1. KAPITEL
Gegen Ende der Regierungszeit
Königin Viktorias.
Lucinda blieb einige Schritte vor dem Toten
stehen und wappnete sich gegen die heftigen, wenn auch
unterschwelligen Spannungen, die in der eleganten Bibliothek
wüteten.
Der Konstabler und die trauernden Angehörigen,
denen sehr wohl bewusst war, wen sie vor sich hatten, beobachteten
sie mit einer Mischung aus makabrer Faszination und kaum verhülltem
Entsetzen. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Als
skandalumwitterte Frau, die in Verbindung mit einem schockierenden
Mord von der Presse durch den Schmutz gezogen worden war, wurde sie
von der guten Gesellschaft konsequent geschnitten.
»Ich fasse es nicht!«, rief die attraktive,
frisch gebackene Witwe aus. »Inspektor Spellar, wie können Sie es
wagen, uns diese Frau ins Haus zu bringen?«
»Es wird nur einen Moment in Anspruch nehmen«,
gab Spellar zurück. Er neigte den Kopf Lucinda zu. »Wären Sie so
gut, mir Ihre Meinung mitzuteilen?«
Lucinda behielt ihre kühle, gefasste Miene mit
einiger Mühe bei. Später würden die Familienmitglieder zweifellos
unter Freunden und Bekannten verbreiten, sie hätte so
gewirkt, wie Zeitungen und Groschenblätter sie geschildert hatten,
nämlich eiskalt.
Tatsächlich war ihr allein der Gedanke an das
Bevorstehende absolut zuwider. Viel lieber wäre sie zu Hause in
ihrem Gewächshaus gewesen, eingehüllt von den Düften, Farben und
der Energie ihrer geliebten Pflanzen. Doch aus irgendeinem ihr
unerklärlichen Grund fühlte sie sich dennoch zu den Aufgaben
hingezogen, die sie gelegentlich für Spellar erledigte.
»Aber gewiss, Inspektor«, sagte sie. »Deswegen
bin ich schließlich hier. Dass ich nicht zum Tee eingeladen wurde,
steht wohl mit Sicherheit fest.«
Die Schwester der Witwe, eine streng aussehende
alte Jungfer, die als Hannah Rathbone vorgestellt worden war,
schnappte hörbar nach Luft.
»Unerhört«, stieß Hannah hervor. »Wo bleibt Ihr
Gefühl für Anstand, Miss Bromley? Ein Gentleman ist tot. Sich dem
Anlass entsprechend zu benehmen und dieses Haus rasch wieder zu
verlassen, ist das Mindeste, was Sie tun können.«
Spellars vielsagender Blick gab Lucinda zu
verstehen, sie möge ihre Zunge hüten. Seufzend fügte sie sich.
Seine Ermittlungen zu gefährden, war das Allerletzte, was sie
wollte, da er sich dann sehr gut überlegen würde, weiterhin ihren
Rat zu suchen.
Auf den ersten Blick hätte kaum jemand Spellars
Beruf erraten. Seine rundliche Statur ließ ihn gutmütig und
freundlich erscheinen. Ein buschiger Schnurrbart und ein schütterer
grauer Haarkranz lenkten von der klaren, scharfsichtigen
Intelligenz seiner blaugrauen Augen ab.
Wer ihn nicht gut kannte, konnte nicht ahnen,
dass er ein
ausgeprägtes Talent dafür besaß, am Tatort eines Mordes auch die
kleinste Spur wahrzunehmen, eine Gabe, die jedoch begrenzt war. So
konnte er nur die offenkundigsten Fälle von Vergiftungen
erkennen.
Fairburns Leichnam lag in der Mitte des
riesigen, floral gemusterten Teppichs. Spellar trat vor und bückte
sich, um das Laken wegzuziehen, das man über den Toten gebreitet
hatte.
Lady Fairburn brach wieder in einen
Tränenschwall aus. »Ist das wirklich nötig?«, fragte sie mit
gebrochener Stimme.
Hannah Rathbone nahm sie in die Arme.
»Schon gut, Annie«, flüsterte sie ihr zu.
