16. KAPITEL

Drei Tage darauf saß Lucinda mit Victoria um ein Uhr morgens auf einer mit Samt bezogenen Bank auf einer Empore über einem strahlenden Ballsaal.
Gemeinsam betrachteten sie die prächtige Szene. Der Empfang für den frisch verlobten Mr Thaddeus Ware und seine Braut Leona Hewitt hatte seinen Höhepunkt erreicht. Doch es waren nicht die Ehrengäste, denen Lucindas und Victorias Interesse galt.
»Ein schönes Paar«, sagte Victoria, die durch ihr Opernglas spähte. »Aber leider kommt eine Ehe nicht in Frage. Der junge Mr Sutton entspricht den Anforderungen überhaupt nicht.«
»Ein wahrer Jammer«, antwortete Lucinda. »Er scheint mir ein sehr angenehmer Gentleman zu sein.«
»Das ist er.« Victoria senkte das Opernglas und stärkte sich mit einem Schluck Champagner aus ihrem Glas. »Aber nicht der Richtige für Ihre Kusine.«
»Das können Sie von hier oben aus beurteilen?«
»Aus dieser Entfernung kann ich die Resonanzströmungen zwischen den beiden nur vage spüren, es genügt aber, um mir zu sagen, dass er nicht zu ihr passt.« Sie machte einen Eintrag in ihr Notizbuch und hob ihr Opernglas wieder mit geradezu militärischer Präzision an die Augen.
Lucinda folgte ihrem Blick. Unter ihnen tanzten viele elegant gekleidete Paare, darunter Patricia und der unpassende Mr Sutton, zu den schmelzenden Klängen eines Walzers. Patricia sah in ihrem hellrosa, mit einer rosa Tüllkaskade geschmückten Satinkleid unschuldig und hinreißend zugleich aus. Ihre Arme steckten in langen pinkfarbenen Handschuhen. In ihrem Haar funkelten rosa Blumenornamente.
Lucinda war bewusst, dass sie selbst einen völlig anderen Anblick bot. Unschuldig war in ihrem Fall nicht das Wort, das einem in den Sinn kam. Victorias Schneiderin hatte für sie kobaltblaue Seide gewählt. Perfekt für les cheveux rouges und diese schönen blauen Augen, hatte Madame La Fontaine mit schrecklichem französischen Akzent erklärt.
Das Kleid war tief ausgeschnitten und enthüllte nach Lucindas Meinung so viel von Schultern und Armen, dass man es gewagt nennen konnte. Madame La Fontaine hatte sich geweigert, das Dekolleté auch nur um einen halben Finger breit zu verkleinern. Victoria hatte ihr beigepflichtet. Das Geheimnis, sich mit einem schlechten Ruf zu arrangieren, besteht darin, sich offen zu ihm zu bekennen, hatte sie Lucinda belehrt. Kühnheit heißt die Parole.
Lucinda war nicht ganz sicher, ob es richtig war, die überlegene Dame von Welt zu spielen, doch war nicht zu leugnen, dass Victoria wusste, worauf es beim Ehestiften ankam. Patricias Tanzkarte war voll. Nach dem Ball wird sie total erschöpft sein, dachte Lucinda, insgeheim lächelnd. Und ihre Tanzschuhe würden löchrige Sohlen bekommen. Immer wenn sie von der Tanzfläche kam, blieb Patricia kaum Zeit, sich mit einem Schluck Limonade zu laben, ehe der nächste junge Mann kam und sein Recht forderte.
»Was sehen Sie, wenn Sie einen Raum voller Menschen vor sich haben, Lady Milden?«, fragte Lucinda.
