25. KAPITEL

Der Tote lag ausgestreckt in einer engen Gasse unweit des Flusses. Es war ein kleines Reich ständigen Zwielichts auch an Sonnentagen, im Nebel aber herrschte hier eine übelriechende, unnatürliche und ungesunde Atmosphäre. Die passende Szenerie für den Tod, dachte Caleb. Seine Nackenhaare sträubten sich. Er öffnete seine Sinne den Strömungen des Gewaltaktes, die hier ihre Kreise zogen.
»Der junge Kit gab an, der Mann sei als Sharpy bekannt gewesen«, sagte er. »Offenbar war er ein Meister im Umgang mit der Klinge.«
»Er ist eindeutig einer der Entführer«, antwortete Lucinda.
»Sind Sie sicher?« Er bezweifelte ihre Aussage nicht, wollte aber, neugierig wie immer, ihre Begründung hören.
Er hatte nicht gewollt, dass sie ihn begleitet. Die Debatte war kurz und bündig gewesen, und er hatte verloren. Gegen logische Argumente war er schlicht machtlos. Als Lucinda kühl eingewendet hatte, dass sie einige Erfahrung mit gewaltsamen Todesfällen besaß und ihr Wissen hilfreich sein konnte, hatte er sich geschlagen geben müssen.
Um ehrlich zu sein, hatte die Aussicht, das Abenteuer mit ihr zu teilen, sein Jagdfieber noch gesteigert. Zudem spürte er, dass die intensive Reaktion nicht nur seinerseits da war. Zwischen Lucinda und ihm fand ein Energieaustausch statt. Noch nie hatte er so etwas mit jemandem erlebt.
»Ich bin ganz sicher«, sagte Lucinda. »Ich konnte keinen der beiden deutlich sehen, doch ich roch die spezielle Mischung von Nicotiana tabacum, die beide Männer rauchten.«
Er sah sie über den Toten hinweg an. Ihr Gesicht wurde durch die Kapuze ihres Mantels beschattet, doch er konnte den ernsten Ausdruck ihres intelligenten Gesichtes erkennen.
»Ihr Talent ist erstaunlich, Lucinda.«
»Tabak ist schließlich ein Gift. Ein sehr langsam wirkendes, aber dennoch ein Gift.«
»Hmm, wie ich hörte, soll es gut für die Nerven sein.«
»Man darf nicht alles glauben, was die Presse schreibt, Sir.«
»Das tue ich nie.« Er konzentrierte sich wieder auf den Toten. »Na ja, ich bezweifle, ob Sharpy an Nikotin starb. Aber wie im Fall Daykin sind keine Spuren von Gewaltanwendung festzustellen. Hätten Sie eine Idee?«
»An Gift starb er nicht.« Lucinda blickte auf den Toten hinunter. »So viel kann ich erkennen.«
Caleb hockte sich neben den Leichnam und studierte den Ausdruck des Entsetzens, der aus dem Gesicht mit den aufgerissenen Augen sprach. »Sieht aus, als hätte er große Angst empfunden, als er zusammenbrach.«
»Wie Mrs Daykin?«
»Ja. Damit wären die Schreie erklärt, die man nach Kits Aussage in der Kneipe hörte.«
»Auch der Umstand, dass sein Gefährte aus dieser Gasse flüchtete, als wären alle Höllenhunde hinter ihm her«, sagte Lucinda, Kits Worte wiederholend.
»Aber wen oder was haben sie gesehen?« Er durchsuchte Sharpy rasch. »Keine Frage, es handelt sich um Mord.« Er zog ein Messer aus einer an das Bein des Toten geschnallten versteckten Scheide. »Aber womit? Er war ein abgebrühter Ganove, und doch blieb ihm nicht einmal Zeit, um seine Klinge zur Gegenwehr zu zücken.«
»Glauben Sie, dass er buchstäblich zu Tode erschreckt wurde?«
Caleb richtete sich auf. »Ich vermute, dass die Todesursache psychischer Natur war.«
Lucinda sah ihn durch die dunklen Nebelschwaden an, die sich in der Gasse verdichteten. Er spürte ihr Erstaunen und ihren Schock.
»Gibt es Menschen, die mit ihrer Gabe töten können, ohne Spuren zu hinterlassen?«, fragte sie entsetzt.
