14. KAPITEL
Das Pochen an der Tür am folgenden Morgen ertönte
just, als Lucinda und Patricia sich an den Frühstückstisch setzten.
Mrs Shute stellte die Kaffeekanne auf den Tisch und warf einen
missbilligenden Blick zur Diele.
»Kann mir nicht denken, wer das um diese Zeit
sein könnte.« Sie wischte ihre Hände an der Schürze ab.
»Vielleicht braucht ein Kranker Lucys Rat«,
sagte Patricia und griff nach einer Scheibe Toast.
Mr Shute schüttelte auf ominöse Weise den Kopf.
»Wenn jemand aus der Umgebung nach Miss Bromley geschickt wird,
kommt er immer nach hinten an die Küchentür. Ich will mal
nachsehen, wer es ist.«
Sie verließ das Morgenzimmer mit grimmiger
Miene.
Patricia lächelte. »Ich bedauere jeden, der
jetzt auf den Eingangsstufen steht.«
»Ich auch, aber es geschieht ihm recht, wenn er
um halb neun Uhr morgens an die Haustür pocht«, sagte Lucinda. Sie
griff nach der Zeitung. Die Schlagzeile des Flying Intelligencer ließ sie nach Luft schnappen.
»Guter Gott, Patricia, hör dir das an …«
Sie verstummte mitten im Satz, als sie eine
sonore, vertraute Männerstimme hörte.
»Das klingt nach Mr Jones«, sagte Patricia vor
Erregung
sprühend. »Er muss Neuigkeiten haben. Vielleicht hat er ja den
Fall gelöst und die Identität der Person aufgedeckt, die Lord
Fairburn vergiftete.«
»Das bezweifle ich.« Lucinda legte die Zeitung
aus der Hand und versuchte, den Anflug von Vorfreude zu
unterdrücken. »Sicher war die Zeit zu kurz, um alle Leute zu
befragen, die ich auf meiner Besucherliste anführte.«
Caleb stand in der Tür. »Sie haben recht, Miss
Bromley. Ich habe die Liste erst zur Hälfte abgehakt. Guten Morgen,
meine Damen. Sie beide sehen heute blendend aus.« Als sein Blick
auf die Servierplatte mit Spiegeleiern und gebratenem Schellfisch
fiel, blieb er interessiert und wie festgenagelt darauf haften.
»Störe ich Sie beim Frühstück?«
Natürlich stört er beim Frühstück, dachte
Lucinda. Er war Detektiv, und daher imstande, das Offensichtliche
zu erkennen. Sie studierte ihn eingehend und war erleichtert, als
sie sah, dass er viel ausgeruhter wirkte als am Tag zuvor. Die
Schrammen in seinem Gesicht spielten noch immer in allen Farben,
doch sahen sie aus, als würden sie schon weniger schmerzen. Sie war
auch zufrieden, als sie spürte, dass die Spannung in seiner Aura
ein wenig zurückgegangen war. Ihre Heilmittel taten ihre
Wirkung.
»Kein Problem, Sir«, sagte sie rasch. »Ich nehme
an, Sie kommen, weil Sie endlich etwas Neues haben?«
»Leider habe ich bei den Ermittlungen nur
geringe Fortschritte gemacht.« Calebs Blick fiel auf die
schimmernde Kaffeekanne wie auf ein erlesenes Kunstwerk. »Doch es
ergaben sich ein paar neue Fragen. Ich hoffe, Sie können diese
beantworten.«
»Gewiss«, sagte sie. Ihr fiel auf, dass er
verhungert aussah.
»Haben Sie schon gefühstückt?«, fragte sie mit gerunzelter
Stirn.
»Keine Zeit«, sagte Caleb ein wenig zu glatt.
»Die neue Haushälterin hat sich an meinen Stundenplan noch nicht
gewöhnt. Das tun sie nie.«
Patricia sah ihn verständnislos an. »Wer tut was
nie, Sir?«
»Haushälterinnen«, sagte er und näherte sich
unauffällig, um nicht zu sagen verstohlen, wie Lucinda fand, der
Auswahl von Speisen. »Nie richten sie sich nach meinem Tagesablauf.