»Eine Vielzahl von Ehepaaren, die niemals hätten heiraten sollen, und eine ebenso große Anzahl, die eine illegitime Affäre miteinander haben.«
»Das muss ja sehr bedrückend sein.«
»So ist es.« Victoria legte das Opernglas weg und trank einen Schluck Champagner. »Doch ich finde, dass meine neue Tätigkeit als Ehestifterin sehr mithilft, meine Lebensgeister zu heben. Eine erfolgreiche Partie ist ein gutes Gegenmittel.«
»Nach meiner Zählung tanzte Patricia bis jetzt mit neun verschiedenen Kandidaten«, sagte Lucinda. »Wie viele sind noch ausständig?«
»Nach meinen Unterlagen zwei, doch erspähte ich noch einige Gentlemen, die nicht meine Klienten sind und es dennoch schafften, ihre Namen auf ihre Karte zu schmuggeln. Das soll mir recht sein. Gegen Überraschungen ist nichts einzuwenden. Manchmal finden sich zwei Menschen einfach ohne Hilfe einer Eheanbahnung. Diese Möglichkeit sollte man nicht von vornherein ausschließen. Schließlich lernten sich Thaddeus und Leona auch so kennen.«
»Auf einem Ball wie diesem?«
»Nun, nicht ganz«, musste Victoria zugeben. »In einer Museumsgalerie.«
»Ach, sie haben gemeinsame künstlerische Interessen.«
»Nein. Es war mitten in der Nacht, und es war nicht gemeinsames Interesse an Kunst, das sie zusammenführte. Sie befanden sich dort, um einem Bösewicht ein bestimmtes Artefakt zu stehlen, und kamen dabei fast selbst ums Leben.«
»Guter Gott … wie …« Sie verstummte, da sie das passende Wort nicht finden konnte. »Ungewöhnlich.«
»Sie sind ein ungewöhnliches Paar. Er hat ein Talent für Hypnotismus, und sie kann Kristalle lesen.«
Lucinda blickte auf Thaddeus und Leona hinunter. Sie war keine Ehestifterin, konnte aber auch aus dieser Entfernung das Band der Vertrautheit zwischen ihnen spüren. Es war aus der Art zu ersehen, wie Thaddeus in der Nähe seiner Verlobten stand und wie sie ihm zulächelte.
»Sie dürfen sich glücklich schätzen, einander gefunden zu haben«, sagte sie leise.
»Ja«, sagte Victoria. »Sobald ich sie zusammen sah, wusste ich, dass sie ein perfektes Paar waren.«
»Was werden Sie machen, wenn keiner der heute hier anwesenden Gentlemen der Richtige für Patricia ist?«
»Ich habe einige Einladungen zum Tee, Vorträge, Museums-und Galeriebesuche geplant und nächste Woche noch einen Ball. Keine Angst, ich werde jemanden für sie finden.«
»Sie haben eine sehr positive Einstellung zu Ihrer Tätigkeit.«
»Das ist nicht schwer, wenn man eine so bezaubernde Klientin hat wie Ihre Kusine«, sagte Victoria.
»Was passiert, wenn sie es mit einem potentiellen Klienten zu tun haben, der nicht so bezaubernd ist?«
Victoria sah sie scharf und prüfend an. »Warum fragen Sie?«
Lucinda errötete. »Es war nur eine hypothetische Frage.«
Victoria griff zu ihrem Opernglas und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tanzparkett zu. »Wenn Sie von Caleb Jones sprechen, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich dieses Problem jemals ergeben wird.«
»Warum nicht?«
»Caleb Jones ist ein sehr komplizierter Mensch und wird es mit jedem Tag mehr.«
»Ist das eine höfliche Formulierung, die sagen soll, dass er nie eine passende Partnerin finden wird?«
»Ich weiß, dass Sie in letzter Zeit viel mit ihm zusammen waren. Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass er die Welt nicht auf eine Weise sieht, die viele Menschen normal nennen würden. Und was Manieren betrifft, muss man bei ihm auf alles gefasst sein.«
Lucinda dachte an Calebs Gewohnheit, allmorgendlich zum Frühstück vor ihrer Tür zu stehen.