»Beruhige dich. Du weißt, dass du deinen Nerven nicht zu viel
zumuten darfst.«
Hamilton Fairburn, das dritte anwesende
Familienmitglied, legte sein gut geschnittenes Gesicht in ernste
Falten. Der gut aussehende junge Mann Mitte zwanzig war Fairburns
Sohn aus einer früheren Ehe. Laut Spellar war es Hamilton gewesen,
der darauf bestanden hatte, Scotland Yard zu Rate zu ziehen. Als
Fairburn aber Lucindas Namen erkannte, war er sichtlich fassungslos
gewesen. Er hätte ihr den Zutritt ins Haus verwehren können, hatte
es aber nicht getan. Er wollte, dass es mit den Ermittlungen
voranging, dachte sie, auch wenn dies bedeutete, eine übel
beleumundete Person in seinem Haus dulden zu müssen.
Sie ging näher an den Leichnam heran, auf jene
Empfindungen gefasst, die eine Begegnung mit dem Tod unweigerlich
weckte. Nichts aber hätte sie auf das Gefühl der Desorientierung
und völligen Leere vorbereiten können, das sie
erfasste, als sie auf die Gestalt auf dem Boden hinunterblickte.
Wer und was immer Fairburn zu Lebzeiten gewesen sein mochte, die
Essenz seines Wesens hatte sich verflüchtigt.
Sie wusste jedoch, dass Beweisspuren, die
Hinweise auf die Art seines Todes liefern konnten, dem Schauplatz
noch immer anhafteten. Spellar konnte die meisten erfassen. Falls
aber Gift im Spiel war, so war es ihre Aufgabe, es zu finden. Die
für sie wahrnehmbaren Spuren giftiger Substanzen verblieben nicht
nur im Körper, sondern waren an allem zu finden, was das Individuum
in seinen letzten Augenblicken berührt hatte.
Oft gab es aber auch andere, höchst unangenehme
und offenkundigere Beweise. Ihrer Erfahrung nach wurden Menschen,
die durch Gift zu Tode kamen, sehr krank, ehe sie starben. Auch
dabei gab es natürlich immer Ausnahmen. Eine lang anhaltende,
mäßige Beigabe von Arsen führte meist zu keinem so dramatischen
Endergebnis.
Es lagen freilich keine Anzeichen vor, dass Lord
Fairburn vor seinem Tod an Anfällen von Unwohlsein gelitten hätte.
Sein Tod konnte ebenso als Folge eines Schlaganfalls oder einer
Herzattacke eingetreten sein. Die meisten Familien, die wie die
Fairburns gehobenen Kreisen angehörten, hätten eine solche Diagnose
vorgezogen und das öffentliche Aufsehen vermieden, das Ermittlungen
in einem Mordfall unweigerlich mit sich brachten. Sie fragte sich,
was Hamilton Fairburn bewogen haben mochte, Scotland Yard
einzuschalten. Sicher war er auf etwas gestoßen, das seinen
Verdacht geweckt hatte.
Sie konzentrierte sich kurz auf visuelle
Hinweise, doch verrieten ihr diese wenig. Die Haut des Toten hatte
eine ausgeprägt
aschgraue Färbung angenommen. Seine offenen Augen starrten ins
Leere, die Lippen waren zu einem letzten Seufzer geöffnet. Sie
registrierte, dass er mindestens zwanzig Jahre älter als seine Frau
sein musste. Kein ungewöhnlicher Umstand, wenn ein begüterter
Witwer sich wieder vermählte.
Routiniert streifte sie ihre dünnen
Lederhandschuhe ab. Es war nicht immer nötig, den Toten zu
berühren, doch erleichterte es der direkte körperliche Kontakt,
Nuancen von Energie aufzuspüren, die ihr andernfalls entgangen
wären.
Wieder war schockiertes Luftschnappen von Lady
Fairburn und Hannah Rathbone zu vernehmen. Hamilton kniff die
Lippen zusammen. Sie wusste, dass alle den Ring an ihrem Finger
gesehen hatten, den Ring, von dem die Sensationspresse behauptet
hatte, er hätte als Versteck für das Gift gedient, das ihren
Verlobten tötete.
Sie beugte sich vor und strich mit den
Fingerspitzen leicht über die Stirn des Toten, während sie zugleich
ihre Sinne weit öffnete.
Sofort erfuhr die Atmosphäre des Raumes eine
subtile Veränderung. Die Düfte, die dem großen Gefäß mit dem
Blumenpotpourri entströmten, überfluteten sie wie eine schwere
Woge, ein Gemisch aus getrockneten Geranien, Rosenblättern,
Gewürznelken, Orangenschalen, Piment und Veilchen.
