16. KAPITEL
Drei Tage darauf saß Lucinda mit Victoria um ein
Uhr morgens auf einer mit Samt bezogenen Bank auf einer Empore über
einem strahlenden Ballsaal.
Gemeinsam betrachteten sie die prächtige Szene.
Der Empfang für den frisch verlobten Mr Thaddeus Ware und seine
Braut Leona Hewitt hatte seinen Höhepunkt erreicht. Doch es waren
nicht die Ehrengäste, denen Lucindas und Victorias Interesse
galt.
»Ein schönes Paar«, sagte Victoria, die durch
ihr Opernglas spähte. »Aber leider kommt eine Ehe nicht in Frage.
Der junge Mr Sutton entspricht den Anforderungen überhaupt
nicht.«
»Ein wahrer Jammer«, antwortete Lucinda. »Er
scheint mir ein sehr angenehmer Gentleman zu sein.«
»Das ist er.« Victoria senkte das Opernglas und
stärkte sich mit einem Schluck Champagner aus ihrem Glas. »Aber
nicht der Richtige für Ihre Kusine.«
»Das können Sie von hier oben aus
beurteilen?«
»Aus dieser Entfernung kann ich die
Resonanzströmungen zwischen den beiden nur vage spüren, es genügt
aber, um mir zu sagen, dass er nicht zu ihr passt.« Sie machte
einen Eintrag in ihr Notizbuch und hob ihr Opernglas wieder mit
geradezu militärischer Präzision an die Augen.
Lucinda folgte ihrem Blick. Unter ihnen tanzten
viele elegant gekleidete Paare, darunter Patricia und der
unpassende Mr Sutton, zu den schmelzenden Klängen eines Walzers.
Patricia sah in ihrem hellrosa, mit einer rosa Tüllkaskade
geschmückten Satinkleid unschuldig und hinreißend zugleich aus.
Ihre Arme steckten in langen pinkfarbenen Handschuhen. In ihrem
Haar funkelten rosa Blumenornamente.
Lucinda war bewusst, dass sie selbst einen
völlig anderen Anblick bot. Unschuldig war
in ihrem Fall nicht das Wort, das einem in den Sinn kam. Victorias
Schneiderin hatte für sie kobaltblaue Seide gewählt. Perfekt für les cheveux rouges und diese schönen blauen Augen, hatte Madame La
Fontaine mit schrecklichem französischen Akzent erklärt.
Das Kleid war tief ausgeschnitten und enthüllte
nach Lucindas Meinung so viel von Schultern und Armen, dass man es
gewagt nennen konnte. Madame La Fontaine hatte sich geweigert, das
Dekolleté auch nur um einen halben Finger breit zu verkleinern.
Victoria hatte ihr beigepflichtet. Das
Geheimnis, sich mit einem schlechten Ruf zu arrangieren, besteht
darin, sich offen zu ihm zu bekennen, hatte sie Lucinda
belehrt. Kühnheit heißt die Parole.
Lucinda war nicht ganz sicher, ob es richtig
war, die überlegene Dame von Welt zu spielen, doch war nicht zu
leugnen, dass Victoria wusste, worauf es beim Ehestiften ankam.
Patricias Tanzkarte war voll. Nach dem Ball wird sie total
erschöpft sein, dachte Lucinda, insgeheim lächelnd. Und ihre
Tanzschuhe würden löchrige Sohlen bekommen. Immer wenn sie von der
Tanzfläche kam, blieb Patricia kaum Zeit, sich mit einem Schluck
Limonade zu laben, ehe der nächste junge Mann kam und sein Recht
forderte.
»Was sehen Sie, wenn Sie einen Raum voller
Menschen vor sich haben, Lady Milden?«, fragte Lucinda.
»Eine Vielzahl von Ehepaaren, die niemals hätten
heiraten sollen, und eine ebenso große Anzahl, die eine illegitime
Affäre miteinander haben.«
»Das muss ja sehr bedrückend sein.«
»So ist es.« Victoria legte das Opernglas weg
und trank einen Schluck Champagner. »Doch ich finde, dass meine
neue Tätigkeit als Ehestifterin sehr mithilft, meine Lebensgeister
zu heben. Eine erfolgreiche Partie ist ein gutes
Gegenmittel.«
»Nach meiner Zählung tanzte Patricia bis jetzt
mit neun verschiedenen Kandidaten«, sagte Lucinda. »Wie viele sind
noch ausständig?«
»Nach meinen Unterlagen zwei, doch erspähte ich
noch einige Gentlemen, die nicht meine Klienten sind und es dennoch
schafften, ihre Namen auf ihre Karte zu schmuggeln. Das soll mir
recht sein. Gegen Überraschungen ist nichts einzuwenden. Manchmal
finden sich zwei Menschen einfach ohne Hilfe einer Eheanbahnung.