Nie ist das Frühstück bereit, wenn ich es möchte. Ich erwarte, dass
Mrs Perkins bald kündigt … so wie die anderen.« Er betrachtete den
Fisch mit einem an Andacht grenzenden Ausdruck. »Das sieht aber
lecker aus.«
Mir bleibt nichts übrig, als ihn einzuladen,
dachte Lucinda.
»Bitte, setzen Sie sich zu uns«, forderte sie
ihn brüsk auf.
Caleb schenkte ihr ein unerwartetes Lächeln, das
seine Züge so stark verwandelte, dass sie den Atem anhielt.
Fasziniert hatte er sie von Anbeginn an, nun aber wurde ihr klar,
dass er imstande war, sie auch zu bezaubern. Ein beunruhigender
Gedanke. Seitdem sie entdeckt hatte, dass Ian Glasson sie betrog,
hatte sie sich für immun gegen männliche Tricks gehalten.
»Danke, Miss Bromley, da kann ich nicht
widerstehen«, antwortete er.
Er nahm sich einen Teller und bediente sich mit
einem Eifer, der bei ihr noch mehr Argwohn weckte. Als er am
gestrigen Morgen gegangen war, hatte er sich erkundigt, wann sie zu
frühstücken pflegte. Um halb neun, hatte sie gesagt, in der
Meinung, er wolle seinen nächsten Besuch so planen, dass er
sie nicht bei Tisch störte. Sie warf einen Blick auf die hohe Uhr.
Zwei Minuten nach halb neun. Das ist kein Zufall, folgerte sie.
Caleb Jones war kein Mann, dem Fehler dieser Art unterliefen.
Patricia unterdrückte mit Mühe ein Kichern.
Lucinda sah sie strafend an, dann galt ihr Blick wieder
Caleb.
»Ich nehme an, in Ihrem Haushalt wechselt das
Personal sehr häufig, Mr Jones«, sagte sie kühl.
»Es ist nicht so, dass ich viel Personal
brauche.« Er häufte Eier auf seinen Teller. »Ich lebe allein im
Haus. Die meisten Räume sind versperrt. Ich brauche nur eine
Haushälterin und jemanden für den Garten. Ich schätze es nicht,
wenn sich viele Leute im Haus betätigen, während ich zu arbeiten
versuche. Es lenkte mich zu sehr ab.«
»Ich verstehe«, meinte Lucinda neutral. Jetzt
war sie es, die sich ein Lachen verbeißen musste.
»Ich begreife es nicht.« Caleb ging an den Tisch
und setzte sich. »Haushälterinnen kommen und gehen wie Züge. Sie
bleiben einen Monat, im besten Fall zwei, dann kündigen sie.
Ständig muss ich die Personal-Agentur bemühen, mir eine neue Kraft
zu verschaffen. Sehr ärgerlich, kann ich Ihnen sagen.«
»Und worüber haben sie sich vor allem zu
beklagen?«, fragte Lucinda
»Dass sie alle kündigen.«
»Ich meine die Haushälterinnen, Sir. Warum
verlassen sie mit solcher Regelmäßigkeit Ihr Haus?«
»Ach, da gibt es jede Menge Gründe«, sagte er
vage. Er nahm einen großen Bissen von den Eiern, kaute begeistert
und schluckte. »Einige behaupten, sie fänden es beunruhigend,
wenn sie mich in Arbeitszimmer und Labor spätabends umhergehen
hören. Es hört sich an, als spuke es im Haus. Abergläubischer
Humbug, natürlich.«
»Natürlich«, murmelte Lucinda.
»Andere ängstigten sich bei bestimmten
Experimenten, die ich gelegentlich mache. Als ob ein wenig
Blitzpulver jemandem schaden könnte.«
»Tatsächlich weiß man, dass es genau das tut«,
wandte Lucinda ein. »Unter Fotografen, die verschiedene gefährliche
Chemikalien zur Herstellung des Blitzpulvers benutzten, kam es zu
ernsten Unfällen.«
Caleb sah sie gereizt an. »Das Haus ist mir noch
nicht abgebrannt, Miss Bromley.«
»Wie schön für Sie.«
Er widmete sich wieder seinem Teller. »Im
Allgemeinen beklagen sich die Haushälterinnen vor allem über meine
Zeiteinteilung.«
»Haben Sie denn eine?«, frage Lucinda
höflich.