Die Farbtöne der Rosen in den zwei hohen, edlen
Vasen leuchteten intensiver und zeigten fremdartige, nicht zu
benennende Schattierungen. Die Blütenblätter waren noch frisch und
samtig, doch war der unverkennbare Geruch der Verwesung deutlich
spürbar. Einen Raum mit Schnittblumen
zu schmücken, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, da deren
Schönheit sehr vergänglich war und sie sich im Zustand des
Absterbens befanden. Ein Friedhof war der einzig passende Ort für
sie. Wenn man die Kraft einer Pflanze, sei es Blume oder Heilkraut,
bewahren will, muss man sie trocknen, dachte sie unwillig.
Der kläglich aussehende, mit einer feuchten
Schicht überzogene Farn hinter der Glasfront des Terrariums lag in
den letzten Zügen. Sie bezweifelte, ob der erlesene zarte Trichomanes speciosum den Monat überleben würde. Sie
verdrängte das Verlangen, ihn zu retten. Es gibt kaum einen Salon
im ganzen Land, der sich nicht eines Farnes rühmen kann, dachte
sie. Man konnte nicht alle retten. Diese Farn-Manie grassierte seit
einigen Jahren. Sie hatte sogar einen eigenen Namen - Pteridomania.
Mit einer durch viel Übung erworbenen
Leichtigkeit unterdrückte sie die ablenkenden Energien und Farben
der Pflanzen im Raum und konzentrierte sich auf den Leichnam. Ein
schwacher Rückstand ungesunder Energie streifte ihre Sinne. Dank
ihrer Gabe konnte sie fast jede Art von Gift aufspüren, da die
Energien toxischer Substanzen die Atmosphäre auf verschiedene Weise
durchdrangen. Doch Lucindas wahre Stärke lag auf dem Gebiet jener
Gifte, die dem Reich der Botanik entstammten.
Sie wusste sofort, dass Spellar mit seiner
Vermutung recht gehabt hatte. Fairburn hatte Gift zu sich genommen.
Aber das Verblüffende waren die schwachen Spuren einer gewissen,
sehr seltenen Farn-Gattung. Kalte Panik durchströmte sie.
Sie ließ sich mit dem Toten einen oder zwei
Augenblicke
länger Zeit als nötig und gab vor, sich auf ihre Analyse zu
konzentrieren. In Wahrheit aber nutzte sie die Zeit, um wieder zu
Atem zu kommen und ihre Nerven zu beruhigen. Ganz ruhig. Keine Emotionen zeigen.
Als sie sicher sein konnte, dass sie sich wieder
unter Kontrolle hatte, richtete sie sich auf und blickte Spellar
an.
»Sie haben mit ihrem Verdacht recht, Sir«, sagte
sie in einem Ton, von dem sie hoffte, dass er sich professionell
anhörte.
Lady Fairburn stieß einen schrillen Schrei
damenhaften Entsetzens aus. »Es ist so, wie ich befürchtete. Mein
geliebter Mann nahm sich das Leben. Wie konnte er mir das nur
antun?«
Sie fiel anmutig in Ohnmacht.
»Annie!«, rief Hannah aus.
Sie kniete neben ihrer Schwester nieder und
entnahm der dekorativen Schlüsselkette an ihrer Taille ein
Fläschchen. Sie entkorkte es und schwenkte das Riechsalz unter Lady
Fairburns Nase. Die Wirkung trat sofort ein. Die Lider der Witwe
flatterten.
Hamilton Fairburns Miene verhärtete sich zu
grimmiger Empörung. »Wollen Sie damit sagen, dass mein Vater
Selbstmord beging, Miss Bromley?«
Sie verschloss ihre Sinne und blickte ihn über
den riesigen Teppich hinweg an. »Ich sagte nicht, dass er das Gift
mit Absicht trank, Sir. Ob unglücklicher Zufall oder Absicht soll
die Polizei feststellen.«
Hannah fixierte sie mit loderndem Blick. »Wer
sind Sie, dass Sie behaupten können, der Tod Seiner Lordschaft wäre
auf Gift zurückzuführen? Sie sind kein Arzt, Miss Bromley.