Diese Möglichkeit sollte man nicht von vornherein ausschließen.
Schließlich lernten sich Thaddeus und Leona auch so kennen.«
»Auf einem Ball wie diesem?«
»Nun, nicht ganz«, musste Victoria zugeben. »In
einer Museumsgalerie.«
»Ach, sie haben gemeinsame künstlerische
Interessen.«
»Nein. Es war mitten in der Nacht, und es war
nicht gemeinsames Interesse an Kunst, das sie zusammenführte. Sie
befanden sich dort, um einem Bösewicht ein bestimmtes Artefakt zu
stehlen, und kamen dabei fast selbst ums Leben.«
»Guter Gott … wie …« Sie verstummte, da sie das
passende Wort nicht finden konnte. »Ungewöhnlich.«
»Sie sind ein ungewöhnliches Paar. Er hat ein
Talent für Hypnotismus, und sie kann Kristalle lesen.«
Lucinda blickte auf Thaddeus und Leona hinunter.
Sie war keine Ehestifterin, konnte aber auch aus dieser Entfernung
das Band der Vertrautheit zwischen ihnen spüren. Es war aus der Art
zu ersehen, wie Thaddeus in der Nähe seiner Verlobten stand und wie
sie ihm zulächelte.
»Sie dürfen sich glücklich schätzen, einander
gefunden zu haben«, sagte sie leise.
»Ja«, sagte Victoria. »Sobald ich sie zusammen
sah, wusste ich, dass sie ein perfektes Paar waren.«
»Was werden Sie machen, wenn keiner der heute
hier anwesenden Gentlemen der Richtige für Patricia ist?«
»Ich habe einige Einladungen zum Tee, Vorträge,
Museums-und Galeriebesuche geplant und nächste Woche noch einen
Ball. Keine Angst, ich werde jemanden für sie finden.«
»Sie haben eine sehr positive Einstellung zu
Ihrer Tätigkeit.«
»Das ist nicht schwer, wenn man eine so
bezaubernde Klientin hat wie Ihre Kusine«, sagte Victoria.
»Was passiert, wenn sie es mit einem
potentiellen Klienten zu tun haben, der nicht so bezaubernd
ist?«
Victoria sah sie scharf und prüfend an. »Warum
fragen Sie?«
Lucinda errötete. »Es war nur eine hypothetische
Frage.«
Victoria griff zu ihrem Opernglas und wandte
ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tanzparkett zu. »Wenn Sie von Caleb
Jones sprechen, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich dieses
Problem jemals ergeben wird.«
»Warum nicht?«
»Caleb Jones ist ein sehr komplizierter Mensch
und wird es mit jedem Tag mehr.«
»Ist das eine höfliche Formulierung, die sagen
soll, dass er nie eine passende Partnerin finden wird?«
»Ich weiß, dass Sie in letzter Zeit viel mit ihm
zusammen waren. Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass er die Welt
nicht auf eine Weise sieht, die viele Menschen normal nennen
würden. Und was Manieren betrifft, muss man bei ihm auf alles
gefasst sein.«
Lucinda dachte an Calebs Gewohnheit,
allmorgendlich zum Frühstück vor ihrer Tür zu stehen.
»Er hält sich nicht an die üblichen Regeln der
Etikette«, räumte sie ein. »Da gebe ich Ihnen recht.«
»Pah. Er weiß sich zu benehmen. Er ist
schließlich ein Jones. Aber seine Manieren sind einfach
beklagenswert. Seine Ungeduld mit anderen grenzt an Grobheit, und
geselligen Anlässen geht er möglichst aus dem Weg. Ich weiß aus
sicherer Quelle, dass er zu Hause jede wache Minute in seinem Labor
und seiner Bibliothek verbringt. Wie viele Frauen könnten mit einem
solchen Mann glücklich werden?«
»Nun ja …«
»Natürlich wird er heiraten. Er ist schließlich
ein Jones und kennt seine Pflicht. Aber ich bezweifle, dass er mich
um Hilfe bei der Brautschau bitten wird.« Victoria schnüffelte.