»Er hält sich nicht an die üblichen Regeln der Etikette«, räumte sie ein. »Da gebe ich Ihnen recht.«
»Pah. Er weiß sich zu benehmen. Er ist schließlich ein Jones. Aber seine Manieren sind einfach beklagenswert. Seine Ungeduld mit anderen grenzt an Grobheit, und geselligen Anlässen geht er möglichst aus dem Weg. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er zu Hause jede wache Minute in seinem Labor und seiner Bibliothek verbringt. Wie viele Frauen könnten mit einem solchen Mann glücklich werden?«
»Nun ja …«
»Natürlich wird er heiraten. Er ist schließlich ein Jones und kennt seine Pflicht. Aber ich bezweifle, dass er mich um Hilfe bei der Brautschau bitten wird.« Victoria schnüffelte. »Dem Himmel sei Dank.«
»Sie glauben wirklich nicht, dass Sie für ihn eine gute Verbindung arrangieren könnten?«
»Sagen wir so: Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass Caleb Jones und die Frau, die er einmal heiraten wird, jemals wahres eheliches Glück finden werden, eine Situation, die ganz und gar nicht ungewöhnlich ist. Im Gegenteil, in der guten Gesellschaft ist es die Norm.«
»Ich gebe Ihnen recht, dass Mr Jones etwas brüsk sein kann, doch ich glaube, dass das, was Sie für seine schwierige Persönlichkeit halten, nur eine Begleiterscheinung seines Talents und der Selbstbeherrschung ist, die es ihn kostet, es zu zügeln.«
»Das mag ja sein, aber wenn Sie einmal in meinem Alter sind, meine Liebe, wird Ihnen klar sein, dass ein so extremer Grad an Selbstbeherrschung bei einem Mann nicht sonderlich wünschenswert ist, da er dann dazu neigt, streng, unnachgiebig und unflexibel zu sein.«
Eine ähnliche Bemerkung hatte sie zu Patricia gemacht, fiel Lucinda ein. Dennoch war es bedrückend, sich all die Gründe vor Augen zu halten, weshalb Caleb niemals sein Glück finden würde.
»Wenn Sie mich fragen, bezweifle ich sehr, ob Caleb das Fehlen ehelicher Befriedigung jemals wahrnehmen wird«, fuhr Victoria fort, als könne sie Lucindas Gedanken lesen. »Es liegt nicht in seiner Natur, sich zu verlieben. Er wird einer Frau einen Ring an den Finger stecken, sie schwängern und sich dann in Labor und Bibliothek zurückziehen.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Mr Jones gegen starke Gefühle immun ist?«, fragte Lucinda schockiert.
»Um ehrlich zu sein, ja.«
»Nichts für ungut, Madam, aber Sie irren sich.«
Nun war es an Victoria, erstaunt zu ein. »Sagen Sie bloß nicht, Sie glauben, Caleb Jones wäre zarterer Empfindungen fähig?«
»Zartere Empfindungen sind nicht die richtige Bezeichnung, doch ich kann Ihnen versichern, dass er zu intensiven Emotionen und zu Gefühlen großer Tiefe fähig ist.«
Victoria machte große Augen. »Miss Bromley, mir fehlen die Worte. Sie sind der einzige Mensch meiner Bekanntschaft, der dies von Caleb Jones behauptet.«
»Ich vermute, dass er ein sehr missverstandener Mensch ist, auch im Schoß seiner Familie.«
»Faszinierend«, murmelte Victoria. »Apropos Caleb, ich möchte zu gerne wissen, wo er heute steckt. Er meidet wie gesagt nach Möglichkeit gesellschaftliche Anlässe, doch er hat ein gewisses Gefühl der Verantwortung seiner Familie gegenüber. Ich hatte erwartet, dass er sich wenigstens für ein paar Minuten blicken lässt. Er und Thaddeus sind schließlich Vettern.«
»Ich glaube, Mr Jones ist mit seinen gegenwärtigen Ermittlungen sehr beschäftigt«, erwiderte Lucinda.
Caleb zu verteidigen und sein Verhalten zu erklären, wird mir allmählich zur Gewohnheit, dachte sie, zweifellos zu einer schlechten. Und einer völlig unnötigen. Wenn es je einen Mann gegeben hatte, der völlig eigenständig war, einen Mann, den die Meinung anderer keinen Deut kümmerte, war es Caleb Jones.
In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, wo er war oder was er trieb. Seit dem Frühstück am Morgen hatte sie ihn nicht gesehen. Pünktlich um halb neun war er eingetroffen, um eine Riesenportion Eier und Toast zu vertilgen, hatte etwas von einer Besprechung mit Inspektor Spellar gesagt und war in einer Droschke enteilt.
