36. KAPITEL

Sie wartete eine Weile, bevor sie sich unter seinem schweren Gewicht hervorwand. Er rührte sich ein wenig, schlug aber die Augen nicht auf. Sie ertastete den Puls an seiner Kehle. Er schlug stark und regelmäßig. Seine Temperatur war gefallen.
Sie stand auf und zog sich an. Graues Dämmerlicht erhellte die Fenster. Sie wusste, dass sie nach Hause hätte fahren sollen, doch sie wagte nicht, Caleb zu verlassen, ehe er erwachte. Sie ließ sich im Sessel vor dem Kamin nieder und wartete.
Schließlich öffnete er die Augen. Sie war erleichtert, dass sie keine Anzeichen der psychischen Hitze mehr an ihm sah.
»Wie spät ist es?«, fragte er.
»Fast fünf. Ich bin froh, dass ich Shute nach Hause schickte und er nicht die ganze Nacht draußen im Wagen auf mich warten musste.«
Caleb setzte sich auf und schwang die Beine auf den Boden. »In der vornehmen Welt ist es nicht ungewöhnlich, nach einem Ball im Morgengrauen nach Hause zu kommen. Deinen Nachbarn wird es kaum auffallen.«
»Du kennst meine Nachbarn nicht.«
Er stand auf und blickte an sich hinunter, offensichtlich erstaunt, dass er noch fast komplett angezogen war. Er verzog das Gesicht und machte seine Hose zu.
»Kümmert es dich denn, was deine Nachbarn denken?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir.« Er zog sich fertig an und blickte sie an. »Ich entschuldige mich für meinen Mangel an Zartgefühl, Lucinda. Habe ich …?«
»Du hast mir nicht wehgetan«, sagte sie leise. »Du würdest mir nie wehtun.«
Er atmete auf. »Es war wie ein plötzliches Fieber. Ich kann es mir nicht erklären.«
»Ich habe darüber nachgedacht. Ich glaube, die Erklärung liegt in dem, was du diesem Irren letzte Nacht angetan hast.«
Er erstarrte. »Ich sagte schon, dass ich nicht mehr weiß, was genau passiert ist.«
»Du bist aber absolut sicher, dass du mit deiner Gabe irgendwie seinen Tod verursacht hast.«
»Ja, zweifellos.« Seine Kinnlinie verhärtete sich. »Ich … ich spürte es, als es geschah.«
»Kam dir vor der Tat der Gedanke, ihn zu töten? Hast du seinen Tod irgendwie willentlich herbeigeführt?«
»Das ist unmöglich. Man kann den Tod eines anderen nicht mit Willenskraft herbeiführen.«
»Es sieht aus, als hätte er dir etwas sehr Ähnliches angetan.«
»Nein, er hat meinen Tod nicht willentlich bewirkt.« Caleb rieb sich den Nacken. »Er setzte sein Talent irgendwie ein, um meine Aura zu zerstören. Was letzte Nacht passierte, kann durch psychische Physik erklärt werden und nicht durch Zauberei.«
»Schilder mir genau, wie es sich zugetragen hat.«
Caleb senkte seine Hand. »Ich wusste, dass ich ermordet werden sollte. Und ich wusste auch, dass du die Nächste wärst, wenn ich den Tod fände. Das konnte ich nicht zulassen. Ich konnte mich kaum rühren, konnte nicht mal nach der Waffe greifen, die ich fallen gelassen hatte. Irgendein Instinkt gab mir ein, dass es meine einzige Chance war, meine eigene Gabe mit voller Kraft einzusetzen. Ich hatte wohl die Idee, sie als Schild gegen seine Energieströme einzusetzen.«
»Mit anderen Worten, du hast versucht, Feuer mit Feuer zu bekämpfen?«
»Ich nehme an, dass es so war, als aber meine Sinne sich voll entfaltet hatten, wusste ich plötzlich, was zu tun war. Es war, als würde ich in das Herz eines Sturms reichen. Ich hatte das Gefühl, eine Faust voll Chaos ergriffen zu haben. Auf unerklärliche Weise schaffte ich es, die Energie gegen den Mann zu wenden und seine Aura zu zerstören. Er starb auf der Stelle. Mehr noch, während ich es tat, wusste ich, dass er sterben würde.«
Sie überlegte eine Weile.
Caleb wartete.
»Hmmm«, sagte sie schließlich.
Caleb machte ein finsteres Gesicht. »Was zum Teufel soll das heißen?«
»Nun, mir scheint, du hast es geschafft, deine Gabe in solche Bahnen zu lenken, dass sie als Waffe einsetzbar war.«
»Ob du es glaubst oder nicht, das reimte ich mir schon selbst zusammen«, sagte er grimmig. »Die Frage ist nun, wie gelang es mir, und warum wusste ich nicht, dass ich es kann, bis der Moment gekommen war?«
»Das weiß ich nicht, doch ich wage eine Vermutung.«
»Und die wäre?«
»Es könnte daran liegen, dass du niemals in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt warst, in dem dir keine andere Waffe zur Verfügung stand.« Sie breitete die Hände aus. »Du warst an der Schwelle des Todes. Deine Instinkte übernahmen die Führung.«
Er blickte ins sterbende Feuer. »Es ist sonderbar zu wissen, dass man auf solche Weise töten kann.«
»Ich glaube, dich beunruhigt vor allem, dass du in jenem Moment die Herrschaft über dich und deine Gabe verloren hast. Du warst auf Instinkt und Intuition angewiesen und nicht auf Logik und Verstand.«
Nun trat langes Schweigen ein. Als er vom Feuer aufblickte, drückte seine Miene ernstes Staunen aus.
»Wie ich schon einmal bemerkte, bis du eine sehr einfühlsame Frau, Lucinda.«.
Sie deutete auf das Labyrinth von Bücherregalen, das sie umgab. »Du sagtest, dass es andere Fälle von starken Talenten gab, die mit ihrer psychischen Energie töten konnten.«
»Ja, doch die Berichte über solche Individuen sind in der Society so selten, dass sie ins Reich der Mythen und Legenden verwiesen werden können.«
Sie lächelte. »Sie sind ein Jones, Sir. Ein direkter Nachfahre Sylvesters des Alchemisten. Das macht Sie zum Stoff für Mythen und Legenden.«
»Aber ich besitze keines dieser ungewöhnlichen Talente. Meine Gabe beschränkt sich auf Intuition in Verbindung mit einem Blick für Muster und Schemata. Wie kann eine solche Fähigkeit zu einer Waffe werden?«
»Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Aber Kraft ist Kraft, egal, wie sie sich manifestiert, und du besitzt viel davon.«
Er dachte lange darüber nach.
»Du hast recht«, sagte er schließlich. »Es ist eine unvollkommene Erklärung, aber sie muss genügen. Wir werden diese Information für uns behalten, Lucinda. Kannst du das verstehen? Ich möchte, dass auch meine Angehörigen nicht erfahren, was letzte Nacht wirklich geschah.«
»Deine neu entdeckte Fähigkeit soll ein tiefes, dunkles Geheimnis der Agentur Jones werden?«
»Du kannst dich schon einmal daran gewöhnen, Geheimnisse für dich zu behalten, denn ich habe das Gefühl, dass sich in der Agentur in den kommenden Jahren sehr viele ansammeln dürften.«
Suesses Gift Der Liebe
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