcher. Wir müssen den
Anschein aufrechterhalten, dass Sie ein Freund der Familie
sind.«
Lucinda hätte schwören mögen, dass Edmund leicht
errötete. Patricias Haut überzog ein warmes Rosa, sie widmete sich
angelegentlich den Häkchen, die ihre Schleppe hochrafften.
Edmund nahm Haltung an und verbeugte sich
förmlich. »Miss Patricia, darf ich bitten?«
Patricia ließ von ihrer Schleppe ab, atmete tief
durch und reichte ihm ihre behandschuhte Hand. Edmund führte sie
durch die Menge.
Victoria glühte vor Begeisterung. »Sind sie
nicht ein reizendes Paar?«
Lucinda sah zu, wie Edmund und Patricia sich auf
das Tanzparkett begaben. »Wenn sie sich nicht zanken. Ich habe
zwei junge Leute noch nie mehr streiten hören als die beiden. Es
reicht, um einen …« Sie sprach nicht weiter, sondern drehte den
Kopf, um Victoria anzublicken. »Allmächtiger, Sie wollen damit doch
nicht sagen, dass sie ein Paar sind?«
»Ein perfektes Paar. Ich wusste es sofort, als
ich die beiden zusammen sah. Jetzt wollen wir mal sehen, was sich
tut. Nichts vermag den Puls einer Romanze so zu erhöhen wie ein
Walzer.«
Lucinda sah, wie Edmund Patricia ein wenig enger
an sich zog und mit ihr im Walzertakt davonwirbelte. Auch aus der
Entfernung war leicht zu erkennen, dass Patricia vor Lebenslust
glühte.
»Hmm«, sagte Lucinda. »Das erklärt wohl das
ständige Geplänkel und Gekicher. Ich sehe jedoch Probleme voraus.
Mr Fletcher scheint ja sehr nett zu sein und wacht sehr
gewissenhaft über Patricia, doch fürchte ich, dass er ihren
Anforderungen nicht entspricht. Erstens scheint er kein
regelmäßiges Einkommen zu haben. Soviel ich weiß, ist er für Mr
Jones nur ab und zu tätig. Außerdem hat er von Archäologie keine
Ahnung.«
»Lappalien, sage ich.«
»Ich bin nicht sicher, ob Patricia oder ihre
Eltern diese Punkte als Lappalien ansehen.«
»Wenn die Energie stimmt, findet die Liebe einen
Weg.«
Lucinda sah sie an. »Liebe mag ihren Weg finden,
doch könnte dieser in eine Katastrophe führen. Wenn eine Frau in
einem gewissen Alter eine illegitime Beziehung eingeht, wird dies
anders beurteilt als bei einer jungen Dame wie meiner Kusine. Das
wissen Sie so gut wie ich.«
»Ich versichere Ihnen, dass ich nicht im
Geschäft bin, um
ungesetzliche Verbindungen anzubahnen.« Victoria war gekränkt.
»Ich bin Heiratsvermittlerin und nehme meine Verantwortung sehr
ernst. Denken Sie an meine Worte … Patricia und Mr Fletcher werden
ehrbar vor den Traualtar treten.«
»Trotz der offenkundigen Hindernisse?«
»Nein. Wegen dieser Hindernisse. Heranreifende
Liebe ist wie das Reifen guter Trauben.«
»Sie meinen, die Frucht wird süßer, wenn die
Reben sich unter schwierigen Bedingungen behaupten müssen?«
»Genau.«