»Natürlich habe ich einen Zeitplan. Dass er sich
täglich ändert und sich dem jeweiligen Projekt anpasst, ist ja
nicht meine Schuld.«
»Hmm.«
Patricia, die offenbar einen Themenwechsel für
angebracht hielt, griff rasch ein.
»Lucy wollte eben die Schlagzeilen vorlesen«,
sagte sie.
»Na, was haben Sie da?«, fragte Caleb. Er warf
einen Blick auf die Zeitung in Lucindas Hand. Als er sah, welche es
war, schüttelte er angewidert den Kopf. »Richtig. Der Flying Intelligencer. Glauben Sie auch nicht einen
Bruchteil dessen, was Sie in dem Schundblatt lesen. Es lebt von
Sensationen.«
»Vielleicht.« Lucinda studierte die Schlagzeile.
»Sie müssen aber zugeben, dass es ein sehr aufregender Artikel über
ein höchst bizarres Verbrechen ist. Hören Sie.«
Sie begann laut vorzulesen.
BLUTIGES MENSCHENOPFER VON
GEISTERN VEREITELT
Von
Gilbert Otford
Unsichtbaren Händen aus dem
Jenseits ist es zu verdanken, dass ein grausiges okkultes Ritual
verhindert und das Leben eines unschuldigen Jungen gerettet wurde.
Anwesende berichteten unserem Korrespondenten von einem grässlichen
Erlebnis.
Mag es den Lesern dieses
Blattes auch unglaublich erscheinen, so bestätigt die Polizei, dass
ein sonderbarer, dämonischen Kräften geltender Kult wochenlang
grausige Rituale im Herzen Londons ausübte.
Am Dienstagabend dieser Woche
wollte die Gruppe einen Jungen opfern, der zu diesem Zweck von der
Straße gekidnappt worden war. Erstaunlicherweise berichten
Augenzeugen von unsichtbaren paranormalen Kräften von jenseits des
Schleiers, die im letzten Moment einschritten und das Leben des
vorgesehenen Opfers retteten.
Der Anführer des Kultes nannte
sich Diener Charuns. Die Polizei identifizierte ihn als Mr Wilson
Hatcher, wohnhaft in der Rhone Street. Der Junge, der geopfert
werden sollte, floh in schierem Entsetzen und stand für Kommentare
nicht zur Verfügung.
Die Polizei nahm einige
Verhaftungen vor. Auch Mr Hatcher,
den die Polizei für geisteskrank hält, wurde
festgenommen.
Ein Informant deutete an, es
gäbe Gerüchte, die besagen, dass das Opfer des Rituals nicht von
Geistern gerettet wurde, sondern von Mitgliedern einer
Geheimgesellschaft, die sich psychischen Forschungen verschrieben
hat …«
»Huch.« Caleb sprach um einen Bissen Toast herum.
»Vetter Gabe wird das nicht gefallen. Aber ich nehme an, dass man
mit ein paar Gerüchten leben kann.«
Lucinda ließ die Zeitung sinken.
»Gestern war Mittwochmorgen«, bemerkte
sie.
»Ja.« Caleb lächelte Mrs Shute zu, die ihm eben
eine Tasse und Besteck gebracht hatte. »Danke, Mrs Shute. Der Fisch
ist heute übrigens herrlich.«
»Freut mich, dass er Ihnen schmeckt, Sir.«
Strahlend ging Mrs Shute zurück durch die Tür, die in die Küche
führte.