»Dem Himmel sei Dank.«
»Sie glauben wirklich nicht, dass Sie für ihn
eine gute Verbindung arrangieren könnten?«
»Sagen wir so: Ich halte es für höchst
unwahrscheinlich, dass Caleb Jones und die Frau, die er einmal
heiraten wird, jemals wahres eheliches Glück finden werden, eine
Situation, die ganz und gar nicht ungewöhnlich ist. Im Gegenteil,
in der guten Gesellschaft ist es die Norm.«
»Ich gebe Ihnen recht, dass Mr Jones etwas brüsk
sein kann, doch ich glaube, dass das, was Sie für seine schwierige
Persönlichkeit halten, nur eine Begleiterscheinung seines Talents
und der Selbstbeherrschung ist, die es ihn kostet, es zu
zügeln.«
»Das mag ja sein, aber wenn Sie einmal in meinem
Alter sind, meine Liebe, wird Ihnen klar sein, dass ein so extremer
Grad an Selbstbeherrschung bei einem Mann nicht sonderlich
wünschenswert ist, da er dann dazu neigt, streng, unnachgiebig und
unflexibel zu sein.«
Eine ähnliche Bemerkung hatte sie zu Patricia
gemacht, fiel Lucinda ein. Dennoch war es bedrückend, sich all die
Gründe vor Augen zu halten, weshalb Caleb niemals sein Glück finden
würde.
»Wenn Sie mich fragen, bezweifle ich sehr, ob
Caleb das Fehlen ehelicher Befriedigung jemals wahrnehmen wird«,
fuhr Victoria fort, als könne sie Lucindas Gedanken lesen. »Es
liegt nicht in seiner Natur, sich zu verlieben. Er wird einer Frau
einen Ring an den Finger stecken, sie schwängern und sich dann in
Labor und Bibliothek zurückziehen.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Mr Jones gegen
starke Gefühle immun ist?«, fragte Lucinda schockiert.
»Um ehrlich zu sein, ja.«
»Nichts für ungut, Madam, aber Sie irren
sich.«
Nun war es an Victoria, erstaunt zu ein. »Sagen
Sie bloß nicht, Sie glauben, Caleb Jones wäre zarterer Empfindungen
fähig?«
»Zartere Empfindungen sind nicht die richtige
Bezeichnung, doch ich kann Ihnen versichern, dass er zu intensiven
Emotionen und zu Gefühlen großer Tiefe fähig ist.«
Victoria machte große Augen. »Miss Bromley, mir
fehlen die Worte. Sie sind der einzige Mensch meiner Bekanntschaft,
der dies von Caleb Jones behauptet.«
»Ich vermute, dass er ein sehr missverstandener
Mensch ist, auch im Schoß seiner Familie.«
»Faszinierend«, murmelte Victoria. »Apropos
Caleb, ich möchte zu gerne wissen, wo er heute steckt. Er meidet
wie gesagt nach Möglichkeit gesellschaftliche Anlässe, doch er hat
ein gewisses Gefühl der Verantwortung seiner Familie gegenüber. Ich
hatte erwartet, dass er sich wenigstens für ein paar Minuten
blicken lässt. Er und Thaddeus sind schließlich Vettern.«
»Ich glaube, Mr Jones ist mit seinen
gegenwärtigen Ermittlungen sehr beschäftigt«, erwiderte
Lucinda.
Caleb zu verteidigen und sein Verhalten zu
erklären, wird mir allmählich zur Gewohnheit, dachte sie,
zweifellos zu einer schlechten. Und einer völlig unnötigen. Wenn es
je einen Mann gegeben hatte, der völlig eigenständig war, einen
Mann, den die Meinung anderer keinen Deut kümmerte, war es Caleb
Jones.
In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, wo er war
oder was er trieb. Seit dem Frühstück am Morgen hatte sie ihn nicht
gesehen. Pünktlich um halb neun war er eingetroffen, um eine
Riesenportion Eier und Toast zu vertilgen, hatte etwas von
einer Besprechung mit Inspektor Spellar gesagt und war in einer
Droschke enteilt.
