34. KAPITEL

»Bist du sicher, dass er tot ist?«, fragte Lucinda.
»Bei diesem Zustand ist eine Fehldiagnose wenig wahrscheinlich«, sagte Caleb. Sein Ton war bar jeder Emotion.
»Manchmal kann ein Zustand der Bewusstlosigkeit wie Tod aussehen.«
»Glaube mir, Lucinda, er ist tot. Du wirst es gleich selbst sehen.«
Sie saßen in ihrem Wagen auf dem Weg zum Ort der Konfrontation. Eben noch war sie so erleichtert gewesen, als Caleb den Ballsaal betrat, dass sie den Tränen nahe fast zusammengebrochen wäre. Kaum aber stand er an ihrer Seite, spürte sie die flüchtige Energie der Gewalt in der Atmosphäre um ihn herum schimmern.
Nun wusste sie, dass ihre Angst, die sie während des Abends verspürt hatte, kein Produkt ihrer Phantasie war. Caleb war beinahe ums Leben gekommen. Ihre Nerven würden lange brauchen, um sich von dieser erschütternden Erkenntnis zu erholen.
Doch sie machte sich mehr Sorgen um Caleb. Etwas war nicht im Lot. Sie spürte es. Er hat eben einen Kampf um sein Leben geführt, rief sie sich in Erinnerung, und er hat einen Menschen getötet. Das fordert seinen Zoll.
»Er sagte, dass sein Name Allister Norcross wäre?«
»Ja.«
»Kanntest du ihn?«
»Nein.«
»Was hast du mit dem Leichnam gemacht?«
»Ich musste ihn in einem verlassenen Haus zurücklassen.« Sein Blick glitt aus dem Fenster in die nächtlichen Nebelschwaden. »Ich hatte keine andere Wahl. Es ist schon schwierig genug, in dieser Gegend eine Droschke zu finden, wenn man überlebt hat. Ich glaube nicht, dass sich ein Kutscher gefunden hätte, der einen toten Fahrgast transportiert.«
»Warum soll ich mir den Toten ansehen?«, fragte sie.
»Weil du dank deiner Gabe Dinge erkennen kannst, die mir entgehen.« Er drehte sich zu ihr um. »Es tut mir leid, dass ich dir dies zumute. Aber ich glaube, dass es wichtig ist.«
»Ich verstehe.« Sie zog ihren Umhang enger um die Schultern. Ihr schauderte, aber nicht vor der Kälte der Nacht, sondern als Reaktion auf die gleichzeitig eisigen und glühenden Strömungen seiner Aura.
Shute hielt vor einer leeren Straße vor einem dunklen Haus an. Caleb stieg als Erster aus, Lucinda folgte rasch.
»Bleiben Sie hier und halten Sie Wache«, sagte Caleb zu Shute.
»Sehr wohl, Sir«, antwortete Shute. »Hier, Sie werden die Laterne brauchen.«
Caleb nahm die Laterne und zündete sie an. Der Lichtkreis verwandelte seine Augen in bodenlose dunkle Pfützen. Wieder überlief Lucinda ein Schaudern. Das Gefühl des Bösen vertiefte sich.
Wortlos drehte Caleb sich um und ging in einer engen Gasse voraus. Vor einer Tür blieb er stehen und stieß sie nach innen auf. Sie sammelte Nerven und Sinne so wie immer, wenn sie wusste, dass sie dem Tod begegnen würde, und trat vorsichtig ein.
Kein Zweifel, der Mann auf dem Boden war tot. So viel zu der Möglichkeit, dass Norcross vielleicht im Koma lag.
»Erkennst du ihn?«, fragte Caleb.
»Nein.«
»Er ist kein Botaniker oder einer der anderen Wissenschaftler, denen du begegnet bist? Bei einem Vortrag oder einer Diskussion? Jemand, den dein Vater kannte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn nicht.«
»Was kannst du mir über seinen Tod sagen?«
Erstaunt blickte sie auf. »Du sagtest, du hättest ihn getötet.«
»Ja.«
»Nun … ich nahm an, du hättest deine Pistole verwendet«, sagte sie zögernd.
»Nein.«
»Ein Messer?«
»Sieh genau hin, Lucinda«, sagte er ganz leise. »Nirgends ist Blut zu sehen.«
Widerstrebend trat sie näher heran. »Vielleicht hat er sich im Verlauf des Kampfes den Kopf angeschlagen.«
»Nein«, sage er unverändert tonlos und unheilvoll.