Patricia sah Caleb an. »Warum machen Sie sich
Sorgen, wenn einem Zeitungskorrespondenten Klatsch über die Arcane
Society zu Ohren kommt?«
»Unter den Mitgliedern des Rates herrscht die
Meinung vor, dass die Society keinen Stoff für die Sensationspresse
liefern darf.« Caleb löffelte Konfitüre aus einem Tiegel. »Ich
teile diese Meinung. Aber ich bezweifle sehr, dass ein wenig
Klatsch über die Existenz einer weiteren Geheimgesellschaft
psychischer Forscher großen Schaden anrichten kann. Schließlich
gibt es in London eine Vielzahl von Gruppen und Organisationen, die
sich dem Studium des Paranormalen widmen. Eine mehr spielt da keine
Rolle.«
»Deshalb fanden Sie Dienstagnacht keinen
Schlaf.« Lucinda
tippte mit dem Zeigefinger auf die Zeitung. »Ihnen gehörten die
unsichtbaren Hände von jenseits des Schleiers, die den Jungen
retteten. Das erklärt Ihre Rippenprellungen und blutunterlaufenen
Augen.«
»Ich war dabei, aber nicht allein.« Caleb strich
Konfitüre auf eine Toastscheibe. »Ein junger Mann namens Fletcher,
der ein ungewöhnliches Talent besitzt, war es, der mich
einschleuste und Kit vom Altar ins Freie schaffte. Ich war nur da,
um dafür zu sorgen, dass der Anführer nicht entkommen konnte, als
die Polizei anrückte. Würden Sie mir den Kaffee reichen, Miss
Bromley?«
»Und wie gelang es dem Gentleman, sie beide
einzuschleusen?«, fragte Patricia.
»Sein Talent ist die Fähigkeit, Energie so zu
manipulieren, dass das Auge abgelenkt wird. In einem gewissen Sinn
kann er Dinge und auch sich selbst zumindest für kurze Zeit
verschwinden lassen. Er kann auch sehr, sehr gut Schlösser
überwinden. Im Wesentlichen ist er der ultimative Zauberer.« Caleb
hielt inne und überlegte. »Obwohl er aus irgendeinem Grund auf der
Bühne nicht besonders gut ist. Ich vermute, dass ihn das
Scheinwerferlicht unsicher macht.«
»Er kann Dinge wirklich verschwinden lassen?«,
fragte Patricia. »Das ist aber erstaunlich.«
»Wahrscheinlich trägt er Farnsamen in der
Tasche«, sagte Lucinda trocken.
Patricia legte die Stirn in Falten. »Aber
Farnsamen gibt es nicht. Farne vermehren sich mittels
Sporen.«
»Ja, aber die Altvorderen waren überzeugt, dass
alle Pflanzen aus Samen entstehen«, sagte Lucinda. »Da in Farnen
keine Samen zu finden waren, schloss man, dass sie unsichtbar
waren. Infolgedessen glaubte man, dass auch Menschen unsichtbar
würden, wenn sie Farnsamen bei sich hätten. Denken Sie an den Vers
von Shakespeare aus Heinrich IV.«
»Die Rezeptur für Farnsamen
ist unser«, zitierte Caleb mit vollem Mund. »Wir wandeln ungesehen.«
Patricia war gefesselt. »Dieser Mr Fletcher
scheint ja ein sehr interessanter Mensch zu sein. Ich nehme an,
dass er jetzt für Ihre Agentur arbeitet, Mr Jones?«
»Nur gelegentlich.« Caleb goss sich Kaffee nach.
»Seine anderen Einkommensquellen hinterfrage ich lieber
nicht.«
Lucinda studierte sein noch immer verfärbtes
Auge. »Wie oft bringt Ihr Beruf als Ermittler Sie in Gefahr,
Sir?«
»Nun, ich liefere mir nicht allnächtlich
Faustkämpfe mit Irren, die Kulte zelebrieren.«
Sie schauderte. »Das will ich hoffen.«
»Meist habe ich Besseres mit meiner Zeit
anzufangen«, setzte er hinzu.
»Warum sind Sie in den Fall verstrickt, Sir?«,
fragte Patricia.