Obwohl ihm anzusehen war, dass er besser
schlief, wuchs ihre Besorgnis wegen der leichten, ungesunden
Spannung in seiner Aura. Sie fragte sich, ob sie die Zutaten des
Stärkungsmittels ändern sollte, doch ihre Sinne sagten ihr, dass
sie die Mischung richtig getroffen hatte.
Eine plötzliche Bewusstseinsregung riss sie aus
ihren Gedanken. Sie blickte hinunter in den Ballsaal und erblickte
Caleb sofort. In einer dunklen Nische, halb verborgen von einem
dekorativen Wandschirm, beobachtete er die Tanzpaare wie ein Löwe,
der an der Wasserstelle eine Herde argloser Antilopen beäugt.
»Da ist Mr Jones«, sagte sie.
»Welcher?«, fragte Victoria vage. »Heute sind so
viele da.«
»Caleb.« Lucinda deutete mit dem Fächer
hinunter. »Hinter den Palmen.«
»Ja, ich sehe ihn.« Victoria beugte sich vor, um
aufmerksamer durch ihr Opernglas zu spähen. »Das sieht ihm ähnlich,
sich durch eine Seitentür einzuschleichen, anstatt den Haupteingang
zu nehmen und die Honneurs zu machen. Ich sagte ja, der Mann
verabscheut diese Art gesellschaftlicher Ereignisse. Er wird wie
immer fünf Minuten bleiben und sich dann aus dem Staub
machen.«
Auch wenn er nicht lange bleiben wollte, hatte
er sich doch die Zeit genommen, sich in schwarzweißer
Abendaufmachung zu präsentieren, bemerkte Lucinda. Sein eleganter
Anzug und das schneeweiße Leinenhemd unterstrichen glänzend die
unsichtbare Aura von Macht, die immer um ihn war.
Er trat aus der Nische und bewegte sich am Rand
der Menge entlang, wobei er ein-oder zweimal im Vorübergehen
grüßend den Kopf neigte, es aber vermied, sich mit jemandem in ein
Gespräch einzulassen. Er ging zu Thaddeus und Leona, sprach kurz
mit ihnen und blickte dann zur Empore hinauf.
Er sah sie sofort. Sie hielten beide den Atem
an. Als hätte er genau gewusst, wo er mich
findet, dachte sie.
Er sagte noch etwas zu Thaddeus, nickte Leona
höflich zu, ehe er ging und in einem für das Personal bestimmten
Seitengang verschwand. Lucinda lehnte sich zurück und unterdrückte
energisch den scharfen Anflug von Enttäuschung. Was hatte sie denn
erwartet? Dass er tatsächlich einen oder zwei Augenblicke mit ihr
plaudern würde?
Victoria schnalzte mit den Fingern. »Puff, fort
ist er. Typisch. Man stelle sich vor … eine passende Partnerin für
einen Mann zu finden, der es nicht einmal der Mühe wert findet,
eine Dame zum Tanz zu bitten.«
»Es wäre gewiss eine Herausforderung«, gab
Lucinda zurück. Aber mir wäre lieber, er ginge,
als dass ich zusehen müsste, wie er eine der Damen da unten zum
Tanz führt, dachte sie. Eine beunruhigende Erkenntnis. Sie
umklammerte den zusammengefalteten Fächer in ihrer Hand. Sie durfte
sich nicht in Caleb Jones verlieben.
»Ach, Mr Riverton nähert sich Patricia«,
bemerkte Victoria in einem Ton, der einige Begeisterung verriet.
»Ich hege große Hoffnungen für ihn. Ein sehr gelehrter Typ, der
junge Riverton. Und seine Ansichten über Frauenrechte sind sehr
fortschrittlich.«
Lucinda beobachtete Riverton zwischen den
Streben der Brüstung hindurch. »Sieht nett aus, der
Gentleman.«
»Ja. Er besitzt auch ein starkes Talent.«
Victoria studierte das Paar. »Es sieht aus, als wäre die Energie
zwischen ihnen zumindest irgendwie kompatibel.« Sie senkte das
Opernglas und notierte etwas in ihrem Büchlein. »Ein zweiter Blick
lohnt sich.«
Lucinda wollte sich vorbeugen, um Riverton
besser in Augenschein nehmen zu können, und verharrte, als sie
wieder ein Schauer der Bewusstheit durchflutete. Sie drehte sich um
und sah Caleb aus dem Schatten eines schwach erhellten Ganges
hervortreten.