Obwohl ihm anzusehen war, dass er besser schlief, wuchs ihre Besorgnis wegen der leichten, ungesunden Spannung in seiner Aura. Sie fragte sich, ob sie die Zutaten des Stärkungsmittels ändern sollte, doch ihre Sinne sagten ihr, dass sie die Mischung richtig getroffen hatte.
Eine plötzliche Bewusstseinsregung riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte hinunter in den Ballsaal und erblickte Caleb sofort. In einer dunklen Nische, halb verborgen von einem dekorativen Wandschirm, beobachtete er die Tanzpaare wie ein Löwe, der an der Wasserstelle eine Herde argloser Antilopen beäugt.
»Da ist Mr Jones«, sagte sie.
»Welcher?«, fragte Victoria vage. »Heute sind so viele da.«
»Caleb.« Lucinda deutete mit dem Fächer hinunter. »Hinter den Palmen.«
»Ja, ich sehe ihn.« Victoria beugte sich vor, um aufmerksamer durch ihr Opernglas zu spähen. »Das sieht ihm ähnlich, sich durch eine Seitentür einzuschleichen, anstatt den Haupteingang zu nehmen und die Honneurs zu machen. Ich sagte ja, der Mann verabscheut diese Art gesellschaftlicher Ereignisse. Er wird wie immer fünf Minuten bleiben und sich dann aus dem Staub machen.«
Auch wenn er nicht lange bleiben wollte, hatte er sich doch die Zeit genommen, sich in schwarzweißer Abendaufmachung zu präsentieren, bemerkte Lucinda. Sein eleganter Anzug und das schneeweiße Leinenhemd unterstrichen glänzend die unsichtbare Aura von Macht, die immer um ihn war.
Er trat aus der Nische und bewegte sich am Rand der Menge entlang, wobei er ein-oder zweimal im Vorübergehen grüßend den Kopf neigte, es aber vermied, sich mit jemandem in ein Gespräch einzulassen. Er ging zu Thaddeus und Leona, sprach kurz mit ihnen und blickte dann zur Empore hinauf.
Er sah sie sofort. Sie hielten beide den Atem an. Als hätte er genau gewusst, wo er mich findet, dachte sie.
Er sagte noch etwas zu Thaddeus, nickte Leona höflich zu, ehe er ging und in einem für das Personal bestimmten Seitengang verschwand. Lucinda lehnte sich zurück und unterdrückte energisch den scharfen Anflug von Enttäuschung. Was hatte sie denn erwartet? Dass er tatsächlich einen oder zwei Augenblicke mit ihr plaudern würde?
Victoria schnalzte mit den Fingern. »Puff, fort ist er. Typisch. Man stelle sich vor … eine passende Partnerin für einen Mann zu finden, der es nicht einmal der Mühe wert findet, eine Dame zum Tanz zu bitten.«
»Es wäre gewiss eine Herausforderung«, gab Lucinda zurück. Aber mir wäre lieber, er ginge, als dass ich zusehen müsste, wie er eine der Damen da unten zum Tanz führt, dachte sie. Eine beunruhigende Erkenntnis. Sie umklammerte den zusammengefalteten Fächer in ihrer Hand. Sie durfte sich nicht in Caleb Jones verlieben.
»Ach, Mr Riverton nähert sich Patricia«, bemerkte Victoria in einem Ton, der einige Begeisterung verriet. »Ich hege große Hoffnungen für ihn. Ein sehr gelehrter Typ, der junge Riverton. Und seine Ansichten über Frauenrechte sind sehr fortschrittlich.«
Lucinda beobachtete Riverton zwischen den Streben der Brüstung hindurch. »Sieht nett aus, der Gentleman.«
»Ja. Er besitzt auch ein starkes Talent.« Victoria studierte das Paar. »Es sieht aus, als wäre die Energie zwischen ihnen zumindest irgendwie kompatibel.« Sie senkte das Opernglas und notierte etwas in ihrem Büchlein. »Ein zweiter Blick lohnt sich.«
Lucinda wollte sich vorbeugen, um Riverton besser in Augenschein nehmen zu können, und verharrte, als sie wieder ein Schauer der Bewusstheit durchflutete. Sie drehte sich um und sah Caleb aus dem Schatten eines schwach erhellten Ganges hervortreten.