Vorsichtig öffnete sie sich den psychischen Rückständen, die dem Toten anhafteten. Sofort überflutete die verbliebene Energie unbekannter und gefährlicher Kräuter ihre Sinne. Sie tat einen tiefen Atemzug und wich zurück.
»Was ist es?«, fragte Caleb.
»Es ist Gift. Aber anders als alles, was ich kenne. Es ist jedoch eindeutig psychischer Natur und hätte die Kräfte dieses Mannes auf unvorhersehbare Weise beeinflussen können. Seine Wirkungen sind zersetzend und führen zur völligen Zerstörung, auch wenn sie vorübergehend die Sinne intensivieren.«
»Die Formel des Gründers.« Caleb schien seiner Sache sicher. »Er sagte, Hulsey hätte ihm diese Variante erst heute übergeben.«
»Ich kann dir versichern, dass die Droge ihn getötet hätte, wenn du es nicht getan hättest. Und zwar sehr rasch, vermute ich.«
Er nahm ein Taschentuch und ging neben Norcross in die Knie. Seine Hände waren durch Lederhandschuhe geschützt, dennoch benutzte er das Viereck aus schwerem Leinen, um einen kleinen Gegenstand aus dem Mantel des Toten hervorzuholen.
Das Laternenlicht beschien eine elegante goldene Schnupftabakdose, verziert mit einem aus kleinen grünen Steinen geformten Dreieck.
»Er benutzte Schnupftabak?« Sie runzelte die Stirn. »Ich konnte keinen Tabak an ihm wahrnehmen.«
»In der Dose ist ein Pulver. Das muss die Droge sein.«
Sie rückte ihre Brille zurecht und sah sich den Deckel der Dose näher an. »Sieht aus wie Smaragde.«
»Es sind sicher Smaragde.« Caleb studierte die Dose wie einen winzigen Sprengkörper. »Das Dreieck ist das alchemistische Zeichen für Feuer.«
Sie erhöhte ihre Sinneswahrnehmung wieder.
»Der Inhalt der Dose enthält die Ingredienzien des Giftes, das der Tote nahm«, erklärte sie.
»Ist es ungefährlich, die Dose anzufassen?«
»Ja. Ich bezweifle sehr, dass es ernste oder bleibende Folgen hat, wenn man mit dem Pulver nur in Kontakt kommt. Man müsste eine Prise oder zwei inhalieren, ehe es die psychischen Sinne dauernd schädigt. Zumindest anfangs wäre die Wirkung belebend. Das Opfer würde zweifellos glauben, die Droge erhöhe seine Kräfte.«
»Obwohl es ihn tatsächlich umbringt.«
»Ja.« Sie zögerte und versuchte die tödliche Essenz des Pulvers zu beurteilen. »Ein starker junger Mann wie Norcross würde drei oder vier Tage überleben. Ein älterer oder schwächerer würde rascher sterben.«
Caleb betrachtete das winzige smaragd-und goldfarbene Ding. »Wie sollen wir das Pulver vernichten? Was schlägst du vor?«
»Man könnte nahezu alles verwenden, um es unschädlich zu machen. Ich spüre, dass die Zusammensetzung der Formel extrem empfindlich und instabil ist. Eine säurehaltige Substanz wie Essig kann die Wirkung zunichtemachen. Ebenso Alkohol verschiedener Stärke. Auch Hitze könnte die schädlichen Eigenschaften neutralisieren.
»Was passiert, wenn man das Pulver isst?«
»Sehr wenig, denke ich. Der Verdauungsprozess würde es destabilisieren. Trotzdem würde ich von einem Versuch abraten.«
»Ich hatte nichts dergleichen vor.« Caleb wickelte das Döschen sehr sorgfältig in sein Taschentuch und richtete sich auf. »Ich möchte das Ding rasch loswerden.«
Sie warf einen Blick auf Norcross. »Und was ist mit ihm?«
»Ich werde Inspektor Spellar verständigen. Er kann die Sache übernehmen.«
»Und wie willst du ihm die Todesart erklären?«
»Das ist Spellars Problem, nicht meines.« Caleb griff nach der Laterne. »Was unter den gegebenen Umständen mein Glück ist.«
Sie folgte ihm zur Tür. »Ich verstehe ja, dass du nicht in eine Mordermittlung verwickelt sein möchtest, aber schließlich war es Notwehr.«
»Das ist nicht das Problem, Lucinda.«
»Wie meinst du das?«
»Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wie ich den Mann tötete.«
Suesses Gift Der Liebe
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