»Diese Gabe ist sehr selten«, beruhigte er sie. Er studierte wieder den Leichnam. »In den Journalen und Aufzeichnungen der Society bin ich hin und wieder auf Beschreibungen dieses Talents gestoßen. Im Wesentlichen erzeugt der Mörder so große Panik, dass das Opfer einem Schlaganfall oder Herzinfarkt erliegt.«
»Aber hier sieht es aus, als hätte der Mann gar nicht zu flüchten versucht.«
»Die Daykin auch nicht. Meine Nachforschungen ergaben, dass das Opfer, vor Angst buchstäblich gelähmt, keine Hand zur Gegenwehr heben, geschweige denn um sein Leben laufen kann.«
»Meine Eltern waren eingetragene Mitglieder der Society. Ich wurde in sie hineingeboren. Aber von so schaurigen Talenten habe ich nie gehört.«
»Aus gutem Grund, da der Hohe Rat und meine Familie diese Information immer schon mit ungewöhnlichen Mitteln unterdrückten.« Er nahm ihren Arm und führte sie zurück an das Ende der Gasse. »So wie sie ihr Bestes tun, um die Formel des Gründers in das Reich der Mythen und Legenden zu verweisen.«
»Ich kann mir den Grund denken.«
»Die Öffentlichkeit hält das Paranormale meist für eine Quelle des Amüsements und des Staunens. Die große Mehrheit jener, die behaupten psychische Talente zu besitzen, werden als Zauberkünstler und Entertainer oder, schlimmer noch, als Betrüger angesehen. Stellen Sie sich vor, wie die Bevölkerung reagieren würde, wenn bekannt würde, dass es Menschen gibt, die tatsächlich einen Mord begehen können, ohne Spuren oder Beweise zu hinterlassen.«
Lucinda überlief ein Schauder. Er spürte es, da er seine Finger um ihren Ellbogen gelegt hatte.
»Das perfekte Gift«, sagte sie leise. »Unsichtbar und nicht nachweisbar.«
»Ja.«
Sie drehte den Kopf, um ihn aus den rätselhaften Tiefen unter ihrer Kapuze anzusehen. »In diesem Fall wird die Polizei hilflos sein. Man wird keine Hinweise auf einen Mord finden. Der Tod dieses armen Menschen wird ungerächt bleiben, wenn wir seinen Mörder nicht finden.«
Sein Griff um ihren Arm wurde fester. »Der arme Mensch hat versucht, Sie zu entführen und zu töten.«
»Ich gebe ja zu, dass er mich sehr wahrscheinlich entführen wollte, doch wir wissen nicht sicher, ob er die Absicht hatte, mich zu töten. Das ist nur eine Theorie von Ihnen.«
»Vertrauen Sie mir. Mit Verbrechergehirnen habe ich mehr Erfahrung als Sie, Lucinda.«
»In Anbetracht meiner Beratertätigkeit für Inspektor Spellar halte ich es für unwahrscheinlich, dass Ihre Sachkenntnis meine übertrifft.«
»Festzustellen, ob jemand vergiftet wurde, ist nicht dasselbe, wie einen Mord aufzuklären.«
»Wie lange ist die Agentur Jones schon tätig?«, fragte sie viel zu freundlich. »Etwas weniger als zwei Monate? Ich arbeite seit fast einem Jahr für Inspektor Spellar.«
»Unglaublich, dass wir darüber diskutieren.« Er lächelte bedauernd. »Wenn einer von uns sich um Anstand und Manieren scheren würde, wären wir zweifellos von unserer beiderseitigen Faszination für das Verbrechergehirn geschockt.«
»Alle finden Verbrecher faszinierend«, sagte sie energisch. »Obwohl die meisten es ungern zugeben würden. Man zähle nur die Anzahl von Zeitungen und Groschenblättern, die tagtäglich auf den Straßen Londons verkauft werden. Sie übertreffen einander an blumigen Schilderungen von Verbrechen und gewaltsamem Tod.«
»Der Punkt geht an Sie.« Er warf einen Blick über die Schulter auf den Toten in der Gasse. »Aber ich möchte bezweifeln, ob dieser Mord viel Aufmerksamkeit finden wird.«
»Nein«, sagte Lucinda ernst. Auch sie warf einen Blick zurück. »Die Presse zieht es vor, wenn die Geschichten von einem handfesten Skandal begleitet werden. Der Tod eines elenden Straßenräubers, der offensichtlich aus natürlichen Gründen starb, wird morgen beim Frühstück nicht viel Interesse wecken.«
Suesses Gift Der Liebe
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