»Was zum Teufel machen Sie hier oben, Miss Bromley?«, fragte er, ohne eine höfliche Begrüßung auch nur anzudeuten. »Ich dachte, Sie wären unten.«
»Einen angenehmen guten Abend auch Ihnen, Mr Jones«, gab Victoria trocken zurück.
»Victoria«, sagte Caleb mit einem Gesicht, als hätte er erst jetzt ihre Anwesenheit bemerkt. Erstaunt ergriff er ihre behandschuhte Rechte und beugte sich mit erstaunlicher Grazie darüber. »Entschuldigen Sie bitte. Ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Doch, natürlich haben Sie mich gesehen«, erwiderte Victoria. »Es war nur so, dass Sie völlig auf Miss Bromley konzentriert waren.«
Calebs Brauen hoben sich leicht. »Ja, ich hielt Ausschau nach ihr.«
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Lucinda.
»Ja, eigentlich schon.«
Er umfasste das Geländer und blickte hinunter, als faszinierten ihn plötzlich die von den Tanzpaaren auf dem Parkett des Ballsaales gewobenen Muster. Als er sich ihr wieder zuwandte, schien die gezügelte Energie in seinen Augen ein wenig heißer zu brennen.
»Wenn Sie mir die Ehre eines Tanzes erweisen, werde ich Ihnen berichten, was ich erfuhr«, sagte er.
Sie konnte ihn nur wie benommen mit offenem Mund anstarren - auf höchst unvorteilhafte Weise, wie sie argwöhnte.
»Ach«, brachte sie nach einer wahren Ewigkeit heraus.
»So gehen Sie schon«, sagte Victoria und tippte mit ihrem Fächer energisch auf Lucindas Handrücken. »Ich behalte indes Patricia im Auge.«
Der feste Schlag des Fächers riss Lucinda aus ihrer Benommenheit. Sie schluckte und fasste sich.
»Danke, Mr Jones«, sagte sie. »Da es schon länger her ist, dass ich Walzer tanzte, bin ich leider ziemlich außer Übung.«
»Ich ebenso, aber es geht ganz leicht. Wir schaffen es sicher, nicht über unsere eigenen Füße zu stolpern.«
Er nahm ihre Hand und zog sie von der gepolsterten Sitzbank hoch, ehe ihr passende Gegenargumente einfielen. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass sie aus dieser Richtung keinen Beistand zu erwarten hatte. Victoria beobachtete sie beide mit einem höchst eigenartigen Ausdruck.
Als Nächstes bemerkte sie nur, dass sie rasch einen langen, spärlich erhellten Gang entlanggeführt wurde, sodann eine schmale, vollgeräumte Dienstbotentreppe hinunter. Unten angekommen, öffnete Caleb eine Tür und zog sie in den strahlend erhellten Ballsaal, wo er sich mit der für ihn charakteristischen zielstrebigen Entschlossenheit einen Weg durch die Menge bahnte.
Und dann lag sie in einem Schwindel erregenden Augenblick in seinen Armen wie an dem Tag, als er sie in der Bibliothek geküsst hatte.
Er drehte sich mit ihr im langsamen, sinnlichen Walzerschritt. Sie wusste, dass Köpfe sich nach ihnen umdrehten, auf der Tanzfläche und daneben. Wusste, dass sie und Caleb jene Art Aufmerksamkeit auf sich zogen, der zu entgehen sie gehofft hatte. Calebs kraftvolle Hand lag warm und stark auf ihrem Rücken, und er sah sie an, als gäbe es sonst niemanden im Ballsaal. Hitze und Energie, untrennbar mit Musik verquickt, hüllten sie beide ein.