Tatsächlich wissen wir alle, wer Sie sind. Wie können Sie es
wagen, dieses Haus zu betreten und Anschuldigungen zu
erheben?«
Lucinda spürte, wie Zorn sich in ihr regte. Das
war der ärgerliche Aspekt ihrer Beratertätigkeit. Dank der
Sensationspresse, die seit einigen Jahren eine morbide Vorliebe für
dieses Thema entwickelt hatte, herrschte in der Öffentlichkeit
panische Angst vor Gift.
»Ich bin nicht gekommen, um Anschuldigungen zu
erheben«, sagte Lucinda, um einen ruhigen Ton bemüht. »Inspektor
Spellar bat mich um meine Meinung, die ich soeben äußerte. Wenn Sie
erlauben, gehe ich jetzt.«
Spellar trat vor. »Ich bringe Sie zu Ihrem
Wagen, Miss Bromley.«
»Danke, Inspektor.«
Sie gingen von der Bibliothek in die
Eingangshalle, wo sie die Haushälterin und den Butler antrafen.
Beide wurden sichtlich von Angst verzehrt. Der Rest des zweifellos
zahlreichen Hauspersonals blieb diskret unsichtbar. Lucinda konnte
es ihnen nicht verargen. Wenn es um Gift ging, gerieten Dienstboten
oft als Erste unter Verdacht.
Der Butler beeilte sich, die Tür zu öffnen. Als
Lucinda gefolgt von Spellar auf die Stufen hinaustrat, sahen sie
sich einer grauen Wand gegenüber. Es war erst Nachmittag, doch der
Nebel war schon so dicht, dass er die kleine Parkanlage in der
Mitte des Platzes verhüllte und die vornehmen Stadthäuser auf der
andere Seite unsichtbar machte. Lucindas private Equipage wartete
auf der Straße. Shute, ihr Kutscher, lehnte daneben an einer
Brüstung. Er richtete sich auf, als er sie erblickte, und öffnete
den Wagenschlag.
»Um diesen Fall beneide ich Sie nicht, Inspektor
Spellar«, bemerkte sie leise.
»Es war also doch Gift«, sagte Spellar. »Ich
dachte es mir schon.«
»Leider nichts so Einfaches wie Arsen. Sie
werden Mr Marshs Test nicht anwenden können, um einen Beweis zu
bekommen.«
»Bedauerlichweise ist Arsen neuerdings nicht
mehr so beliebt, seitdem jedermann weiß, dass es nachweisbar
ist.«
»Nicht verzweifeln, Sir, es ist eine altbewährte
Zweitbesetzung und wird sich immer einer gewissen Beliebtheit
erfreuen, sei es, seiner leichten Erreichbarkeit wegen oder weil
die Symptome, die es hervorruft, einer Anzahl anderer tödlicher
Krankheiten zugeschrieben werden können, vorausgesetzt, es wird
regelmäßig und über einen längeren Zeitraum verabreicht.
Schließlich heißt Arsen in Frankreich nicht von ungefähr
Erbschaftspulver.«
»Wie wahr.« Spellar verzog das Gesicht. »Ich
will gar nicht wissen, wie viele betagte Eltern und unbequeme
Ehepartner durch dieses Mittel schon ins Jenseits befördert wurden.
Aber wenn es nicht Arsen war, was dann? Ich konnte keinen
Bittermandelgeruch entdecken, mir fielen auch keine anderen
Symptome auf, die auf Zyanid hingedeutet hätten.«
»Ich bin sicher, dass das Gift pflanzlichen
Ursprungs ist. Grundlage ist die Rizinuspflanze, die hochgiftig
ist, wie Sie wissen.«
Spellar runzelte die Stirn. »Ich war der
Meinung, eine Rizinusvergiftung riefe große Übelkeit hervor, ehe
sie zum Tod führt. Lord Fairburn wies aber keinerlei Symptome einer
Unpässlichkeit auf.«
Sie wählte ihre Worte sehr bedacht, um Spellar
die Wahrheit möglichst verständlich zu vermitteln. »Wer immer das
Gift zusammenbraute, schaffte es, die gefährlichsten Komponenten
der Pflanze so herauszufiltern, dass er eine überaus toxische und
sehr rasch wirkende Substanz gewann. Lord Fairburns Herzschlag
setzte aus, ehe sein Körper das Gift ausscheiden konnte.«
»Sie klingen sehr beeindruckt, Miss Bromley.«
Spellar zog die buschigen Brauen zusammen. »Ich nehme an, dass das
Wissen um die Herstellung eines solchen Giftes eher ungewöhnlich
ist?«
In seinen Augen blitzte seine scharfe
Beobachtungsgabe auf, die sofort wieder hinter der nichtssagenden,
ein wenig linkischen Fassade, die er zur Schau trug, verschwand.