Caleb zog die Schultern hoch. »Vetter Gabe
machte dem Rat klar, dass die Society verpflichtet ist, sich mit
besonders gefährlichen Kriminellen zu befassen, die über psychische
Kräfte verfügen. Er fürchtet, dass die Polizei mit Schurken dieser
Art nicht richtig umgehen kann.«
»Wahrscheinlich hat er recht.« Lucinda goss sich
Kaffee nach. »Angesichts der Faszination des Paranormalen auf die
Öffentlichkeit wäre es außerdem nicht hilfreich, wenn Berichte von
Schurken mit psychischen Kräften in der Presse erscheinen würden.
Es bedarf nicht viel, und Neugierde und Interesse werden zu Angst
und Panik.«
Caleb hielt im Kauen inne und sah sie sonderbar
an.
Sie zog die Brauen hoch. »Was ist?«
Er schluckte. »Genau das sagt auch Gabe. Ihr
beide nehmt den gleichen Standpunkt ein.«
»Was war denn das Talent des Kultführers?«,
fragte Patricia.
»Hatcher hatte die Gabe, andere auf eine Art
anzuziehen, zu betrügen und zu manipulieren, die man nur als
hypnotisch bezeichnen kann, obwohl sein Talent genau genommen nicht
das eines Hypnotiseurs war«, sagte Caleb. »Er hätte Heilpraktiker
oder dergleichen werden sollen. Aufgefallen ist er mir, als er
anfing, Jungen von der Straße für seinen Kult zu
rekrutieren.«
»Warum sprechen Sie von Mr Hatchers Gabe in der
Vergangenheit?«, fragte Lucinda.
Calebs Ausdruck wurde abrupt ernst. »Weil es so
aussieht, dass er sie nur mehr bei sich anwenden darf.«
Patricias Augen wurden groß. »Was meinen Sie
damit?«
»Er wurde selbst Opfer des Betruges, den er an
den Kultanhängern beging«, erklärte Caleb. »Keine Frage, Hatcher
war immer schon verrückt, doch die Ereignisse von Dienstagabend
trieben ihn noch tiefer in die imaginäre Welt, die er als Grundlage
seines Kultes schuf. Jetzt glaubt er wirklich, dass es ihm glückte,
den Schleier zwischen dieser und der anderen Welt durchlässig zu
machen, doch anstatt eines Dämons, den er beherrschen konnte,
drangen dunkle Kräfte durch, die ihn vernichteten.«
»Was für eine grausige Form der
Gerechtigkeit.«
»Ja.« Calebs Stimme war plötzlich tonlos. »Das
kann man wohl sagen.«
Er trank einen Schluck Kaffee und blickte in den
an der Wand am anderen Ende des Tisches hängenden Spiegel, als
könne er in eine andere Dimension sehen. Was immer er dort sieht,
hebt seine Laune keineswegs, dachte Lucinda. Eine Erkenntnis erhob
flüsternd ihre Stimme. Er fürchtet das
Schicksal, das Hatcher widerfuhr. Doch das war Unsinn. Wie er
zu Patricia gesagt hatte, beherrschte Caleb seine Gabe
vollkommen.
Aber gab es andererseits jemanden, der alle
seine Sinne völlig in der Gewalt hatte?
Sie legte die Zeitung auf den Tisch. »Jetzt zu
Ihren Fragen, Mr Jones«, sagte sie entschieden.
Caleb riss seine Aufmerksamkeit vom Spiegel und
seinen dunklen Gedanken los. Er konzentrierte sich auf sie, und
seine Miene schärfte sich wieder.
»Gestern sprach ich mit den drei Botanikern auf
Ihrer Liste, mit Weeks, Brickstone und Morgan. Alle behaupteten,
niemanden zu kennen, auf den Hulseys Beschreibung zutrifft, und ich
neige dazu, ihnen zu glauben.«
»Ich auch«, sagte Lucinda. »Bleibt nur Mrs
Daykin, die Apothekerin, die mich etwa eine Woche vor Hulseys
Besuch um eine Führung bat.«
»So ist es.« Er angelte ein Notizbüchlein aus
seiner Tasche und öffnete es. »Ich wollte heute mit ihr reden.