»Sehen Sie?«, triumphierte er. »Den Walzerschritt vergisst man nicht.«
Sie glaubte nicht zu tanzen, sondern zu fliegen. »Es sieht so aus, Mr Jones. Jetzt berichten Sie mir Ihre Neuigkeit.«
»Vorhin sprach ich mit Inspektor Spellar. Er konnte aufgrund der Beweise in Mrs Daykins Notizbuch im Fall Fairburn eine Verhaftung vornehmen.«
»Lady Fairburn?«
»Nein, ihre Schwester Hannah Rathbone. Sie brach zusammen und legte sofort ein Geständnis ab, als Spellar ihr das Notizbuch zeigte. Ihr Name erscheint darin.«
»Ich verstehe. Ich nehme an, sie tötete Fairburn, weil sie ihre Schwester als reiche Witwe sehen wollte.«
»Das wäre gewiss die logische Erklärung. Laut Spellar aber brachte die Rathbone ihren Schwager um, weil er die Affäre beenden wollte, die er mit ihr hatte.«
»Allmächtiger … also ein Verbrechen aus Leidenschaft und nicht aus Habgier.«
»Wie gesagt, nicht das logische Motiv, aber so ist es nun mal. Sie laufen nun nicht mehr Gefahr, wegen des Mordes an Fairburn verhaftet zu werden.«
»Mr Jones, ich kann Ihnen gar nicht genug danken …«
»Bleibt immer noch das Problem Ihres Farns. Das von der Daykin verkaufte Gift enthält Spuren davon.«
Plötzliche Angst erfasste sie. »Da Mrs Daykin aber tot ist, gibt es niemanden, der weiß, dass die Pflanze Bestandteil ihres Giftes ist.«
»Es gibt zumindest einen Menschen, der es weiß«, sagte Caleb.
»Ach, du meine Güte. Sie meinen Dr. Hulsey.«
»Man kann nun mit großer Sicherheit sagen, dass Hulsey Mrs Daykin gut kannte. Er stellte mindestens eines der Gifte her, die sie verkaufte.«
Da kam ihr ein Gedanke. »Glauben Sie, Hulsey könnte sie getötet haben?«
»Nein.«
»Warum sind Sie so sicher?«
»Hulsey ist auf gefährliche Chemikalien spezialisiert. Wenn er jemanden ermorden wollte, hätte er eher zu einer Waffe gegriffen, die ihm vertraut ist.«
»Zu Gift.«
»Ja.«
Ein Schauer erfasste sie. »Aber ich konnte kein Gift an der Toten entdecken.«
»Das bedeutet, dass ein anderer ihr Mörder war.«
»Eines ihrer Erpressungsopfer?«
»Möglich«, räumte Caleb ein, »doch ihr Notizbuch zeigt, dass sie schon jahrelang im Geschäft war. Die Tatsache, dass jemand erst kürzlich beschloss, sie zu töten, ist …«
»Ich weiß. Das hieße den Zufall überstrapazieren. Dasselbe dachte ich bei dem angeblichen Selbstmord meines Vaters. Ich konnte nicht glauben, dass er sich, unmittelbar nachdem der Leichnam seines Partners gefunden wurde, die Pistole an den Kopf hielt.«
»Wie bitte?« Caleb blieb mitten auf der Tanzfläche stehen. »Ihr Vater hat kein Gift genommen?«
Da sie spürte, dass sie nun von allen neugierig angestarrt wurde, senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern.
»Nein«, sagte sie.
»Verdammt. Er wurde also ermordet. Warum erfahre ich das erst jetzt?«
Er packte ihr Handgelenk und zog sie vom Tanzparkett fort, durch die Menge und hinaus in den nachtdunklen Garten. Als sie allein waren, umfasste er ihre Schultern.
»Ich will jetzt genau wissen, was mit Ihrem Vater passierte.«, forderte er.
»Er wurde erschossen«, sagte sie. »Es wurde so eingerichtet, dass es aussah, als hätte er die Pistole selbst abgedrückt. Ich bin aber überzeugt, dass ein anderer ihn erschoss.«
Energie knisterte in der Nacht. Sie spürte die Kraft von Calebs Gabe. »Natürlich haben Sie recht«, sagte er.
Unglaubliche Erleichterung erfasste sie. »Mr Jones, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Sie sind der Einzige, der mir jemals Glauben schenkte.«
Suesses Gift Der Liebe
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