Ihr war nun klar, dass sie sehr vorsichtig sein musste.
»Sehr ungewöhnlich«, sagte sie mit Nachdruck.
»Nur ein Wissenschaftler, genauer ein Chemiker, der fast ein Genie
sein muss, kann dieses Gift hergestellt haben.«
»Ein psychisches Genie?«, fragte Spellar
leise.
»Möglich.« Sie seufzte. »Ich will ehrlich sein,
Inspektor. Diese spezielle Mischung ist mir in einem Gift noch nie
begegnet.« Das war mehr oder weniger die Wahrheit.
»Ich verstehe.« Spellar nahm eine resignierte
Haltung ein. »Ich werde wohl mit den Apotheken beginnen müssen,
wenn ich mir auch nicht viel davon erwarte, da dort immer ein
schwunghafter Schwarzhandel mit Giften blüht. Eine Witwe in spe
kann sich dort ganz einfach eine toxische Substanz besorgen, und
wenn der Göttergatte tot umfällt, kann sie behaupten, sie habe das
Zeug nur für die Ratten gekauft. Ein Pech, dass der Mann zufällig
davon trank.«
»In London gibt es Tausende von
Apotheken.«
Er schnaubte. »Ganz zu schweigen von den Läden,
die Kräuter und andere Heilmittel feilbieten. Aber ich könnte die
Liste der Möglichkeiten einengen, wenn ich mich auf den Umkreis
dieser Adresse konzentriere.«
Sie zog ihre Handschuhe über. »Sie sind also
überzeugt, dass es sich um Mord handelt? Nicht um
Selbstmord?«
Der scharfe Blick kam und verging in Spellars
Augen. »Es war Mord«, sagte er leise. »Ich spüre es.«
Sie schauderte. An seiner Intuition zweifelte
sie keinen Moment.
»Man kann nicht umhin zu bemerken, dass Lady
Fairburn in Trauer sehr attraktiv wirken wird«, sagte sie.
Spellar lächelte fast unmerklich. »Auch mir kam
dieser Gedanke.«
»Glauben Sie, dass sie ihn tötete?«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass eine
unglückliche junge Frau, die sowohl frei als auch reich sein
möchte, ihrem viel älteren Ehemann Gift einflößt.« Er wiegte sich
auf den Fersen. »In diesem Haus aber bieten sich mehrere
Möglichkeiten an. Als Erstes muss ich eruieren, woher das Gift
kommt.«
Ihr Inneres krampfte sich zusammen, und es
kostete sie Mühe, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. »Ja,
natürlich. Viel Glück, Inspektor.«
»Danke für Ihr Kommen.« Er senkte die Stimme.
»Für die Taktlosigkeit, die Sie im Haus der Fairburns über sich
ergehen lassen mussten, entschuldige ich mich.«
»Das war doch nicht Ihre Schuld.« Sie lächelte
andeutungsweise. »Wir beide wissen, dass ich dieses Benehmen
gewohnt bin.«
»Das macht es nicht erträglicher.« Spellars
Miene wurde ungewöhnlich ernst. »Die Tatsache, dass Sie bereit
sind, sich diesem Benehmen auszusetzen, um mir ab und zu
beizustehen, lässt mich immer tiefer in Ihre Schuld geraten.«
»Unsinn. Wir haben ein gemeinsames Ziel. Keiner
von uns möchte Mörder ungestraft davonkommen lassen. Aber ich
fürchte, diesmal ist der Fall wie auf Sie zugeschnitten.«
»Sieht so aus. Guten Tag, Miss Bromley.«
Er half ihr beim Einsteigen in die leichte
kleine Kutsche, schloss den Wagenschlag und trat zurück. Sie lehnte
sich im gepolsterten Sitz zurück, zog die Falten ihres Mantels
ordentlich um sich und blickte ins Nebelmeer hinaus.
Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie nichts so
sehr erschüttert wie die Spuren des Farns, die sie vor wenigen
Minuten im Gift entdeckt hatte. Es gab in ganz England nur ein
Exemplar einer Ameliopteris amazonensis.
Bis vor einem Monat hatte es in ihrem privaten Gewächshaus
existiert.