Irgendetwas an ihr interessiert mich.«
»Und was genau weckte Ihre
Aufmerksamkeit?«
»Ach, es ist nur so eine Ahnung.«
Sie lächelte. »Ihr Talent meldete sich, meinen
Sie wohl.«
Er verspeiste die Hälfte der Toastscheibe mit
einem einzigen Biss. »Auch das. Ich habe bereits die Unterlagen
überprüft.
Sie ist kein eingetragenes Mitglied der Society. Glauben Sie, es
bestünde die Möglichkeit, dass sie ein Talent ähnlich wie Ihres
hat?«
»Ganz entschieden«, sagte Lucinda. »Sie ist
jedoch nicht annähernd so stark wie ich. Während ihres Besuches
deutete ich die Möglichkeit an, dass sie psychische Fähigkeiten
besitze, sie aber tat so, als verstünde sie nicht, was ich
meine.«
»Vielleicht ist es ihr entgangen«, sagte Caleb.
»Viele Menschen mit bescheidenem Talent nehmen ihre Fähigkeiten als
Selbstverständlichkeit und halten sie für normal. Erst wenn solche
Kräfte besonders stark oder von ungewöhnlicher oder beunruhigender
Natur sind, stellt man sie in Frage.«
»Ja, da haben Sie wohl recht.«
Caleb griff in seine Tasche und holte einen
Bleistift hervor. »Also gut, nehmen wir an, Mrs Daykin hat ein
gewisses Ausmaß an Talent. Was können Sie mir sonst noch
sagen?«
»Leider nur sehr wenig. Ich traf sie nur einmal,
nachdem sie mich schriftlich um eine Führung gebeten hatte. Sie ist
Ende vierzig und nannte sich Mrs Daykin, außerdem entnahm ich einer
Bemerkung, dass sie allein über ihrem Laden wohnt.«
Caleb blickte auf. »Wollen Sie damit sagen, dass
Sie die Dame für unverheiratet halten?«
Lucinda zögerte und überlegte. »Ich bin nicht
sicher. Wie gesagt, war es nur ein Eindruck. Vielleicht ist ihr
Mann gestorben, doch trug sie nichts, was auf Trauer hingedeutet
hätte. Allerdings sprach sie von einem Sohn. Eine Frau mit einem
unehelichen Kind würde sich sehr wahrscheinlich als verheiratet
ausgeben.«
»Läuft ihr Geschäft gut?«
»Das kann ich nicht sicher sagen. Ich war nie
dort. Aber
sie war gut gekleidet und trug ein ziemlich teuer aussehendes
Halsband mit einer Kamee. Ich schätzte, dass sie sehr erfolgreich
ist.«
»Sind Sie mit ihr gut ausgekommen?«
»Wir sind nicht eben geistesverwandt«, sagte
Lucinda trocken. »Unsere einzige Gemeinsamkeit ist das Interesse an
den medizinischen Eigenschaften von Kräutern.«
»Woher hat sie von den Pflanzen in Ihrem
Gewächshaus erfahren?«
Überrascht von der Frage, sah Patricia ihn an.
»Mr Jones, in der Welt der Botanik kennt man Lucys Sammlung. Es ist
nicht weiter verwunderlich, dass eine erfolgreiche Apothekerin
davon weiß und die Pflanzen sehen will.«
»Mrs Daykin betreibt ihr Gewerbe offenbar schon
länger«, sagte Caleb. Er wandte sich wieder Lucinda zu. »Hat sie
schon zuvor mit Ihnen Verbindung gesucht?«
»Nein. Es gab nur diesen einen Besuch.«
»Und der war wann?«, fragte Caleb.
Lucinda zuckte zusammen. »Ich befürchtete, dass
Sie das fragen würden. An das genaue Datum kann ich mich nicht
erinnern, obwohl ich sicher bin, einen Eintrag in mein Tagebuch
gemacht zu haben. Ich kann nur sagen, dass es nicht lange vor
Hulseys Besuch war.«
»Haben Sie ihr den Farn gezeigt?«
»Ja, ihn und viele andere Pflanzenarten, von
denen ich glaubte, dass eine Apothekerin sie interessant finden
würde, doch sie zeigte keine übertriebene Neugierde an Ameliopteris amazonensis.«
Patricia senkte ihre Kaffeetasse. »Könnte ja
sein, dass sie ihr Interesse mit Absicht verbarg.«
»Und warum?«, fragte Lucinda.