»Was zum Teufel machen Sie hier oben, Miss
Bromley?«, fragte er, ohne eine höfliche Begrüßung auch nur
anzudeuten. »Ich dachte, Sie wären unten.«
»Einen angenehmen guten Abend auch Ihnen, Mr
Jones«, gab Victoria trocken zurück.
»Victoria«, sagte Caleb mit einem Gesicht, als
hätte er erst jetzt ihre Anwesenheit bemerkt. Erstaunt ergriff er
ihre behandschuhte Rechte und beugte sich mit erstaunlicher Grazie
darüber. »Entschuldigen Sie bitte. Ich habe Sie gar nicht
gesehen.«
»Doch, natürlich haben Sie mich gesehen«,
erwiderte Victoria. »Es war nur so, dass Sie völlig auf Miss
Bromley konzentriert waren.«
Calebs Brauen hoben sich leicht. »Ja, ich hielt
Ausschau nach ihr.«
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Lucinda.
»Ja, eigentlich schon.«
Er umfasste das Geländer und blickte hinunter,
als faszinierten ihn plötzlich die von den Tanzpaaren auf dem
Parkett des Ballsaales gewobenen Muster. Als er sich ihr wieder
zuwandte, schien die gezügelte Energie in seinen Augen ein wenig
heißer zu brennen.
»Wenn Sie mir die Ehre eines Tanzes erweisen,
werde ich Ihnen berichten, was ich erfuhr«, sagte er.
Sie konnte ihn nur wie benommen mit offenem Mund
anstarren - auf höchst unvorteilhafte Weise, wie sie
argwöhnte.
»Ach«, brachte sie nach einer wahren Ewigkeit
heraus.
»So gehen Sie schon«, sagte Victoria und tippte
mit ihrem Fächer energisch auf Lucindas Handrücken. »Ich behalte
indes Patricia im Auge.«
Der feste Schlag des Fächers riss Lucinda aus
ihrer Benommenheit. Sie schluckte und fasste sich.
»Danke, Mr Jones«, sagte sie. »Da es schon
länger her ist, dass ich Walzer tanzte, bin ich leider ziemlich
außer Übung.«
»Ich ebenso, aber es geht ganz leicht. Wir
schaffen es sicher, nicht über unsere eigenen Füße zu
stolpern.«
Er nahm ihre Hand und zog sie von der
gepolsterten Sitzbank hoch, ehe ihr passende Gegenargumente
einfielen. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass sie aus
dieser Richtung keinen Beistand zu erwarten hatte. Victoria
beobachtete sie beide mit einem höchst eigenartigen Ausdruck.
Als Nächstes bemerkte sie nur, dass sie rasch
einen langen, spärlich erhellten Gang entlanggeführt wurde, sodann
eine schmale, vollgeräumte Dienstbotentreppe hinunter. Unten
angekommen, öffnete Caleb eine Tür und zog sie in den strahlend
erhellten Ballsaal, wo er sich mit der für ihn charakteristischen
zielstrebigen Entschlossenheit einen Weg durch die Menge
bahnte.
Und dann lag sie in einem Schwindel erregenden
Augenblick in seinen Armen wie an dem Tag, als er sie in der
Bibliothek geküsst hatte.
Er drehte sich mit ihr im langsamen, sinnlichen
Walzerschritt. Sie wusste, dass Köpfe sich nach ihnen umdrehten,
auf der Tanzfläche und daneben. Wusste, dass sie und Caleb jene Art
Aufmerksamkeit auf sich zogen, der zu entgehen sie gehofft hatte.
Calebs kraftvolle Hand lag warm und stark auf ihrem Rücken, und er
sah sie an, als gäbe es sonst niemanden im Ballsaal. Hitze und
Energie, untrennbar mit Musik verquickt, hüllten sie beide
ein.
»Sehen Sie?«, triumphierte er. »Den
Walzerschritt vergisst man nicht.«
Sie glaubte nicht zu tanzen, sondern zu fliegen.