Ein sonderbares Licht erhellte Calebs Augen.
»Weil sie mit Hulsey in Verbindung steht«, sagte er ganz leise.
»Sie wusste, dass er sich für Ihren Farn interessieren würde.
Tatsächlich zweifle ich nicht daran, dass er sie
hierherschickte.«
»Glauben Sie das wirklich?«, fragte Patricia
ungläubig.
»Der Zeitpunkt ihres Besuches fällt mit der
Zerstörung des Dritten Kreises zusammen. Hulsey war ohne Geldgeber
und verzweifelt, weil er seine Traumforschung weiter betreiben
wollte. Ich vermute, dass die Daykin sozusagen auf Erkundung war.
Vermutlich schickte er sie auf der Suche nach für ihn brauchbaren
Kräutern und Pflanzen in mehrere botanische Gärten.« Er sah Lucinda
an. »Aber Ihre Sammlung muss für ihn von besonderem Interesse
gewesen sein.«
»Warum?«, fragte Patricia.
»Weil Hulsey Mitglied der Society ist«, erklärte
Caleb. »Zweifellos war ihm klar, dass Miss Bromleys Eltern nicht
beliebige Botaniker, sondern solche mit besonderem Talent waren. Er
hatte allen Grund zu erwarten, dass dieses Gewächshaus einige
Gattungen mit psychischen Eigenschaften enthalten würde. Erst
schickte er die Daykin, damit sie die Pflanzen besichtigt, weil er
nicht das Risiko eingehen wollte, selbst hinzugehen. Er muss
wissen, dass die Society ihn sucht.«
Lucinda dachte nach. »Nachdem sie berichtet
hatte, dass es einen Farn mit psychischen Eigenschaften in meiner
Sammlung gäbe, bat er mich um eine Besichtigung, um sich zu
vergewissern, ob die Pflanze für ihn von Nutzen war, und um
auszukundschaften, wie er sie stehlen konnte.«
Caleb nickte einmal, diesmal war er seiner Sache
ganz sicher. »Das kommt der Wahrheit sehr nahe.«
»Was passiert jetzt?«, fragte Patricia.
Er klappte das Notizbuch zu. »Ich werde Mrs
Daykin aufsuchen, sobald ich mit diesem köstlichen Frühstück fertig
bin.«
»Ich komme mit«, sagte Lucinda.
Caleb runzelte die Stirn. »Warum, zum
Teufel?«
»Etwas sagt mir, dass es Mrs Daykin ein wenig
peinlich sein wird, mit Ihnen zu sprechen. Meine Gegenwart wird sie
beruhigen.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass ich sie nervös
machen könnte?«
Lucinda schenkte ihm ihr anmutigstes Lächeln.
»Seien Sie versichert, dass mit Ihren Manieren und Ihrer
umgänglichen Art alles in Ordnung ist, doch der Anblick eines
Gentleman, der aussieht, als hätte er einen Boxkampf hinter sich,
könnte bei manchen Frauen Beunruhigung auslösen.« Sie räusperte
sich bedeutungsvoll. »Eines Gentleman, der tatsächlich einen
Boxkampf hinter sich hat.«
Seine Miene wurde noch finsterer. »Daran dachte
ich nicht.«
»So frische Verletzungen sind schwerlich zu
übersehen«, fuhr sie glatt fort. »Sie können es sich vielleicht
nicht vorstellen, doch ich weiß mit Sicherheit, dass ein solcher
Anblick bei zartbesaiteten Damen einen Schock auslöst.«
Caleb warf einen Blick in den Spiegel und
seufzte resigniert. »Sie mögen recht haben. Was für ein Glück, dass
Ihre Nerven mehr aushalten, Miss Bromley.«