»Es sieht so aus, Mr Jones. Jetzt berichten Sie mir Ihre
Neuigkeit.«
»Vorhin sprach ich mit Inspektor Spellar. Er
konnte aufgrund der Beweise in Mrs Daykins Notizbuch im Fall
Fairburn eine Verhaftung vornehmen.«
»Lady Fairburn?«
»Nein, ihre Schwester Hannah Rathbone. Sie brach
zusammen und legte sofort ein Geständnis ab, als Spellar ihr das
Notizbuch zeigte. Ihr Name erscheint darin.«
»Ich verstehe. Ich nehme an, sie tötete
Fairburn, weil sie ihre Schwester als reiche Witwe sehen
wollte.«
»Das wäre gewiss die logische Erklärung. Laut
Spellar aber brachte die Rathbone ihren Schwager um, weil er die
Affäre beenden wollte, die er mit ihr hatte.«
»Allmächtiger … also ein Verbrechen aus
Leidenschaft und nicht aus Habgier.«
»Wie gesagt, nicht das logische Motiv, aber so
ist es nun
mal. Sie laufen nun nicht mehr Gefahr, wegen des Mordes an
Fairburn verhaftet zu werden.«
»Mr Jones, ich kann Ihnen gar nicht genug danken
…«
»Bleibt immer noch das Problem Ihres Farns. Das
von der Daykin verkaufte Gift enthält Spuren davon.«
Plötzliche Angst erfasste sie. »Da Mrs Daykin
aber tot ist, gibt es niemanden, der weiß, dass die Pflanze
Bestandteil ihres Giftes ist.«
»Es gibt zumindest einen Menschen, der es weiß«,
sagte Caleb.
»Ach, du meine Güte. Sie meinen Dr.
Hulsey.«
»Man kann nun mit großer Sicherheit sagen, dass
Hulsey Mrs Daykin gut kannte. Er stellte mindestens eines der Gifte
her, die sie verkaufte.«
Da kam ihr ein Gedanke. »Glauben Sie, Hulsey
könnte sie getötet haben?«
»Nein.«
»Warum sind Sie so sicher?«
»Hulsey ist auf gefährliche Chemikalien
spezialisiert. Wenn er jemanden ermorden wollte, hätte er eher zu
einer Waffe gegriffen, die ihm vertraut ist.«
»Zu Gift.«
»Ja.«
Ein Schauer erfasste sie. »Aber ich konnte kein
Gift an der Toten entdecken.«
»Das bedeutet, dass ein anderer ihr Mörder
war.«
»Eines ihrer Erpressungsopfer?«
»Möglich«, räumte Caleb ein, »doch ihr Notizbuch
zeigt, dass sie schon jahrelang im Geschäft war. Die Tatsache, dass
jemand erst kürzlich beschloss, sie zu töten, ist …«
»Ich weiß. Das hieße den Zufall
überstrapazieren. Dasselbe dachte ich bei dem angeblichen
Selbstmord meines Vaters. Ich konnte nicht glauben, dass er sich,
unmittelbar nachdem der Leichnam seines Partners gefunden wurde,
die Pistole an den Kopf hielt.«
»Wie bitte?« Caleb blieb mitten auf der
Tanzfläche stehen. »Ihr Vater hat kein Gift genommen?«
Da sie spürte, dass sie nun von allen neugierig
angestarrt wurde, senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern.
»Nein«, sagte sie.
»Verdammt. Er wurde also ermordet. Warum erfahre
ich das erst jetzt?«
Er packte ihr Handgelenk und zog sie vom
Tanzparkett fort, durch die Menge und hinaus in den nachtdunklen
Garten. Als sie allein waren, umfasste er ihre Schultern.
»Ich will jetzt genau wissen, was mit Ihrem
Vater passierte.«, forderte er.
»Er wurde erschossen«, sagte sie. »Es wurde so
eingerichtet, dass es aussah, als hätte er die Pistole selbst
abgedrückt. Ich bin aber überzeugt, dass ein anderer ihn
erschoss.«
Energie knisterte in der Nacht. Sie spürte die
Kraft von Calebs Gabe. »Natürlich haben Sie recht«, sagte er.
Unglaubliche Erleichterung erfasste sie. »Mr
Jones, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sie sind der Einzige,
der mir jemals Glauben schenkte.«